Eine der spektakulärsten Erneuerungen in der deutschen Geschichtsschreibung in den letzten zwanzig Jahren ist die Neuuntersuchung der Kolonialgeschichte. Deutsche Geschichte wird zunehmend jenseits der eigenen Grenzen als Globalgeschichte erforscht. Auch in der Öffentlichkeit hat die Kolonialgeschichte mehr Relevanz als je zuvor. Erst seit 2004, hundert Jahre nach Beginn des Herero-Aufstands, ist der schwierige Umgang mit Deutschlands kolonialem Erbe in den Medien ein Thema. Brandaktuell wurde es, nachdem der Bundestag im Juni 2016 die Armenien-Resolution annahm. Der Mord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern und anderen christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich wurde hierin ausdrücklich als Völkermord bezeichnet. Im Windschatten dieser Debatte bezeichnete Bundestagspräsident Norbert Lammert auch die Niederschlagung des Herero-Aufstands in Deutsch-Südwestafrika als Rassenkrieg und Völkermord.
Umso wichtiger ist es, dass das Deutsche Historische Museum (DHM) in Berlin gerade jetzt die Initiative ergriffen hat, eine große Ausstellung über den deutschen Kolonialismus in seiner ganzen Ausdehnung, von afrikanischen Gebieten wie „Deutsch-Südwestafrika“ bis hin zu asiatisch-pazifischen Territorien wie „Deutsch-Samoa“, zusammenzustellen. Das DHM zeigt das breite Spektrum deutscher Kolonialgeschichte in acht Themenbereichen vom „deutschen Kolonialismus im globalen Kontext“ bis zur mit einem Fragezeichen versehenen „postkolonialen Gegenwart“. Dass es keine leichte Aufgabe ist, die Globalgeschichte des deutschen Kolonialismus auf mehr als 1.000 Quadratmetern in über 500 Exponaten zu inszenieren, erweist der Untertitel der Ausstellung „Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“. Die Kuratoren haben es sich nicht zugetraut, die Ausstellung als eine neue Gesamtdarstellung zu präsentieren. Einerseits ist das bemerkenswert, da die Ausstellung den deutschen Kolonialismus sowohl räumlich als auch zeitlich flächendeckend darstellt. Andererseits ist der bescheidene Untertitel berechtigt, da die Ausstellung, wie Ulrike Kretzschmar im Vorwort des Katalogs schreibt, „Einblicke in die deutsche Kolonialgeschichte“ erlaubt und „Auskunft über deren noch vorhandene Spuren und Relikte“ gibt, ohne „Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit“ zu erheben (S. 10).
Eindringliche Momente gibt es in der Ausstellung gewiss, insbesondere im Bereich „Koloniale Weltbilder und koloniale Herrschaft“. Zentral in dem diesem Thema gewidmeten Raum liegt eine Nilpferdpeitsche von 1900, gebraucht als Mittel zur körperlichen Züchtigung. Sie symbolisiert das Gewaltregime der Deutschen in Afrika, das von der Ohrfeige bis zum Völkermord reichte. Der Völkermord selbst wird über Fotobücher, Kriegskarten und Verordnungen dargestellt sowie mit anderen Exponaten, etwa Kriegsbeute (15 Speere, ein Munitionsgürtel und eine Medizintasche), und sogar durch Zinnfiguren für Kinder illustriert. Im Einklang mit der neueren Geschichtsforschung zu beiden Weltkriegen werden zudem viele Feldpostbriefe und Briefkarten mit Berichten in die Heimat gezeigt. Dass die deutsche Kolonialpolitik in Afrika besonders brutal war, ergibt sich auch aus einem zeitgenössischen englischsprachigen Artikel über die deutschen Gefängnisse und den Strafvollzug in Togo, der dem afrikanischen Autor zufolge die wilden Instinkte der primitiven Menschen erhalten habe und schlimmer sei als die Hölle.1 Leider erhält man in der Ausstellung kaum Informationen über den genauen Status des Quellentextes oder den Hintergrund des Autors, dessen Pseudonym Quashie lautet.2
Abb. 1: Blick in den Raum „Koloniale Weltbilder und koloniale Herrschaft“. Unter anderem 15 erbeutete Speere illustrieren in der Ausstellung die deutsche Kriegsführung im sogenannten Maji-Maji-Krieg im damaligen Deutsch-Ostafrika.
