Das am 4. Juni 2019 in Regensburg feierlich eröffnete Museum der Bayerischen Geschichte, dessen klotzhafte, aber inzwischen preisgekrönte Architektur in seiner Bauphase für so manche hitzige Kontroverse in der Regensburger Stadtgesellschaft gesorgt hat, hat sich binnen kürzester Frist zu einem wahren Publikumsmagneten entwickelt: Bis zum coronabedingten Shutdown hatten fast 500.000 Menschen das neue Museum besucht, das die Geschichte Bayerns während der vergangenen 200 Jahre zum Thema hat.
Die Dauerausstellung entfaltet im ersten Obergeschoss auf 2.451 Quadratmetern die Geschichte jener seit dem Mittelalter gewachsenen Territoriallandschaft, die nach 1800 in das Königreich Bayern integriert wurde und damit das Staatsgebiet des heutigen Bundeslands Bayern bildete. Los geht es allerdings in dem mit einem luftig-großzügigen Foyer samt Museumsladen und Wirtshaus ausgestatteten Erdgeschoss. Dort arbeitet der Kabarettist Christoph Süß in Form eines 360°-Panoramafilms die bayerische Geschichte von den römischen Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches in fünf Episoden auf kurzweilig-humorvolle, aber wissenschaftlich fundierte Art auf.
Abb. 1: Ansichten des neuen Museums des Hauses der Bayerischen Geschichte in Regensburg am Donaumarkt
Copyright Frank Blümler
Die eigentliche Ausstellung erzählt die Geschichte Bayerns seit 1800 mit farbenreichen Zeitgemälden, die sich aus herausragenden Exponaten, pointierten Texten und vertiefenden Ausstellungseinheiten zusammensetzen. In ihnen werden wesentliche Ereignisse, charakteristische Phänomene und grundlegende Entwicklungsprozesse der jeweiligen Epoche anschaulich greifbar. Das chronologische Gliederungsprinzip ist das der Generation, unter dem hier jeweils fünfundzwanzigjährige Zeitabschnitte gefasst werden. Dieses Generationenmodell gliedert die Geschichte Bayerns seit 1800 in neun Abschnitte, deren erster die Gründungsgeschichte des Königreichs Bayern in den Jahren von 1800 bis 1825 rekonstruiert. Der zweite Abschnitt berichtet für die Zeit von 1825 bis 1850 von der staatlichen Konsolidierung des neuen Königreichs und den Bemühungen um die Konstruktion einer bayerischen Identität im Spannungsfeld von konkurrierenden Identitätsentwürfen auf regionaler und nationaler Ebene. Der dritte Ausstellungsabschnitt steht im Zeichen der Regentschaft und des tragischen Endes von König Ludwig II. Anschließend setzt sich der vierte Abschnitt mit der Geschichte Bayerns im industriellen Transformationsprozess während des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts auseinander. Die übrigen fünf Abschnitte verfolgen die Geschichte Bayerns von 1900 bis heute. Es geht um die Geburt des Freistaats Bayern aus der Katastrophe des Ersten Weltkrieges (1900–1925), um Bayern im Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und in der Besatzungszeit (1925–1950) sowie um "Wiederaufbau & Wirtschaftswunder" (1950–1975). Der achte Abschnitt behandelt die Geschichte Bayerns im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts unter dem Etikett "Wendejahre", bevor der letzte Abschnitt die bayerische Gegenwart seit 2000 reflektiert.
Quer zu diesem chronologischen Durchgang liegen acht "Kulturkabinette", in denen kulturelle Phänomene, die mit Bayern besonders verbunden werden, in ethnographischer Zusammenschau behandelt werden. Hier geht es um die Vielfalt der Dialekte, die Volksfestkultur und die Architektur in Bayern. In weiteren Kabinetten werden der Sport – mit starkem Fokus auf den FC Bayern München –, der Glauben, die Kultur, die Regionen und die Naturlandschaften Bayerns aufbereitet.
Abb. 2: 1876 entwickelte Carl Linde die erste Kältemaschine
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Die Dauerausstellung besticht durch eine Vielzahl herausragender Exponate, die, im großzügigen Museumsbau überaus effektvoll inszeniert, die bayerische Geschichte in ihrer ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit, in ihren Leistungen und Abstürzen anschaulich erfahrbar machen. So können Besucher den Prunkschlitten bewundern, den König Ludwig II. für seine geliebten nächtlichen Ausfahrten benutzte, oder die von Carl Linde erfundene Kältemaschine, die das bayerische Bier zu einem Exportschlager werden ließ. Zu sehen ist die durchschossene Pickelhaube Simon Gammels aus dem Ersten Weltkrieg, der diesen Kopfschuss überlebte. Ferner ausgestellt: die Schreibmaschine, auf der Mitglieder der "Weißen Rose" ihre Flugblätter schrieben, der von U.S.-Soldaten 1945 zerschossene Globus aus Adolf Hitlers Arbeitszimmer im Münchner "Führerbau", einer der ersten mobilen Eiswagen, mit dem italienische "Gastarbeiter" in den 1950er-Jahren den Münchnern Eis verkauften, und vieles andere mehr. Eines der eindrücklichsten Exponate ist zugleich eines der unscheinbarsten: ein mit letzter fanatischer Kraft ungelenk handbeschriebenes Pappschild mit der Aufschrift "Hier starb ein Saboteur", das dem von einem Standgericht zum Tode verurteilten Regensburger Domprediger Johann Maier bei seiner Hinrichtung am 23. April 1945 um den Hals gehängt wurde.
