Zur Dauerausstellung „Tuet auf die Pforten“
Bei ihrer Eröffnung im Jahr 1866 war die Berliner Neue Synagoge in der Oranienburger Straße mit ihren 3.200 Sitzplätzen und der im orientalisierenden Stil gehaltenen architektonischen Gestaltung das größte jüdische Gotteshaus in Deutschland und wurde zur vielbeachteten Sehenswürdigkeit. Der Prachtbau im Zentrum der Stadt stand für ein neues Selbstbewusstsein des deutschen liberalen Judentums. Seine sich direkt zur Straße öffnenden Türen und der Bibelspruch über dem Portal „Tuet auf die Pforten“ demonstrierten symbolisch die erwünschte Offenheit und Präsenz der Berliner Juden in der Stadtgesellschaft. (Wie weit wir von dieser gewünschten Normalität jüdischen Lebens heute entfernt sind, zeigt der leider noch immer nötige Polizeischutz vor dem Gebäude, das nur nach einer Eingangskontrolle betreten werden kann.)
Abb. 1 Die Rotunde – der ursprüngliche Eingangsbereich der Synagoge mit den zur Oranienburger Straße öffnenden Türen
© Centrum Judaicum/Henry Lucke
Nachdem die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße mehr als 70 Jahre Zentrum des religiösen Lebens der Berliner Jüdischen Gemeinde war, die auf bis zu 172.000 Mitglieder im Jahr 1925 anwuchs, entging sie als eine der wenigen Synagogen im Deutschen Reich den Zerstörungen im November 1938 – dank der Polizisten vom 16. Polizeirevier, die gegen die Brandstiftungen der SA vorgingen und denen Heinz Knobloch in seinem Buch „Der beherzte Reviervorsteher“ 1990 ein Denkmal gesetzt hat. Doch das jüdische Leben wurde durch Verfolgung und Entrechtung, Emigrationen und Deportationen zunehmend eingeschränkt; bis Ende 1942 fanden aber noch gelegentlich Gottesdienste statt. Im November 1943 wurde das Gebäude bei einem Luftangriff schwer beschädigt, die Fassade blieb als Ruine stehen. Die Überreste des Hauptbetsaals wurden im Jahr 1958 wegen Einsturzgefahr endgültig abgetragen. Ein Film von Michael Halatsch, der im Treppenhaus des Gebäudes zu sehen ist, dokumentiert den verwunschenen Zustand von 1986 – bevor im November 1988 der Wiederaufbau begann. Schon damals entschied man sich, dass die Zerstörungen sichtbar bleiben sollten und das Gebäude nicht nur Gotteshaus (heute befindet sich im dritten Stock ein kleiner Synagogenraum mit knapp 100 Plätzen), sondern auch Museum und Mahnmal sein solle.
Die aktualisierte Dauerausstellung, die von der Leiterin des wissenschaftlichen Bereichs der Stiftung Neue Synagoge Berlin, Chana Schütz, kuratiert wurde, stellt mit einem neuen Lichtkonzept das Gebäude, die rekonstruierten architektonischen Fragmente sowie einzelne erhalten gebliebenen Teile der Inneneinrichtung in den Mittelpunkt.
Die Ausstellung erstreckt sich über den ursprünglichen Eingangsbereich, die Rotunde, durch einige Synagogenvorräume, das Treppenhaus und den Repräsentantensaal im 1. Stock, in dem sich Gemeindevertreter zu Beratungen trafen, bis in den Kuppelraum, der wunderbare Ausblicke auf Berlin-Mitte ermöglicht. Der Synagogenhauptraum wurde nicht rekonstruiert. Seine Ausstattung lässt sich durch Bilder und ein Modell nachvollziehen; die Dimension seiner Ausmaße wird deutlich, wenn man auf die Freifläche hinter den restaurierten Gebäudeteilen schaut oder sie abschreitet. Der Grundriss ist auf der Schotterfläche durch Granitplatten markiert, auch der Platz des Toraschreins lässt sich erschließen. Ein Medientisch hilft, die Anordnung der bestehenden und der zerstörten Gebäudeteile sowie den verwinkelten Grundriss nachzuvollziehen und die Ausstellungsräume darin zu verorten.