(Foto: DHM/Vaupel)
Eindringlich ist auch die bildliche Darstellung der anderen deutschen Beteiligten wie Missionare und Naturforscher im Bereich „Aushandlungen im kolonialen Alltag“. So sieht man die Ergebnisse der Schlafkrankheitsexpedition nach Deutsch-Ostafrika des berühmten Mediziners und Nobelpreisträgers Robert Koch, wie auch die der Sprachforschungen des Afrikanisten Martin Heepe, der 1916 grammofonische Aufnahmen von verschiedenen Kriegsgefangenen aus der französischen Kolonie Komoren machen ließ. Die Schallplatte mit Aufnahmen von Sadak-ber-resid ist in der Ausstellung zu hören.
Im Themenbereich „Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen“ haben die Kuratoren zudem die Bedeutung der Geschlechterverhältnisse gut ausgeleuchtet. Bemerkenswert ist die Legitimation der Gründung des deutschkolonialen Frauenbunds: Der deutsche Soldat hat das Land erobert, der Farmer und der Kaufmann sorgen für die wirtschaftliche Nutzbarmachung, aber nur die deutsche Frau ist dazu berufen und im Stande, die Kolonien deutsch zu erhalten. Die gemischte Ehe wurde in den Kolonien verboten, auch da die Kinder deutscher Väter nach dem deutschen Staatsangehörigkeitsgesetz deutsche Staatsbürger wurden und Anspruch auf die gleichen Rechte wie die Kolonisatoren hatten. Dennoch gibt es in der Ausstellung genügend Bilder transkontinentaler Liebesbeziehungen – von einem 1903 aufgenommenen Hochzeitsfoto der Schuhmachertochter Margarethe Krüger und des chinesischen Dolmetschers Li Deshun bis hin zur Schnapsflasche eines Reservisten aus dem Jahr 1900, auf der ein deutscher Matrose in inniger Umarmung mit einer „Südsee-Schönheit“ abgebildet ist.
Obwohl die Ausstellung sorgfältig nach verschiedenen Kolonien und nach Themen wie Herrschaft, Alltag, Dekolonisierung und geteilte Erinnerung geordnet ist, hat das Übermaß von Exponaten und Texten zur Folge, dass wenig vorgebildete Besucher – und das sind die meisten – sich nur schwer einen Gesamtüberblick verschaffen können. Dieses Problem wird noch dadurch gesteigert, dass die Ausstellung eben nicht als Gesamtdarstellung des deutschen Kolonialismus präsentiert wird, sondern als Blick auf „Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“. Und in diesen Fragmenten kommt die historische Kontextualisierung des deutschen Kolonialismus oft zu kurz.
In der Ausstellung wird vor allem betont, dass es den Deutschen in den Kolonien um Macht und Gewinn gegangen sei. Durch diese Überbetonung der Machtfrage, und die dazu gehörende Inszenierung des deutschen Selbstbilds sowie der kolonisierten Anderen, verliert man andere Fragen aus dem Auge; zum Beispiel die Frage, wie der Kolonialismus in die deutsche Kultur und Politik eingebettet war, wie die institutionelle Infrastruktur sowie die Gestaltung der kolonialen Ideen durch Vereine – zum Beispiel die Deutsche Kolonialgesellschaft oder der Alldeutsche Verband – den Kolonialismus geprägt haben. Bei der Darstellung der Verhältnisse in den Kolonien selbst verleitet dieser Ansatz schlicht zur Reduzierung. Am Beispiel des Stadtplans der deutsch-chinesischen Stadt Kiautschou/Qingdao lernt der Besucher, wie die Einteilung in eine Europäer- und Chinesenstadt die Machtverhältnisse vor Ort repräsentiert. Das stimmt – in fast allen kolonialen Städten der Welt findet man eine derartige Einteilung wieder. Interessanter ist aber, wie die Machtverhältnisse in Kiautschou durch den chinesischen „Boxeraufstand“ völlig zerstört wurden. Der Besucher erfährt kaum etwas von den komplexen Beziehungen zwischen den Deutschen, anderen Kolonialmächten und den Chinesen vor Ort. Auch Kaiser Wilhelms II. auffallend brutale und rassistische „Hunnenrede“ beim Abschied des deutschen Ostasiatischen Expeditionskorps zur Niederschlagung der chinesischen Rebellen ist kein Thema in der Ausstellung.
