Migration – oder genauer: die Geschichte der deutschen Einwanderungsgesellschaft – scheint endgültig in der Mitte der museal repräsentierten Gesellschaft angekommen zu sein: Vor rund fünfzehn Jahren leisteten die ersten größeren Ausstellungen zur Einwanderungsgeschichte in Essen und Köln noch Pionierarbeit. Vor zehn Jahren folgten die wegweisende Ausstellung „Projekt Migration“ (ebenfalls in Köln) sowie die Schau „Migrationen 1500–2005“ im Deutschen Historischen Museum Berlin, die noch unter dem Motto „Zuwanderungsland Deutschland“ stand.1 Nun widmet sich das Haus der Geschichte dem Thema, bezogen auf die Zeit nach 1945; zunächst in Bonn und anschließend (vom 8. Oktober 2015 bis zum 17. April 2016) im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Mit dem Titel „Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland“ weckt die Wechselausstellung die Erwartung, es handele sich (zumindest für die Zeitgeschichte) um eine übergreifende Darstellung von Einwanderung nach Deutschland. Inwieweit wird diese Erwartung erfüllt?
Das Plakatmotiv ist knallbunt und zeigt einen ‚multikulturellen‘ Imbiss: Neben türkischen und asiatischen Spezialitäten gibt es arabische Wasserpfeifen und deutsches Bier. Der Eingangsbereich der Ausstellung bietet das gleiche klischeehafte Motiv. Rechts daneben steht die Skulptur „Der Ausländer“ von Guido Messer: Sie zeigt einen vermeintlich ‚südländisch‘ aussehenden Mann mit Koffer. Es gibt drei Abgüsse in Lebensgröße – einen besitzt das Haus der Geschichte, die beiden anderen befinden sich am Bahnhof in Nonnenhorn (am Bodensee) sowie am Bahnhof in Stuttgart-Obertürkheim.2 Der Koffer lässt daran denken, dass die Person hier nicht zuhause ist. Die Skulptur wurde 1982 entworfen und nach langem politischem Streit zunächst unter dem Namen „Der Reisende“ aufgestellt – vermeintlich politisch korrekt.3 Das Exponat wäre also geeignet, den Umgang der alten Bundesrepublik mit ihrer Migrationsgeschichte zu problematisieren. Zumindest in der von mir besuchten Führung bleibt die Aussage des Kunstwerks jedoch allein der Phantasie der Besucher überlassen. Hinter der Plastik zeigt eine Video-Projektion das rege Treiben in einer Fußgängerzone. Im Video fallen ‚typisch ausländisch‘ aussehende Menschen auf: Manche haben eine dunklere Hautfarbe, einige Frauen tragen Kopftücher etc. Offensichtlich soll dies die „immer buntere“ Gesellschaft darstellen, die im Ausstellungstitel genannt ist. Viele Besucher dürften genau diese Klischees im Kopf haben, bevor sie in die Ausstellung gehen. Vielleicht eine gezielte Provokation, um Interesse zu wecken? Auf jeden Fall eine Chance, um in der eigentlichen Ausstellung mit solchen Klischees aufzuräumen.
Der Aufbau ist weitgehend chronologisch. Mehrere kleine Räume, die vollständig mit weißem Schaumstoff ausgekleidet sind, enthalten keine Exponate. In diesen Räumen werden über Lautsprecher bruchstückhafte Ausschnitte aus Interviews mit Einwanderern4 abgespielt, die an verteilten Medienstationen ausführlich nachgehört werden können. Auffällig ist hier, dass die Interviewten alle mit starken Akzenten sprechen und so als ‚fremd‘ markiert werden – während die meisten Menschen mit ‚Migrationshintergrund‘ heute ja sehr gut Deutsch sprechen.
Der thematische Schwerpunkt der Ausstellung liegt klar auf der Geschichte der so genannten ‚Gastarbeiter‘-Anwerbung der alten Bundesrepublik in den 1960er-Jahren. Lediglich ein kleiner Raum behandelt die Migration von ‚Vertragsarbeitern‘ in die ehemalige DDR. Die innerdeutsche Migration zwischen den Besatzungszonen sowie später zwischen der DDR und der Bundesrepublik spielt keine Rolle. Flüchtlinge werden in der Ausstellung nur am Rande erwähnt. Die Einwanderung von (Spät-)Aussiedlern erhält ebenfalls nur eine kleine Ecke. Die vielfältigen Formen der Migration in den letzten 20 Jahren – immerhin fast eine Generation – werden nicht explizit behandelt.