Abb. 2 Am Modell lässt sich die ursprüngliche Gestalt der Synagoge nachvollziehen
© Centrum Judaicum/Henry Lucke
Neben den sakralen Gegenständen wird bereits im Erdgeschoss die zweite Dimension der Ausstellung sichtbar: Durch lebensgeschichtliche Zugänge soll die Vielfalt jüdischen Lebens anschaulich gemacht, aber auch die Verfolgung gezeigt werden – so zum Beispiel am Schicksal des Berliner Juden Kurt Heinz Aron, der im August 1941 aus Berlin deportiert und 1943 in Auschwitz ermordet wurde. Den Bildern des Fotografen Abraham Pisarek (1901–1983) verdanken wir Einblicke in das jüdische Leben der Stadt in der Zwischenkriegszeit, während der nationalsozialistischen Verfolgung und der Nachkriegszeit. Momentaufnahmen, wie der traurige Blick eines jüdischen Jungen, der sich vor seiner Auswanderung von seiner Lehrerin verabschiedet, machen verschiedene Dimensionen der Verfolgung anschaulich. Im Interview berichtet Abraham Pisareks Tochter, Ruth Gross, vom schwierigen Überleben des durch „Mischehe“ vor der Deportation geschützten Fotografen. In weiteren Interviewausschnitten, die über Tablets im Repräsentantensaal oder auch auf großer Leinwand zu erleben sind, berichten neun sehr unterschiedliche Menschen, die Berlin aufgrund der Verfolgung als Kind verlassen mussten oder deren Eltern in Berlin gelebt hatten, über ihre Beziehung zur Stadt, die oft als Mythos in den Familienerzählungen weiterlebte. Die Interviews stammen von der Filmemacherin Britta Wauer, die seit ihrem Film „Im Himmel, unter der Erde“ (2011) mit dem Thema der Jüdischen Gemeinde Berlin eng verbunden ist.
Von der Vielfalt jüdischen kulturellen Lebens berichten Ausstellungsstücke wie die Ausschnitte eines Filmdokuments, das eine Probe des Frauenchors der Neuen Synagoge aus dem Jahr 1932 zeigt, oder zwei Bilder des Berliner Malers Max Liebermann, die einst zur Sammlung des Jüdischen Museums gehörten, das sich im Nachbargebäude befand. Über die Geschichte dieses am 24. Januar 1933 eröffneten Kulturortes, dessen Kunstwerke zum Teil in einem Keller gerettet werden konnten und heute in Los Angeles und Jerusalem ausgestellt sind, würde man gern mehr erfahren.1 Auch insgesamt wäre sowohl über das Berliner jüdische Leben von der Gründerzeit bis in die 1930er-Jahre als auch über die Verfolgungszeit, als zum Beispiel das Reichssippenamt das Gesamtarchiv der deutschen Juden nutzte, um Abstammungsnachweise zu recherchieren, und Gestapo und Wehrmacht im Haus walteten, noch mehr zu erzählen. Eine weitere Leerstelle der Ausstellung betrifft die Geschichte der Jüdischen Gemeinde nach dem Krieg, als die unbeschädigten Teile des Verwaltungsgebäudes zur ersten Anlaufstelle für diejenigen wurden, die in „Mischehen“ bzw. im Untergrund überlebt hatten oder aus Konzentrationslagern zurückkehrten. Ein spannendes Thema wäre außerdem die komplizierte Existenz der Ostberliner Jüdischen Gemeinde während der DDR-Zeit.
Im Moment richtet sich die Ausstellung durch die Anordnung ihrer Vitrinen und die gut verdauliche Menge an Informationen vor allem an Einzelbesucher und Touristen. Das Centrum Judaicum plant jedoch die Erarbeitung eines museumspädagogischen Konzepts und zielgruppenspezifischer Vermittlungsangebote. Für zukünftige Forschungs- und Ausstellungsprojekte gibt es viel Potenzial – man kann gespannt sein.