Der Katalog beginnt mit einem interessanten Artikel von Ulrike Lindner über transimperiale Wissenstransfers, in der Ausstellung aber scheint es eher, als ob die Deutschen kaum durch die Ideen anderer europäischer Kolonialmächte beeinflusst gewesen seien. Dass es unterschiedliche und widersprüchliche Kolonialisierungskonzepte bei den älteren Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich, Portugal oder den Niederlanden einerseits und den Neueinsteigern Belgien, Deutschland und Italien andererseits gab, wird kaum thematisiert. Dass es auch unter den Befürwortern des deutschen Kolonialismus große Meinungsunterschiede, oft auch Streit über seinen Kurs gab, ist ebenso kein Thema. Darüber hinaus stehen Texte und Exponate oft in einem Spannungsverhältnis, das sich freilich praktisch kaum lösen lässt: Obwohl die Ausstellung mit einem postkolonialen Ansatz vor allem den kolonialen Alltag, die Grenzüberschreitungen und Verflechtungen vor Ort zeigen will, ergibt sich aufgrund der vorliegenden Exponate vorwiegend eine Ausstellung über den deutschen kolonialen Blick.
Mich haben vor allem der Anfang und das Ende der Ausstellung überrascht. Am Beginn der Ausstellung wird – mit nur wenigen Exponaten – der deutsche Kolonialismus in einen langfristigen globalen Kontext gestellt, etwa durch eine „Mohrenmaske“ als Wechselvisier aus Prag, hergestellt um 1555, einige Reste der 1683 gegründeten brandenburgisch-preußischen Niederlassung Groß-Friedrichsburg an der Küste Ghanas, die nur kurz florierte, und eine Figurengruppe im Glaskasten mit Tieren und Urmenschen von 1870, die als sozialdarwinistisch präsentiert wird. Statt eines solchen „großen Griffes“ hätte es auf der Hand gelegen, erst einmal die deutsche koloniale Kultur im Zeitraum vor dem Kolonialismus zu erörtern. Denn obwohl die Deutschen lange keine Kolonien hatten, fehlte es gewiss nicht an einer kolonialen Kultur. Mehr noch als diesen Aspekt zu beleuchten, im Grunde ein eigenes Ausstellungsthema, wäre es naheliegend gewesen, die Frage zu beantworten, warum die Deutschen – mit Groß-Friedrichsburg als bereits erwähnter Ausnahme – erst 1884 Kolonien in Afrika, Asien oder Ozeanien erobert haben. Es wundert, warum Bismarcks anfängliche Ablehnung, neue „Schutzgebiete“ zu erwerben, und die heftigen Debatten über seine zurückhaltende Politik in der Ausstellung unbeachtet bleiben.
Fast am Ende der Ausstellung, im Bereich „Kolonialismus ohne Kolonien (1919–1945)“, liest man, dass nahezu alle deutschen Politiker nach dem Ersten Weltkrieg die Kolonien hätten zurückerobern wollen. Dass Adolf Hitler selbst schon in „Mein Kampf“ dem Kolonialismus eine klare Absage erteilt hat, wird aber nicht erörtert. Die Kuratoren haben es sich nicht zugetraut, das komplexe Verhältnis zwischen dem deutschen Kolonialismus, dem Konzept des „Lebensraums“ und dem virulenten Antisemitismus weitergehend zu thematisieren. Das ist schade, auch weil genau dies in der aktuellen Forschung eine zentrale Frage ist.3
Die deutschen historischen Museen spielen eine Vorreiterrolle, wenn es um die Darstellung des Holocausts, der Geschichte der DDR oder der Bundesrepublik geht. Die Darstellung der deutschen Kolonialgeschichte aber verdient nicht nur ein Gesamtkonzept mit klarerer und möglicherweise eingeschränkter Perspektive, bessere Wegweiser und eine stärkere Einbeziehung der aktuellen historischen Forschung, sondern auch feste Ausstellungsräume, vielleicht sogar ein eigenes Museum, in dem aktuelle Fragen des Verhältnisses zwischen Deutschland und der Welt historisch erörtert werden.
Anmerkungen:
1 Wörtlich heißt es im Text: „Prison in German Togoland is worse than hell. […] The administration seems to have retained the instincts of the savage ferocity of primitive man.”
2 Siehe dazu Peter Sebald, Deutsche Missionen in afrikanischer Sicht. Aus den im „Gold Coast Leader“ von Togoern in den Jahren 1911 bis 1919 publizierten Artikeln‘, in: Ulrich van der Heyden / Holger Stoecker (Hrsg), Mission und Macht im Wandel politischer Orientierungen. Europäische Missionsgesellschaften in politischen Spannungsfeldern in Afrika und Asien zwischen 1800 und 1945, Stuttgart 2005, S. 159–172.
3 Vgl. etwa Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012; Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Berlin 2011.