Breslaus neue Dauerausstellung zur Nachkriegsgeschichte der Stadt beginnt an einem unbekannten Ort im ehemaligen Ostpolen, der heutigen Westukraine, Weißrussland (Belarus) und Litauen. Die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung „Breslau 1945–2016“1 betreten im ersten Raum eine symbolische Dorfidylle im Osten der Zweiten Polnischen Republik (1918–1939). Dieser Prolog mag zunächst überraschen, wenn man dem Titel entsprechend eine Ausstellung über die Hauptstadt Niederschlesiens erwartet hätte. Doch wird an dieser Stelle schnell klar, dass es sich um eine Geschichte der polnischen Breslauer handelt, die sich ohne die Zwangsmigrationen während und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verstehen lässt.
Die städtisch-staatlich finanzierte Einrichtung für „Erinnerung und Zukunft“2 hat hierzu im neu eröffneten Geschichtszentrum, einem aufwändig sanierten alten Straßenbahn- und Busdepot an der ul. Grabiszyńska im Süden Breslaus, auf 1580 Quadratmetern eine multimediale Ausstellungslandschaft geschaffen.
Abb. 1: Außenansicht des Breslauer Geschichtszentrums (Foto: Vasco Kretschmann)
Eine „Landschaft“ bezeichnet in diesem Fall ein in Deutschland weniger bekanntes Ausstellungsformat stark inszenierter, symbolhafter Szenografien. Dem Erscheinungsbild einer Theaterkulisse ähnelnd durchlaufen die Besucher einen abwechslungsreichen Parkour, der an Plätze und Gassen oder Wohnzimmer, Geschäftslokale und Gefängniszellen erinnert. Die historischen Objekte, zum Teil Reproduktionen, bilden oftmals Gesamtensembles, nur einzelne werden in ihrem Bedeutungszusammenhang näher vorgestellt. Dieses Format ist freilich nicht neu und in Polen spätestens seit dem Museum des Warschauer Aufstandes (2004), der Schindler-Fabrik in Krakau (2010) und dem Warschauer POLIN-Museum (2014) eine feste Größe, an der sich jede neue Präsentation messen lassen muss.
Bereits im zweiten Ausstellungsraum ertönen Maschinengewehrsalven, ein Stuhl liegt umgeworfen auf dem Boden, die Texte und Fotografien informieren über das Münchener Abkommen, den Hitler-Stalin-Pakt und den deutschen Überfall auf Polen. Eine Treppe führt zur ersten Etage, in die vermeintliche Harmonie eines bürgerlichen Wohnzimmers, die nur durch eine Zeitungsausgabe zum Kriegsausbruch und eine kleine Infotafel zum Massaker an den polnischen Offizieren in Katyn gebrochen wird. Aus dem Fenster fällt der Blick auf eine Gasse, in deren Häusern die Besucher über die deutschen und sowjetischen Verbrechen, den polnischen Widerstand, die Exilregierung und die alliierten Aushandlungen der Nachkriegsordnung informiert werden. Diese Vorgeschichte kommt ganz ohne Bezüge zur Stadt Breslau aus, zugleich scheint sie unverzichtbar für ein Verständnis der Nachkriegsgeschichte.
Abb. 2: Nachgebauter Bahnsteig mit Wagon (Foto: Vasco Kretschmann)
Breslaus Geschichte beginnt an einem Bahnsteig, auf dem die Besucher einen Eisenbahnwagon betreten und über die Migration von Polen aus den ehemaligen Ostgebieten, aus Zentralpolen und Westeuropa nach Niederschlesien erfahren. Fotografien und Dokumente beleuchten vor allem die Ankunft der Siedler. Wenige weisen auch auf die Vertreibung der deutschen Bewohner dieser Großstadt hin. Außerhalb des Wagons beleuchten Fotografien und kurze Texte die mehrmonatige Schlacht um die Stadt im Frühjahr 1945, es eröffnet sich das Panorama einer Ruinenlandschaft. Erst hier, hinter dem Wagon, begreift der Ausstellungsbesucher, dass er sich in Breslau befindet, hier wird ein großes Bahnhofsschild sichtbar, auf dem „Breslau“ durch „Wrocław“ übermalt wurde.