Eine wunderbare Ergänzung zur Dauerausstellung bietet die bis zum 28. Februar 2019 gezeigte Wechselausstellung „Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938“, die einer speziellen Gruppe innerhalb der Berliner Jüdinnen und Juden gewidmet ist: den rund 10.000 Juden polnischer Herkunft, die seit den 1880er-Jahren in die Hauptstadt eingewandert waren, sich hier in Handel, Handwerk und Gewerbe Existenzen aufbauten und Familien gründeten. Viele Angehörige dieser Gruppe waren bereits in Berlin geboren und hatten kaum noch Verbindungen zur polnischen Kultur und Sprache. Nachdem die polnische Regierung – in Reaktion auf die zunehmende Zahl jüdischer Rückkehrer, die vor der Verfolgung in Deutschland flohen – im Oktober 1938 ein Gesetz in Kraft treten ließ, das langjährig im Ausland lebenden Polen die polnische Staatsbürgerschaft entziehen sollte, beschloss die deutsche Regierung, den betroffenen Personenkreis kurzerhand per Zwang aus dem Land zu schaffen. Dies begann am 28. und 29. Oktober 1938 und betraf reichsweit rund 17.000 Personen – in Berlin wurden an diesen Tagen 1.500 Menschen frühmorgens in ihren Wohnungen verhaftet und an die deutsch-polnische Grenze transportiert. Viele strandeten in der polnischen Grenzstadt Zbąszyń, wo etliche tausend ausgewiesene Jüdinnen und Juden monatelang in improvisierten Notunterkünften verharren mussten, da die Stadt von der polnischen Regierung abgeriegelt wurde. Einigen wenigen wurde die Rückreise ins Reichsgebiet gestattet, anderen gelang die (nicht immer) rettende Emigration ins Ausland, viele reisten letztendlich zu Verwandten ins Landesinnere Polens weiter und ließen sich dort nieder. Letztere gerieten in der Regel schon ein Jahr später, nach Einmarsch der Wehrmacht in Polen, erneut unter Verfolgungsdruck und teilten – je nach Region – das Schicksal der dortigen polnisch-jüdischen Bevölkerung.
Abb. 3 Blick in den ersten Ausstellungsraum
© Centrum Judaicum/Henry Lucke
Die übersichtlich strukturierte Ausstellung teilt sich in drei Zeitabschnitte – die Vorgeschichte, die Ausweisungen im Oktober 1938 und die weitere Verfolgung. Jeder Zeitabschnitt wird auf drei einander sinnvoll ergänzenden Erzählebenen präsentiert. Die erste Ebene, bestehend aus Texttafeln, die – ein Schritt in Richtung Barrierefreiheit – in die Hand genommen werden können, erklären die historischen Hintergründe. Sie beschreiben die vielfältigen Berliner Lebenswelten der Eingewanderten, ihre zunehmende Verfolgung seit 1933, die Vorgeschichte und den Verlauf der Ausweisungsaktion und befassen sich mit der Verantwortung der Berliner Polizei. Nachdem die Besucherinnen und Besucher in einem „Hörtunnel“ Erlebnisberichte von der Ausweisung aus der Perspektive der Betroffenen vernommen haben (hier wären Kopfhörer schön gewesen), beschreiben weitere Texttafeln das improvisierte Leben in Zbąszyń, die internationalen Reaktionen auf diese erste große Abschiebungsaktion, thematisieren die Solidarität der polnischen Bevölkerung, Rettungs- und Hilfsversuche ebenso wie die Optionen, die den Ausgewiesenen verblieben waren, sowie die anhaltenden und sich stets verschärfenden Verfolgungsmaßnahmen der kommenden Jahre.
Die zweite Erzählebene veranschaulicht die Geschehnisse mit Hilfe konkreter Familiengeschichten: Wir lernen anhand von privaten Fotos und Dokumenten sechs sehr unterschiedliche Berliner Familien, ihre wirtschaftliche Situation, ihr soziales oder auch kulturelles Engagement kennen und erfahren, was ihnen im Oktober 1938 und danach geschah. Fast alle Familien wurden zwangsweise getrennt und versuchten an unterschiedlichen Orten, ihr Überleben zu organisieren. Von den wenigen, denen das gelang, erfahren die Besucherinnen und Besucher von den Schwierigkeiten des Weiterlebens nach 1945.
