Weder die Neulandhalle noch der Adolf-Hitler-Koog, in dem sie stand, dürften weit über die Grenzen Schleswig-Holsteins hinaus bekannt sein. Doch beachtenswert ist ihre Geschichte in jedem Fall, da die Neulandhalle ein Prestigeobjekt nationalsozialistischer „Lebensraum“-Planung war. 1935 wurde der frisch eingedeichte Koog in Dithmarschen mit großem propagandistischen Aufwand und in Anwesenheit Hitlers eingeweiht. Zugleich wurde der Grundstein für die Neulandhalle gelegt, die als Gemeinschaftshaus und „Ersatzkirche“ geplant, nach Plänen des Architekten Richard Brodersen gebaut und genau ein Jahr später eröffnet wurde. Die etwa 400 neuen Siedler, die den Koog bezogen, waren ausgesuchte Nationalsozialisten: Bauern, Landarbeiter und Handwerker mit ihren Familien. Nach nationalsozialistischer Lesart entstand hier eine mustergültige Volksgemeinschaft im Kleinen.
Seit den 1970er-Jahren befand sich in dem Gebäude und auf dem vier Hektar umfassenden Grundstück eine Jugendbegegnungsstätte des Kirchenkreises Dithmarschen. Als der Betrieb 2011 eingestellt wurde, entspann sich auf Landesebene eine jahrelange Diskussion darüber, was mit diesem Ort geschehen solle.1 2017 einigten sich das Land Schleswig-Holstein und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland darauf, das Gebäude zu sanieren und den Lernort mit einer Außenausstellung zu gestalten, der mittlerweile seit einem Jahr existiert.
Nun ist die Neulandhalle nicht der erste Ort nationalsozialistischer Selbstinszenierung, der zu einem Ort historisch-politischer Bildung umgestaltet worden ist. Im Gegensatz zu anderen Orten dieser Art wie dem „KdF-Bad“ Prora oder dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg verfügt die Neulandhalle allerdings nicht über deren gigantische Dimensionen, durch die Machtanspruch und -ausübung der Nationalsozialisten unmittelbar ersichtlich sind. Der Lernort konzentriert sich vor allem auf die Vermittlung zweier Konzepte, die gewissermaßen zum Kern der NS-Ideologie gehörten, nämlich „Volksgemeinschaft“ und „Lebensraum“. Er dürfte somit die erste Erinnerungsstätte sein, die den Versuch unternimmt, diese Konzepte in den Fokus ihrer Vermittlungsarbeit zu stellen.
Abb. 1: Die Neulandhalle wurde auf die zentrale Warft im damaligen Adolf-Hitler-Koog gebaut. Eine Warft ist ein künstlich aufgeschütteter Hügel zum Schutz vor Sturmfluten.
(Foto: Claudia Bade, 2019)
Der Lernort Neulandhalle teilt sich in zwei Hälften. Da ist die sanierte Neulandhalle selbst, die als großes Exponat zu verstehen ist. Sie kann normalerweise allerdings nur von außen betrachtet werden, eine Besichtigung der Innenräume ist jedoch im Rahmen von Führungen möglich. Im Garten des Gebäudes befindet sich die Ausstellung, gestaltet von Uwe Franzen (atelier hand-werk 2.0). Als Informationsträger dienen überlebensgroße Buchstaben, die zusammen die Worte „LEBEN“, „GEMEINSCHAFT“, „VOLK“, „RAUM“ und „UND“ bilden sowie zwei Buchstaben „S“. Alle Buchstaben sind jeweils auf der Vorder- und der Rückseite mit Texten, Fotos und Audiodateien versehen. Jedes Wort wiederum repräsentiert ein Kapitel des Ausstellungsthemas. Die beiden „S“ bilden Anfang und Ende der Ausstellung und enthalten die Einleitung, das Impressum und die für didaktische Zwecke wichtigen zwei Abschlussfragen der Ausstellungsmacher/innen („Wer sind heute die Anderen?“ und „Was hat das mit mir zu tun?“). Dabei ist es zu begrüßen, dass diese Fragen nach heutigen Inklusions- und Exklusionsmechanismen nicht nur am Ende der Ausstellung gestellt werden, sondern dass sie seit April 2020 zusätzlich als Verfremdungseffekte an den Fenstern im Turm der Neulandhalle zu finden sind. Die Konzeption und die Verantwortung für die Gestaltung des Lernortes lagen in den Händen der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History an der Europa-Universität Flensburg unter Leitung von Uwe Danker. Alle Texte und Bilder der Ausstellung sind auf der Website abrufbar. Bislang existieren weder pädagogische Materialien noch eine Ausstellungsbroschüre, all dies soll aber spätestens 2021 vorliegen.
