"Heimatfront". Der Erste Weltkrieg und seine Folgen im Rhein-Neckar-Raum

"Heimatfront". Der Erste Weltkrieg und seine Folgen im Rhein-Neckar-Raum

Veranstalter
Arbeitskreis der Archive in der Metropolregion Rhein-Neckar
Ort
Wanderausstellung
Land
Deutschland

Publikation(en)

Cover
Krauß, Martin; Rummel, Walter (Hrsg.): "Heimatfront". Der Erste Weltkrieg und seine Folgen im Rhein-Neckar-Raum 1914–1924. Ubstadt-Weiher 2014 : Verlag Regionalkultur, ISBN 978-3-89735-838-6 238 S. € 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Braun, Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg

„Heimatfront“ – Der Erste Weltkrieg und seine Folgen im Rhein-Neckar-Raum (1914–1924) ist der Titel einer Wanderausstellung des Arbeitskreises der Archive in der Metropolregion Rhein-Neckar. Sie wurde – ebenso wie der gleichnamige Begleitband – von der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz und dem Verein „Zukunft Metropolregion Rhein-Neckar e.V.“ finanziell unterstützt. Auf 16 Ausstellungsbannern werden sieben Themen präsentiert: “Kriegsbeginn“, „Verwaltung, Politik und Propaganda 1914–1918“, „Wirtschaft“, „Der Krieg kommt in die Heimat“, „Alltagsleben“, „Kriegsende“ und „Die Kriegsfolgen (1918–1924/30)“. Das erscheint zunächst wenig originell. In vielen deutschen Städten und Regionen hat es 2014 Ausstellungen zum Ersten Weltkrieg gegeben; da diese von Ostpreußen, dem Südelsass und von Luftkriegsschäden abgesehen bekanntermaßen keine Kriegsschauplätze waren, begegnete man der „Heimatfront“ immer wieder – meist ohne eine Erläuterung dieses Propagandabegriffs. An der Heimatfront wurde für den Krieg und wegen des Krieges produziert, gesammelt, gespendet und gehungert; geschwächt in Folge des Hungers wurde dort auch gestorben – schon bevor die Spanische Grippe grassierte. Natürlich war die Versorgungslage auf dem Land besser als in der Stadt, natürlich war die Streikhäufigkeit in den verschiedenen Branchen und Regionen unterschiedlich – aber: Sollen deshalb jetzt flächendeckend einzelne „Heimatfronten“ dokumentiert, untersucht und präsentiert werden? Genügen nicht die gleichnamigen Ausstellungen und Arbeiten wie die von Thomas Flemming und Bernd Ulrich1 oder Sven Felix Kellerhoff2 – vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse Jürgen Kockas3 und Hans Ulrich Wehlers4? Worin soll der Erkenntnisfortschritt bestehen?

Die Ausstellungsmacher und Herausgeber des Begleitbandes sind zurückhaltend: Wie bei zurückliegenden Projekten solle die aktive Förderung der historischen Forschung zum Rhein-Neckar-Raum der „Entwicklung eines Regionalbewusstseins“ dienen (S. 6). Angesichts der Ergebnisse hätte der Anspruch dieses Projekts offensiver formuliert werden dürfen. Die beiden Herausgeber Martin Krauß und Walter Rummel und die weiteren Autoren5 beginnen jedes Kapitel mit einer vierseitigen Einleitung, die in vielfach erfreulich knappen Sätzen konkret Inhalte der jeweils folgenden sorgfältig ausgewählten Dokumente und Motive aufgreift. Diese stammen aus verschiedenen öffentlichen Bibliotheken und Archiven6 aber auch aus Privatbesitz. Hier zeigt sich eine besondere Stärke dieses Bandes: Der überwiegende Teil des Materials ist bislang noch nicht veröffentlicht worden. Bewusst scheint man von gängigen Motiven wie der kriegsbegeisterten und Hüte schwenkenden Menge Abstand genommen zu haben. So ergeben sich neue An- und Einsichten – zum Beispiel im Kapitel „Kriegsbeginn“. Dort werden fast schon dialogisch Meldungen aus der „Speierer Zeitung“ und der „Pfälzische(n) Post“ gegenübergestellt. Während erstere im Juli 1914 einen „Weltkrieg“ für unausweichlich hielt, sprach die andere von einem „europäischen Blutvergießen“, das „mit allen Mitteln verhindert werden [müsse]“ (S. 16).