Gezeigt werden unzählige Gegenstände und Fotos aus dem Alltag der ankommenden ‚Gastarbeiter‘, zum Beispiel eine Espressomaschine oder ein Ford Transit, der für Reisen in die Türkei genutzt wurde.5 Ein ‚Ramadankalender‘, durch christliche Adventskalender inspiriert, soll die Vermischung der (religiösen) Kulturen deutlich machen. Neben solchen Alltagsgegenständen zeigt die Ausstellung auch Exponate, die direkt mit der Anwerbung der Gastarbeiter zu tun haben: etwa medizinische Apparaturen, mit denen die Arbeiter in den Herkunftsländern auf ihre Tauglichkeit für den deutschen Arbeitsmarkt untersucht wurden.
Sehr prominent ist das Moped ausgestellt, das der ‚millionste Gastarbeiter‘, der Portugiese Armando Rodrigues de Sá, 1964 bei seiner Ankunft in Köln-Deutz geschenkt bekam. Die Geschichte dazu wird in der Ausstellung als zufälliges trauriges Einzelschicksal erzählt. Rodrigues erkrankte bei einem Heimatbesuch schwer und blieb in Portugal. Seinen Lohn und die Rentenansprüche verbrauchte er für die Behandlungskosten – letztlich erfolglos; er starb 1979 mit 53 Jahren an Magenkrebs.6 Der arme Mann – so wird es in der Ausstellung dargestellt – habe einfach nicht gewusst, dass er für diesen Fall versichert war und Anspruch auf Kostenübernahme gehabt hätte. Dass die bundesdeutschen Sozialkassen, wie an diesem Beispiel sichtbar, von der ‚Gastarbeit‘ nachhaltig profitierten, wird nicht erzählt.
Die Exponate lassen insgesamt kein realitätsnahes Bild der Einwanderungsgeschichte entstehen, da die Anordnung und Auswahl teilweise zufällig wirkt. Besonders im Abschnitt über die DDR-Migration werden Einzelbeispiele gezeigt, ohne dass ein roter Faden oder eine übergeordnete Struktur erkennbar wird.
In einem eigenen Raum der Ausstellung werden die rassistischen Pogrome Anfang der 1990er-Jahre thematisiert: als Taten einzelner Neonazis, denen die Bevölkerung mit Lichterketten Einhalt geboten habe. Dass in diesem Zusammenhang der ‚Asylkompromiss‘ die bis dahin geltenden verfassungsmäßigen Rechte von Flüchtlingen fundamental einschnitt, wird so lückenhaft dargestellt, dass das Gegenteil dabei herauskommt: Mit „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ ist der alte Grundgesetz-Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 groß an die Wand geschrieben. Darunter hängt – wesentlich kleiner und leicht zu übersehen – die 1993 geänderte Version (eingefügt als Artikel 16a) mit ihren zahlreichen Ausnahmen. Eine historische Einordnung findet sich nur im Begleitbuch.7 Mit Alltagsrassismus und den zugehörigen Diskursen im „Einwanderungsland Deutschland“ (jenseits von Überfällen und Brandanschlägen) findet keine Auseinandersetzung statt. Unter dem Titel „Bin ich deutsch genug?“ folgen ein paar skurril wirkende Exponate, die ‚gelungene Integration‘ zeigen sollen, aber neue Fragen aufwerfen: Ist derjenige gut integriert, der als Einwanderer einen Trachtenhut oder eine Karnevalsmütze trägt? Wie hat sich das Leitbild ‚Integration‘ historisch entwickelt, und wie ist es heute zu bewerten?
Im letzten Raum wird der Besucher dann endgültig überfordert. Die Gestaltung lässt keinerlei Zusammenhang erkennen. An den Wänden sind, als symbolischer Rahmen der Einwanderungsgesellschaft, weite Teile des Grundgesetzes abgedruckt – darunter auch viele Artikel, die vordergründig nichts mit dem Ausstellungsthema zu tun haben. Die Kofferbombe der ‚Sauerlandzelle‘ (gemeint sind damit die 2007 verhafteten und 2010 verurteilten deutschen Hauptbeteiligten der „Islamischen Jihad Union“) steht neben einem Stapel von Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ von 2010. Eine Burka, eine Polizeiuniform, der Koran, Zitate an den Wänden und aus Lautsprechern, Bildschirme. Die Kofferbombe lässt an den Koffer im Eingangsbereich denken und spannt so (sicher unbeabsichtigt) einen negativ konnotierten Bogen von ankommenden ‚Gastarbeitern‘ bis zu Terroristen. Dieses Ende der Ausstellung erzeugt Missverständnisse. Ein unreflektierter Besucher kann sich genau die Vorurteile herauspicken, die er vorher schon hatte, und in seiner Meinung bestärkt herausgehen. (Ganz auszuschließen ist dies ohnehin nie, aber die Ausstellung setzt solchen Rezeptionsformen kaum Korrektive entgegen.) Andere Besucher könnten sich beengt fühlen angesichts der Reizüberflutung und der Widersprüche. So trägt die Präsentation nicht zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema bei.