Diese Dramaturgie des ersten Teils der Gesamtgeschichte ist durchaus überraschend, erscheint doch Breslau als eine vollständig zerstörte und fast menschenleere „tabula rasa“. Kaum sichtbar sind die konflikthafte Parallelexistenz von Deutschen, Polen, Juden und sowjetischen Soldaten zwischen 1945 und 1948, die Vertreibung der Deutschen und die zunehmende Ansiedlung von Polen in dieser von deutschen Inschriften geprägten Großstadt, die im Südwesten und Zentrum starke Zerstörungen erlitten hatte. Zu ihrer Vorkriegsgeschichte verweist lediglich ein Schild auf die Existenz einer polnischen Minderheit im Vorkriegs-Breslau, ohne deren Bevölkerungsgröße einzuordnen. Bei genauer Prüfung lassen sich durchaus zu vielen Details Informationen finden, eine Fotografie der Abreise von Deutschen und der Beseitigung von deren Spuren, zu Plünderungen und den Eingriffen der sowjetischen Militärverwaltung. Besonders eindrucksvoll sind zwei große Vitrinen, in denen zahlreiche deutsche und polnische Alltagsgegenstände versammelt liegen und damit diese besondere Breslauer „Mischung“ der materiellen Kultur zum Ausdruck bringen. Wenn man sich jedoch allein auf das mächtige Bild der symbolischen Ausstellungslandschaft verlässt, bleiben eine Reihe fragwürdiger Rückschlüsse, die die Nachkriegsgeschichte lediglich verklären und nicht problematisieren. Im Mittelpunkt steht die Ankunft der polnischen Siedler in diesen Gebieten ohne sich mit dem Vorgefundenen, der Vorkriegs- und Kriegsgeschichte Breslaus, auseinanderzusetzen. Dementsprechend berichten alleine polnische Zeitzeugen von ihrer Zwangsmigration. Dabei ergaben sich aus der Migration von Polen nach Niederschlesien, die in der Mehrzahl aus Zentralpolen kamen, sehr intensive deutsch-polnische Kontakte, vielfache Konflikte im vorübergehenden Zusammenleben, aber auch hoch spannende Wechselwirkungen. Die Geschichte des polnischen Breslau lässt sich ohne seine deutsche Vorgeschichte kaum verstehen, da beide auf das engste miteinander verflochten sind.
Im folgenden Abschnitt präsentieren sich den Besuchern in einem Raum mit Gefängniszellen die politischen Verfolgungen im Stalinismus. Hiernach eröffnet sich eine große, bunte Landschaft, die den Lebensalltag in der Volksrepublik Polen nach 1956 symbolisiert.
Abb. 3: Kiosk aus der Volksrepublik Polen (Foto: Vasco Kretschmann)
Neben zahlreichen visuell ansprechenden Alltagsgegenständen, die als „Erinnerungsstücke“ in einem Kiosk, einer Schule und einem Wohnzimmer platziert sind, gibt es mehrere gelungene Themenräume, die mit der Nostalgie brechen. So steht der Besucher vor einer großen leeren Ladentheke, die auf die unzureichende Versorgungslage aufmerksam macht, oder einem Raum mit westlichen Zeitschriften, der einen unerreichbaren Sehnsuchtsort symbolisiert. Spezifisch lokalgeschichtlich sind auch hier wieder die vielen kleinen Schaukästen etwa zum Sport und der Architektur oder auch einer Ecke zum Lemberg-Mythos, den Einflüssen der ehemaligen Lemberger auf die Entwicklung Breslaus. Bemerkenswert ist auch ein Zeitstrahl zur deutsch-polnischen Versöhnung. Daran anschließend ist ein Raum ausschließlich Kardinal Bolesław Kominek, dem Initiator des versöhnenden Hirtenbriefes der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder (1965), gewidmet. Eine deutlich religiöse Symbolik prägt die Ausstellung an gleich mehreren Stellen, neben der Herausstellung des Kardinals sind dies eine Art Gebetsnische mit Kreuz und Fotografien der Ausstellungsmacher sowie zwei Kirchenbänke vor einer Videoprojektion des Besuchs von Paul Johannes Paul II. in Polen 1979. Schließlich verweist auch ein großes Kreuz an der Fassade des Ausstellungsgebäudes auf die historische Bedeutung des Ortes. Das Busdepot war 1980 einer der zentralen Streikorte der Solidarność-Gewerkschaft, die dieses Kreuz als Protestzeichen installierte.