Im November 1918 angelangt, hat der Leser noch 60 Seiten vor sich. Er sieht zum Beispiel die Titelseite der „Speierer Zeitung“ vom 11. November 1918, die die Bewohner der Rheinpfalz über die Waffenstillstandsbedingungen informiert – nicht ohne den Kommentar, wonach es die Bedingungen eines „übermütigen, brutalen Siegers“ seien, der „dem unterlegenen Gegner den Fuß auf den Nacken setzt“ (S. 183). Auch wenn die Verkleinerung der Zeitungsseite auf 12x19 Zentimeter nicht mehr die Anmutung einer Zeitung hat, vermittelt doch allein schon der Kopf „Speierer Zeitung“ in Verbindung mit dem Inhalt „Waffenstillstandsbedingungen“ die Botschaft viel intensiver als jede Transkription. Hier liest der Einwohner von Speyer, wie es mit ihm in den nächsten Wochen weitergeht. „Räumung des linken Rheinufers“ heißt es unter Punkt 4, in dem auch die Besetzung von Mainz, Köln und Koblenz samt der rechtsrheinischen Brückenköpfe bestimmt wird; auch die militärische Besetzung von Speyer schien sicher – gleichermaßen die Tatsache, dass die staatliche Ordnung so nicht fortbestehen würde. Die Staatsgewalt vor Ort fußte seit dem 8. November auf einer SPD/USPD-Koalitionsregierung mit Kurt Eisner als Ministerpräsident – für Viele keine Vertrauensgrundlage. „Deutschland steht am Rande des Abgrundes […]. Ich habe es aber immer geahnt, nämlich dass Deutschland nicht gegen eine ganze Welt von Feinden zuletzt siegen kann.“ (S. 189) So notierte es am 3. November 1918 der Lehrer Heinrich Eid in Eichstätt in sein Tagebuch. Bereits am 26. September 1918 hatte sein Bruder Ludwig in Speyer an Flucht gedacht (S. 189). Das war kein Einzelfall, wie ein gemeinsamer Aufruf des Stellvertretenden Generalkommandos des II. Bayerischen Armeekorps, vertreten durch General Ludwig von Gebsattel und dem ihm zur Seite gestellten Vorsitzenden des Arbeiter- und Soldatenrats Albrecht Matthes von Ende November 1918 zeigte. Da die Räumung kampflos erfolge, habe „die Pfalz keinerlei Schrecknisse des Krieges zu gewärtigen“. „Es wird jeder Bewohner der Pfalz dringend ersucht, nicht zu flüchten, sondern ruhig in seiner Wohnstätte zu bleiben“ (S. 190). Hier wird die große Unsicherheit dieser Wochen um den Waffenstillstand und danach deutlich: In andere Gegenden Deutschlands kehrten die Truppen heim, blieben im Straßenbild in den nächsten Wochen noch mehr oder weniger präsent.

Die Pfalz war – hier widersprechen sich die Angaben im Begleitband – bis in den Dezember 1918 hinein Durchmarschgebiet für ein Millionenheer. Während es an einer Stelle heißt, dass die deutschen Truppen „bis zum 26. November 1918“ die Pfalz verlassen hätten (S. 171), erfahren wir später, dass sich „die Räumung der besetzten Gebiete im Westen [diese hatte laut Waffenstillstand eher zu erfolgen; M. B.] sowie des linken Rheinufers […] bis zum 9. Dezember“ (S. 193) vollzogen habe. Der Text des Waffenstillstands nennt bekanntlich keine Daten, sondern spricht auch bei der Räumung des linksrheinischen Gebiets von einer Frist, hier „von weiteren 4 Tagen (27 Tage im ganzen nach Unterzeichnung des Waffenstillstands)“7; daraus ergibt sich der 9. Dezember 1918 als Räumungstermin; dies oder eine Flüchtigkeit, wie das falsche Todesjahr von Prinz Max von Baden (S. 179), kann den positiven Gesamteindruck aber nicht trüben. Zu diesem tragen auch die zahlreich dokumentierten Einzelschicksale bei. Der Begleitband zeigt beispielsweise einen Tagebuchauszug des Schwegenheimer Oberlehrers Philipp Lind. Dieser wurde mit zwei Kollegen zum französischen Kommandanten bestellt, der die drei Lehrer „anfangs sehr gnädig aufnahm.“ „Als wir aber erklärten“, so Lind, „daß wir die frz. Sprache nicht beherrschten, hatte die Liebenswürdigkeit bald ein Ende. Wir sollten nämlich frz. Unterricht erteilen.“ (S. 197).