Abb. 2: Blick auf die Neulandhalle mit einigen Stationen der Außenausstellung
(Copyright: Historischer Lernort Neulandhalle, Foto: Uwe Danker, 2019)
Das Konzept der Volksgemeinschaft und dessen Relevanz für die Untersuchung der NS-Gesellschaft ist in den letzten Jahren vielfach wissenschaftlich und publizistisch diskutiert worden.2 Doch die Nutzung dieses Konzeptes in Didaktik und Geschichtsvermittlung steht erst am Anfang. Grundsätzlich gelingt es den Ausstellungsmacher/innen gut, die dem Begriff „Volksgemeinschaft“ innewohnende Janusköpfigkeit auch in der Konzeption der Ausstellung umzusetzen. Insbesondere bei den Stationen VOLK und RAUM ist jeweils auf der Vorderseite der Buchstaben von den Inszenierungen und Verheißungen der Volksgemeinschaft zu lesen; auf den Rückseiten werden diese mit den Exklusionsmechanismen und der sozialen Praxis kontrastiert. Das erleichtert auch bildlich das Verständnis dieses in der Geschichtswissenschaft nicht unumstrittenen Begriffs: Zur Inklusion in die Volksgemeinschaft gehört immer auch die Exklusion anderer.
Abb. 3: Die Ausstellungsstationen GEMEINSCHAFT und LEBEN im Garten der Neulandhalle
(Foto: Claudia Bade, 2019)
Abb. 4: Die Ausstellungsstationen VOLK und RAUM im Garten der Neulandhalle
(Copyright: Historischer Lernort Neulandhalle, Foto: Uwe Danker, 2019)
Während sich die Stationen LEBEN und GEMEINSCHAFT mit Schleswig-Holstein, dem lokalen Beispiel Dithmarschen und der Neulandhalle auseinandersetzen, wird auf den Stationen VOLK und RAUM ein größerer Bogen gespannt: Hier wird die Volksgemeinschaft für das gesamte Reich vorgestellt. Dabei werden unterschiedliche Handlungsweisen während des NS-Regimes gezeigt, um die Dimensionen von Zustimmung zum Regime und Abwehr desselben zu verdeutlichen. Im Kapitel LEBEN wird der traditionelle Kampf der Dithmarscher gegen die Sturmfluten beschrieben sowie die Gewinnung von fruchtbarem Land durch Entwässerung und Eindeichung. Diese friedliche Form der Landgewinnung wurde von den Nationalsozialisten umgedeutet, mit militärischen Begriffen belegt und bereits zu einem frühen Zeitpunkt propagandistisch mit der Arbeitsbeschaffung und der nationalsozialistischen Siedlungspolitik verwoben. Die Station GEMEINSCHAFT stellt Dithmarschen als eine Kernregion des Nationalsozialismus vor, in der die NSDAP sehr früh große Erfolge erzielte. Hier werden vor allem die Planung und der Bau der Neulandhalle beschrieben. So waren an der Nordseite des Gebäudes zwei gewaltige, vier Meter große Statuen aufgestellt, die sogenannten Wächter, ein Soldat und ein Bauer, die Kampf und Arbeit symbolisieren sollten. Im Inneren der Halle, dem Versammlungsraum, wurden vier Fresken des Künstlers Otto Thämer angebracht, die das Landleben heroisierten. An der Stelle, wo in einer Kirche der Altar stehen würde, wurde ein Kamin erbaut, auf dem Schwert und Ähre als Symbol der „Blut und Boden“-Ideologie zu sehen sind.
Abb. 5: Die beiden Wächterfiguren an der Nordseite des Gebäudes. Oben am Turm die Insignien des NS-Regimes.
(Foto: Postkarte 1930er-Jahre)
Abb. 6: Die vier Fresken von Otto Thämer im Versammlungsraum der Neulandhalle, in der Mitte der Kamin mit Schwert und Ähre. In den 1970er-Jahren ließ die Kirche drei der vier Fresken entfernen. Heute ist nur noch das Wandbild links („Deichbau“) erhalten. Die anderen drei Bilder werden beim Besuch der Innenräume als verfremdete Rekonstruktion in schwarz-weiß auf die entsprechenden Wandstellen projiziert.