Abb. 4: Inszenierter Bus der Proteste von 1980 (Foto: Vasco Kretschmann)
Der Widerstandskampf der Solidarność und der lokalen Bewegung Orangene Alternative erstrecken sich daher über mehr als ein Drittel der Ausstellungsfläche. Dazu steigt der Besucher symbolhaft in den Untergrund, ins Kellergeschoss hinab. Dieser Abschnitt entspricht in Teilen der Sonderausstellung „Solidarisches Breslau“ (2010)3 und überzeugt in seiner thematischen Professionalität. Ein langer Korridor stellt die Vielfalt der Fraktionen der Solidarność-Bewegung und die gewalttätigen Konfrontationen während des „Kriegsrechts“ (1981–1983) vor. Ein großer Lkw mit Paketen symbolisiert die Anteilnahme und Hilfsbereitschaft aus Westeuropa. Den norwegischen Solidarność-Unterstützern wurde ein eigener Raum gewidmet, vor allem weil der Fonds „Norway Grants“ maßgeblich zur Finanzierung der Ausstellung beitrug. Am Ende des Rundgangs befindet sich eine große Rotunde mit Videoprojektionen verschiedener Zeitzeugen, deren Geschichte die Veranstalter über viele Jahre gesammelt haben.
Zum Abschluss dieses zweiten zentralen Kapitels der Ausstellung bleiben vor allem zwei große Fragen offen. Neben den gefälligen Alltagsgegenständen, dem Kulturleben, der Repression gegen die Opposition und ihres Widerstandes bleibt unklar, wie das kommunistische System in Breslau funktionierte und was seine Institutionen waren. Es drängt sich der Rückschluss auf, dass die gesamte Bevölkerung kollektiv in Opposition zur Regierung gestanden habe. Erstaunlich ist auch, dass die letzten 25 Jahre bis auf wenige Fotografien und Objekte eine Leerstelle in der Ausstellung bleiben. Über die historische Epochenwende im Jahr 1989 reichen lediglich wenige Exponate in einer Vitrinenwand am Ausgang hinaus, deren Bedeutungszusammenhang jedoch unklar bleibt. Dem gegenübergestellt ist ein spannendes Symbol für die bewegte Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert: Breslauer Straßenschilder aus deutscher, kommunistischer und heutiger Zeit.
Die bunte Geschichtsausstellung im ehemaligen Busdepot wird für viele ältere Stadtbewohner zahlreiche Erinnerungsstücke bereithalten und erlaubt es den Besuchern, die bewegte Geschichte der Odermetropole zu durchwandern. Sie ist das Ergebnis einer gut zehnjährigen Diskussion über die besonderen historischen Herausforderungen der polnischen Westgebiete. Von Beginn an sollten der einschneidende Umbruch nach dem Zweiten Weltkrieg und die Zwänge im kommunistischen Staatenblock im Mittelpunkt stehen, anfänglich allerdings noch in einem gesamtregionalen Kontext. Mit der Fokussierung auf das Lokale bot sich die Chance einer besonderen Tiefe der Präsentation. Im Gegensatz zur großen Dauerausstellung des Stadtmuseums,4 die nahezu tausend Jahre der wechselvollen Geschichte Breslaus unter einem Dach vereinigt, konnte sich diese Ausstellung zur Nachkriegsgeschichte zeitlich nahe liegenden Kapiteln tiefer gehend widmen. Beeindruckend ist die aufwändige Szenerie der multimedialen Ausstellung, erstaunlich hingegen die nationale Verkürzung der komplexen Geschichte Breslaus am Ende des Zweiten Weltkrieges.
Anmerkungen:
1 Der Ausstellungskatalog ist bisher nur auf Polnisch erschienen. Die Ausstellungstafeln sind auf Englisch und Polnisch beschriftet.
2 Das Zentrum „Erinnerung und Zukunft“ hat sich seit seiner Gründung 2007 durch eine Reihe wissenschaftlicher Konferenzen zur Nachkriegsgeschichte der Westgebiete sowie Publikationen hervorgetan. Vgl. Wojciech Kucharski, Das Zentrum Erinnerung und Zukunft in Wrocław/Breslau, in: Inter Finitimos – Jahrbuch zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte 8 (2010), S. 251–253.
3 Wojciech Kucharski / Jarosław Maliniak (Hrsg.), Solidarny Wrocław. Wystawa zorganizowana z okazji 30-lecia powstania „Solidarności”. Ośrodek „Pamięć i Przyszłość”. [Solidarisches Breslau. Ausstellung zum 30. Jahrestag der Gründung der „Solidarność“. Zentrum „Erinnerung und Zukunft“]. Wrocław 2010.
4 Vgl. Mateusz Hartwich, Rezension zu: 1000 lat Wrocławia – 1000 Jahre Breslau, 15.04.2009 Wrocław (Breslau), in: H-Soz-Kult, 20.06.2009, <http://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-116> (09.11.2016).