An anderer Stelle begegnet man der Bitte um ein bisschen Menschlichkeit wie die Mitteilung des bayerischen Generalkommandos II in Würzburg an das Bürgermeisteramt Weyher „betreffend das Gesuch der Witwe Barbara Ziegler vom 27. Mai 1918 um Erlaubnis zur Rückführung der Leiche ihres am 25. April 1918 gefallenen und bei Armentières (Nähe Lille) begrabenen Sohnes Georg nach Weyher“ dokumentiert. Das Bittschreiben war beim Bürgermeisteramt in Weyher „wärmstens befürwortet“ worden. Die zuständige Stelle beim II. Armeekorps lehnte das Ansinnen vorerst ab „mit dem Ersuchen, das Gesuch im September wieder in Vorlage zu bringen, da Ausgrabungen von Leichen zwecks Rückführung in die Heimat in den Sommermonaten verboten sind.“ Auf ein erneutes Gesuch der trauernden Mutter vom 28. August 1918 antwortete das Armeekommando, dass dem Gesuch „leider nicht stattgegeben werden“ könne, da sich der betreffende Ort „z. Zeit in Feindeshand“ befinde. Georg Ziegler, so erfährt man weiter, „war der dritte Sohn, den Barbara Ziegler […] ‚dem Vaterland hin gab‘, zugleich der älteste von insgesamt sechs im Fronteinsatz befindlichen Söhnen“ (S. 71). Das Schicksal der Familie Ziegler ist einem breiteren Publikum durch ein Feature des SWR bekannt.

Bekannt werden mit dieser auch ansprechend gestalteten Ausstellung und ihrem Begleitband spezifische regionale und lokale Geschehnisse und Bezüge. Dazu zählen auch Details, wie die Information darüber, dass die Pfalz-Flugzeugwerke in Speyer im Verlauf des Krieges zum drittgrößten Produzenten von Jagdflugzeugen in Deutschland wurden. Vieles weckt zu Recht ein weiteres Mal Interesse an dieser „Urkatastrophe“. Es verwundert nicht, dass die Ausstellung seit ihrer Erstpräsentation bis in das Jahr 2017 hinein ausgebucht ist und durch die Region wandert. Am jeweiligen Präsentationsort kann sie mit Dokumenten und Exponaten lokaler Provenienz angereichert werden. Im November/Dezember 2015 ist die Ausstellung in der Verbandsgemeinde Schönenberg-Kübelberg (Westpfalz), von Anfang Januar bis Anfang Februar 2016 in Wörth (Südpfalz) und anschließend in Schwetzingen zu sehen.

Anmerkungen:
1 Thomas Flemming / Bernd Ulrich, Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot – wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten, München 2014. Vgl. hierzu die Rezension von Philipp Springer in: H-Soz-Kult, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24274> (16.06.2015).
2 Sven Felix Kellerhoff, Heimatfront. Der Untergang der heilen Welt – Deutschland im Ersten Weltkrieg, Köln 2014.
3 Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918, Göttingen 1973.
4 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte; Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003.
5 Dazu zählen Gerold Bönnen, Andreas Kuhn, Ulrich Nieß, Hanspeter Rings, Armin Schlechter und Gabriele Stüber.
6 Dazu gehören die Pfälzische Landesbibliothek Speyer / Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz, das Landesarchiv Speyer, das Historische Museum der Pfalz, die Stadtarchive Annweiler, Ludwigshafen, Mannheim, Neustadt, Speyer und Worms, das Universitätsarchiv Heidelberg, die Unternehmensarchive der BASF und der Freudenberg & CO KG sowie das Zentralarchiv der Evangelischen Kirche der Pfalz (Speyer).
7 Der Waffenstillstand 1918–1919. Das Dokumentenmaterial der Waffenstillstandsverhandlungen von Compiègne, Spa, Trier und Brüssel; Notenwechsel; Verhandlungsprotokolle; Verträge. 1. Band. Der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne und seine Verlängerung nebst den finanziellen Bestimmungen, Berlin 1928, S. 83 (Die ganze Zusatznote 1: S. 81 – 87).

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