Abb. 4 Die Vorstellung der sechs Familien im ersten Ausstellungsraum
© Centrum Judaicum/Henry Lucke
Eine dritte Erzählebene versucht, Spuren der Geschehnisse in historischen Karten zu verorten. Eindrucksvoll gelungen ist dies beispielsweise durch die Fotos von Läden und Geschäften der betroffenen Gruppe im Berliner Stadtraum, die deutlich machen, welche Rolle diese Gruppe im Berliner Wirtschaftsleben spielte. Briefe aus Zbąszyń, Fotos und zeitgenössische Dokumente zeigen Hilflosigkeit und Verzweiflung der Ausgewiesenen ebenso wie die Findigkeit, mit der sie ihr improvisiertes Leben organisierten.
Den Abschluss der Ausstellung bildet ein Kunstprojekt des Fotografen Wojciech Olejniczak, der seit mehr als zehn Jahren dafür sorgt, dass die Erinnerung an die deportierten Juden von 1938 in der kleinen Stadt Zbąszyń, das sich auf halber Strecke zwischen Frankfurt (Oder) und Poznań befindet, aufrechterhalten wird.2
Die Vertreibung der polnischen Juden aus dem Deutschen Reich im Oktober 1938 war der erste Versuch der Nazis, eine unerwünschte Personengruppe des Landes zu verweisen. Diese frühen Deportationen dienten auch als Test, wie sich Bahn, Polizei und Behörden koordinieren ließen und ob es möglich sei, unbescholtene Menschen vor den Augen der Öffentlichkeit brutal abzutransportieren. Würde sich Widerspruch regen, wenn Nachbarn aus ihren Wohnungen geholt und begleitet von Polizeisirenen weggebracht würden? Zwar gab es etliche internationale Empörung – die nichtjüdische deutsche Bevölkerung hingegen beschränkte sich meist auf das Beobachten und zeigte nur selten Solidarität. Die bekannteste Reaktion auf die Ausweisung war das Attentat des 17-jährigen Hermann (Herschel) Grynszpan auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath in Paris. Grynszpan hatte zuvor von der Ausweisung seiner Eltern und Geschwister aus Hannover erfahren. Das Attentat diente als Anlass für die deutschen Novemberpogrome 1938.
In die von Alina Bothe kuratierte Ausstellung floss viel Forschungsarbeit von Studierenden des Osteuropa-Instituts der FU Berlin ein. Sie recherchierten Familienbiographien, nahmen Kontakt zu Nachkommen auf und planen gemeinsame Stolpersteinverlegungen zur Erinnerung an ermordete Familienangehörige. Auf diese Weise wird die Geschichte der „Polen-Aktion“ über die Ausstellung hinaus in die Stadt getragen und erhält so hoffentlich ihren Platz in der Erinnerung. Ergänzt wird die durchweg dreisprachig (Deutsch-Englisch-Polnisch) gehaltene Ausstellung durch einen lesenswerten Katalog, der das Themenfeld durch Aufsätze namhafter Expertinnen und Experten stark erweitert.3
Anmerkungen:
1 Wer sich informieren will, kann auf die Kataloge einer Wechselausstellung zum Thema zurückgreifen: Auf der Suche nach einer verlorenen Sammlung: das Berliner Jüdische Museum (1933–1938), hrsg. von der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Berlin 2011; Bestandsrekonstruktion des Berliner Jüdischen Museums in der Oranienburger Straße, hrsg. von der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Berlin 2011.
2 Izabela Skórzyńska / Wojciech Olejniczak (Hrsg.), Do zobaczenia za rok w Jerozolimie. Deportacje polskich Żydów w 1938 roku z Niemiec do Zbąszynia / See you next year in Jerusalem. Deportation of Polish Jews from Germany to Zbąszyń in 1938, Zbąszyń, Poznań 2012.
3 Alina Bothe / Gertrud Pickhan (Hrsg.), Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938. Die Geschichte der „Polenaktion“, Berlin 2018.