(Foto aus: Reinhold Stolze, Die Neulandhalle im Adolf-Hitler-Koog, in: Nordelbingen 12 (1936), S. 19)
An der Station VOLK wird anhand von Beispielen wie dem Winterhilfswerk und der Hitlerjugend gezeigt, wie Gemeinschaftserlebnisse „hergestellt“ wurden. Auf den Rückseiten der Buchstaben werden hier die als „Gemeinschaftsfremde“ Bezeichneten und der Widerstand der Wenigen thematisiert. Schließlich werden als Beispiele für Orte der Verfolgung das KZ Neuengamme, dessen Kommandant Max Pauly aus Dithmarschen stammte, sowie dessen schleswig-holsteinische Außenlager Ladelund und Husum-Schwesing vorgestellt. Bei der Station RAUM geht es vor allem um die NS-„Lebensraum“-Politik. Die Ausstellung zeigt hier speziell die Auswirkungen der Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik im Reichskommissariat Ostland sowie die Rolle des Reichskommissars und Gauleiters von Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse. Mit Lohse wird eine Person präsentiert, die für die „Lebensraum“-Planung sowohl im Koog als auch im Vernichtungskrieg verantwortlich war. So tauchten im Krieg im Baltikum dieselben Begriffe auf, mit denen zuvor im Koog Propaganda betrieben wurde.
Abb. 7: Ausstellungsstation VOLK, Detailansicht
(Copyright:Historischer Lernort Neulandhalle, Foto: Uwe Danker, 2019)
Die letzte Station der Ausstellung auf dem Wort UND beleuchtet die Nachkriegszeit in Schleswig-Holstein und im Koog. Dabei werden die wenig erfolgreiche Entnazifizierung in Schleswig-Holstein und der Umgang mit ehemaligen NS-Verfolgten thematisiert. Die britische Besatzungsverwaltung ließ die Wächter-Figuren vor der Neulandhalle entfernen. An die Stelle, an der sie gestanden hatten, brachten die Bewohner/innen des Koogs 1953 „Ehrentafeln“ für die gefallenen und vermissten Soldaten der Region an, auf denen teilweise auch SS-Dienstgrade verzeichnet sind. Außerdem stellten sie einen zwölf Tonnen schweren Findling in die Nähe der Tafeln und schrieben darauf „Unseren Kameraden 1939–1945“. Beide „Erinnerungszeichen“ sind auch jetzt noch an denselben Stellen zu sehen. In der Ausstellung wird auf die Problematik dieser Erinnerung eingegangen, doch leider gibt es keine Kommentierungen an den Tafeln bzw. am Findling selbst.
Abb. 8: Der Findling im Garten der Neulandhalle
(Foto: Claudia Bade, 2019)
Positiv hervorzuheben ist der offene Charakter der Ausstellung: Es gehört zum didaktischen Konzept, die Besucher/innen mit (rhetorischen) Fragen zu konfrontieren und sie zum Nachdenken zu animieren. Insgesamt gelingt es der Ausstellung, die Faszination des Nationalsozialismus und des „schönen Scheins“ (Peter Reichel) darzustellen und zu erklären, ohne sie zu reproduzieren.
Doch es bleibt eine gewisse Skepsis, ob die Ausstellung wirklich wie beabsichtigt bei sehr heterogenen Besuchergruppen für sich selbst spricht. Zufallsbesucher/innen ohne ausgeprägte zeitgeschichtliche Vorkenntnisse dürfte so manches Detail verborgen bleiben. Bedauerlich ist zudem, dass die Nachgeschichte des Nationalsozialismus in der Ausstellung etwas zu kurz kommt. Die Jahre des Beschweigens der Geschichte dieses Ortes auch durch die evangelische Kirche, die 1971 Eigentümerin des Ortes wurde, werden in der Ausstellung leider nur recht kurz gefasst. Der Lernort wird im Jahr 2024 evaluiert werden, dann soll es eine Einigung über die weitere Trägerschaft und Finanzierung geben. Die verdienstvolle Ausstellung wird ergänzt durch Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen in der Neulandhalle. Wünschenswert wäre, dass dies auch langfristig geschieht – Platz genug bieten die Innenräume.
Anmerkungen:
1 Zu diesen Debatten vgl. Uwe Danker, Volksgemeinschaft und Lebensraum. Die Neulandhalle als historischer Lernort, Neumünster 2014 (bes. S. 128–132). Als kritischer Blick auf das Projekt vgl. Harald Schmid, „Problemfall hinterm Deich“. Der „Historische Lernort Neulandhalle“ – Ein schleswig-holsteinisches Erinnerungsprojekt zur ‚Volksgemeinschafts‘-Ideologie, in: Detlef Schmiechen-Ackermann u.a. (Hrsg.), Der Ort der ‚Volksgemeinschaft‘ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018, S. 459-485.
2 Vgl. Frank Bajohr / Michael Wildt (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009; Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potential und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 1–17.