Abb. 3: Der Blick auf die Inszenierung zur NS-Diktatur zeigt unter anderem den Globus aus Hitlers Arbeitszimmer. Als Leihgabe der Bayerischen Staatsbibliothek ist er nun im Museum des Hauses der Bayerischen Geschichte in Regensburg zu sehen.
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Rundum gelungen ist auch die mediale Aufbereitung der Ausstellung. Die erläuternden Texte sind sachlich zuverlässig, verständlich geschrieben und gut lesbar angebracht. Einen Katalog im klassischen Sinne gibt es nicht, dafür aber einen in Form eines Magazins daherkommenden Museumsführer, der die wesentlichen Linien der in den einzelnen Abschnitten entworfenen Zeitbilder nachzeichnet und einzelne Exponate hervorhebt. Der für einen kleinen Aufpreis erhältliche Mediaguide ist weit mehr als nur eine Audioführung zu den einzelnen Exponaten, obwohl er auch das ist. Doch liefert er vielfältige Informationen und zusätzliches Anschauungsmaterial, die weit über das Ausgestellte hinausgehen. Gleichzeitig eröffnet der Mediaguide auch altersspezifische Zugänge und Erzählungen. In ganz neue Dimensionen des digitalen Museums stößt die dem Museum angegliederte Bavariathek vor. Sie umfasst ein Medienarchiv mit digitalisierten historischen Beständen, ein virtuelles Online-Museum sowie ein museums- und medienpädagogisches Programm, das in Kooperation mit Schulen und Universitäten interaktives und digitales Lernen vor Ort fördert.
Positiv hervorzuheben ist auch die Einbindung des Museums in die Regensburger Stadtlandschaft. Die fünf schon erwähnten Episoden des Eröffnungsfilms zur bayerischen Geschichte vor 1800 sind um fünf historische Monumente Regensburgs herum organisiert, die nach dem Museumsbesuch gleich noch mitbesucht werden können. Ein herausragendes architektonisches Merkmal des Museums ist ein Panoramafenster, das einen spektakulären Blick auf die Regensburger Altstadt und den sie überragenden Dom freigibt. Schließlich ist ein bayerisches Wirtshaus mit Biergarten Teil des Museums, das sich unabhängig vom Museum inzwischen zu einem ganz eigenständigen Teil der Regensburger Gastronomieszene entwickelt hat.
Nach so viel Lob nun einige Worte der Kritik. Da ist zum einen die generationelle Dynamik der Ausstellungschronologie. Sie ignoriert die komplexe wissenssoziologische Diskussion über Generation als Kategorie sozialer Selbstbeschreibung und Fremdzuschreibung komplett und stellt Generation rein positivistisch als eine soziale Tatsache dar. Ist das für sich genommen bereits ein Problem, so führt die aus der starren Generationenfolge generierte Periodisierung der bayerischen Geschichte zu einer Phaseneinteilung, die kaum nachvollziehbar ist. Warum die Jahre von 1800 bis 1825 eine historische Geschehenseinheit darstellen sollen, ist genauso unklar wie die Zusammenfassung der Jahre von 1900 bis 1925 unter "Weltkrieg und Freistaat" oder die von 1975 bis 2000 unter "Wendejahre".
Mein zweiter Punkt: Die Ausstellung erzählt eine Geschichte Bayerns, die ganz auf deren Besonderheit abhebt. Das deutet sich bereits im Titel der Dauerausstellung an, der da lautet: "Wie Bayern zum Freistaat wurde und was ihn so besonders macht." Das "Mia san Mia" wird zum Leitmotiv der hier museal präsentierten Geschichtserzählung, die, je näher sie in die Gegenwart vorstößt, auch zu einer Verlusterzählung wird, sodass am Ende gar die Frage aufgeworfen wird, ob die Bayern angesichts der sich nach 1975 beschleunigenden Globalisierungs- und Angleichungsprozesse überhaupt noch "mia san". Insgesamt bedient die Ausstellung viele stereotype Vorstellungen von Bayern, das hier wahlweise als Land des Bieres und der Volksfeste präsentiert wird, oder als Alpenidyll unter königsblauem Himmel, als katholische Bastion Deutschlands in einem leistungsfähigen administrativen Staat, als gelungene Synthese von Tradition und Moderne, irgendwo zwischen Laptop und Lederhose. Dabei kann die Ausstellung sich nicht so recht entscheiden, ob sie mit diesen Klischees brechen, mit ihnen ironisch spielen oder sie nicht vielmehr doch historisch unterlegen will. Es bleibt durchgehend in der Schwebe, ob der Mythos Bayern kritisch dekonstruiert oder historisch verifiziert werden soll. Wie dem auch sei, in jedem Fall zahlt die Ausstellung für ihre Konzentration auf die Alterität Bayerns einen Preis, denn dieser Ansatz verstellt den Blick auf die Geschichte Bayerns als Variation der Themen deutscher, europäischer und globaler Geschichte doch sehr.
Abb. 4: Bayern präsentierte sich auf der Weltausstellung 1893 in Chicago mit einer Mischung aus Tradition und Fortschritt. Der Nürnberger Elektropionier Sigmund Schuckert beleuchtete mit den größten Scheinwerfern der Welt die Gebäude der Weltausstellung in Chicago. Nicht viel später spielte das Schlierseer Bauerntheater in der US-Metropole bei seiner Amerikatournee regelmäßig vor ausverkauftem Haus.
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