Die Ausstellung gibt einen zu schmalen Einblick in Situationen der Arbeitsmigrantinnen und -migranten, die von den 1950er-Jahren bis in die 1970er-Jahre im Rahmen staatlicher Anwerbeprogramme nach Deutschland kamen. Andere Formen und Aspekte der Migration bleiben weitgehend unberücksichtigt. Vor allem aber werden die ‚Einwanderer‘ zu wenig als Subjekte mit eigenen Hoffnungen, Ängsten, Wünschen, Handlungsformen und Biographien kenntlich. Stattdessen werden sie meist entweder als ‚Opfer‘ oder als ‚Täter‘ dargestellt. Damit wird die Ausstellung der im Titel angekündigten breiten Darstellung des „Einwanderungsland[es] Deutschland“ und seiner im Hinblick auf Herkunftsländer, Motive und Wege vielfältigen Migrationsgeschichte nicht gerecht. Die Komplexität sowohl der politischen Umstände als auch der damit verbundenen Alltagserfahrungen wird im Haus der Geschichte nicht deutlich.
Die Assoziationen, die das Plakat der Ausstellung und der Eingangsbereich erzeugt haben, hätten gut als Kontrast genutzt werden können, um mit Klischees aufzuräumen. Diese Chance wurde leider nicht genutzt. Die Ausstellung bleibt damit, nicht nur im Vergleich mit ihren Vorgängern, weit hinter den Möglichkeiten musealer Repräsentation des „Einwanderungslandes Deutschland“ und hinter dem aktuellen zeithistorischen Erklärungsbedarf zurück. Das Begleitbuch wie auch die Website zur Ausstellung bieten ein breiteres, in Teilen auch kritischeres Panorama, können diesen Mangel aber nicht kompensieren.
Anmerkungen:
1 „Fremde Heimat – Yaban, Sılan olur“, 15.02. – 02.08.1998, Ruhrlandmuseum Essen; „40 Jahre Fremde Heimat. Einwanderung aus der Türkei nach Köln“, 27.10. – 23.11.2001, Historisches Rathaus der Stadt Köln; „Projekt Migration“, 30.09.2005 – 15.01.2006, Kölnischer Kunstverein; „Migrationen 1500–2005. Zuwanderungsland Deutschland“, 22.10.2005 – 12.02.2006, Deutsches Historisches Museum Berlin. An den ersten drei genannten Ausstellungen war das Kölner Dokumentationszentrum und Museum über die Migration nach Deutschland (DOMiD) maßgeblich beteiligt.
2 Ein Foto der Raumsituation in der Ausstellung findet sich unter <http://bimev.de/wp-content/uploads/2015/03/P1090293.jpg> (23.07.2015). Zur Geschichte der Skulptur siehe <http://www.museum-digital.de/bawue/index.php?t=objekt&oges=647=647> (23.07.2015).
3 Im Begleitband erzählt Messer davon in einem Kurzinterview (S. 24).
4 Die Ausschnitte sind online verfügbar unter <https://soundcloud.com/haus-der-geschichte/sets/immerbunter> (23.07.2015).
5 Im Begleitband finden sich unter der Rubrik „Objekte erzählen Geschichte(n)“ weitere Hintergrundinformationen zu ausgewählten Exponaten und Kurzinterviews mit den Besitzern.
6 Veit Didczuneit, Der „Vorzeigegastarbeiter“. Die Begrüßung des millionsten Gastarbeiters als Medienereignis, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. Bildatlas 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 306-313, hier S. 310.
7 Jochen Oltmer, Politisch verfolgt? Asylrecht und Flüchtlingsaufnahme in der Bundesrepublik, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland, Mainz 2014, S. 106-123, hier S. 121.