Mensch und Tier im Revier

Mensch und Tier im Revier

Veranstalter
Ruhr Museum / UNESCO-Welterbe Zollverein
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.07.2019 - 16.08.2020

Publikation(en)

Cover
Grütter, Heinrich Theodor; Stottrop, Ulrike (Hrsg.): Mensch & Tier im Revier. . Essen 2019 : Klartext Verlag, ISBN 978-3-8375-2102-3 303 S., 113 farb. Abb. € 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Breittruck, Historisches Institut, FernUniversität in Hagen / Historisches Institut, Universität Mannheim

So alltäglich, so banal, so lokal und so brutal: Eine Fotografie von Mäusen aus klinischen Versuchen jüngeren Datums sowie einige Mäusefallen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, zusammengestellt in einer Vitrine der Ausstellung „Mensch und Tier im Revier“ im Ruhr Museum in Essen, evozieren den Menschen als Nutznießer und zugleich Gegner dieser Tiere. Der Mäusekörper hat eine doppelte, jeweils prekäre Bedeutung: Er wird sowohl als nützlich gesehen, etwa in medizinischen Versuchen, wie auch als Schädling, ein seit Jahrhunderten die Nahrung des Menschen fressendes Lebewesen. Besagte Ausstellungsvitrine trägt den Titel „Tiere töten“ und zeigt einen der fünf Aspekte von Mensch-Tier-Beziehungen im Ruhrgebiet, um die es in der Schau geht, geleitet von Ulrike Stottrop (Ruhr Museum Essen) und dem Arbeitskreis „Mensch und Tier im Ruhrgebiet“ unter Gudrun Gersmann (Universität zu Köln), Heinrich Theodor Grütter (Stiftung Ruhr Museum) und Friedrich Jaeger (Kulturwissenschaftliches Institut Essen). Mit etwa 100 Objekten, ergänzt durch Foto- und Filmbeispiele, behandelt die Ausstellung große kulturwissenschaftliche Fragen der Mensch-Tier-Verhältnisse: „Tiere töten“, „Tiere nutzen“, „Tiere lieben“, „Tiere ordnen“ und „Tiere deuten“. In jeder dieser Abteilungen, denen jeweils ein bis zwei Vitrinen sowie ein Kapitel im begleitenden wissenschaftlichen Katalog zukommen, gibt es nochmal drei Unterthemen. Die Ausstellung im kleinen Format der Galerieschau will also viel auf kleinem Raum.

Und dies setzt sie auch konsequent um. Nicht nur die Vielfalt und die Ambivalenzen von Mensch-Tier-Beziehungen werden zum Thema. Vor allem zeigt die Ausstellung die Nähe zum Leben und Alltag der BesucherInnen. „Die Beziehung zwischen Mensch und Tier ist eine seit Jahrtausenden andauernde Machtgeschichte, die nahezu alle Lebensbereiche berührt – auch im Ruhrgebiet“, heißt es im Ankündigungstext des Ausstellungsflyers. Entsprechend beschäftigt sich die Präsentation, die in einem einzigen Raum des Ruhr Museums in der ehemaligen Kohlenwäsche der Zeche Zollverein stattfindet, mit den zeitübergreifenden Elementen der Mensch-Tier-Beziehungen. Dabei wird jedoch nicht unterstellt, dass diese Beziehungen immer gleichgeblieben seien. Vielmehr verleiht die Ausstellung jedem einzelnen Objekt historische Relevanz, indem sie daran aufzeigt, wie sehr Ernährungsweisen, Traditionen und Bewertungen der Mensch-Tier-Beziehungen einem Wandel unterworfen waren. Diese Erkenntnis bezieht sie sodann auf die Gegenwart und macht deutlich, dass gerade gestern noch akzeptierte vermeintliche Wahrheiten im Umgang mit Tieren teils heute schon fremd anmuten.


Abb. 1: Damenhandtasche mit Krokodilleder aus Südamerika, 1970er-Jahre. Der deutlich erkennbare Kaiman macht es für heutige Wahrnehmungen unmöglich, dieses ehemalige Luxusaccessoire zu tragen.
(© Ruhr Museum, Foto: Rainer Rothenberg)

Die aktuelle Erforschung der Mensch-Tier-Verhältnisse läuft mit dem Übertitel (Human) Animal Studies in mehreren geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereichen auf Hochtouren. So wird im Bayerischen Nationalmuseum in München derzeit die Freundschaft des Menschen zum Hund thematisiert.1 Die Galerieausstellung trifft mit ihrem Schwerpunkt auf jeden Fall einen Nerv der Zeit. Durch ihre lokale Verortung kann sie das Thema gut konkretisieren. Zudem wirft sie nicht nur auf das Tier, sondern immer wieder auch auf den Menschen einen forschenden Blick und schafft so eine Basis für neue Denk- und Handlungsweisen: Denn sie möchte doch, dass die BesucherInnen ihr Handeln reflektieren.

Zunächst zum Objektparcours: Zu Beginn, beim Betreten des Raumes, sieht man auf Augenhöhe und bis zum Boden reichend eine Dauerschleife mit Schwarzweißfotografien der 1950er- bis 1970er-Jahre, die das Leben von Menschen und Tieren im Ruhrgebiet zeigen. Hier finden sich die berühmten Brieftauben, die Ziegen und Kaninchen in den kleinen Gärten der Bergarbeiter, die Wellensittiche als Haustiere, ein Zirkusaffe, die Grubenpferde unter und über Tage (siehe Abb. 3) und viele mehr. Die Tiere dienten den damaligen BewohnerInnen des Ruhrgebiets zur Selbstversorgung, zur Arbeit, zum Vergnügen. Direkt auf der gegenüberliegenden Wand, am Ende des Galerieraumes, fällt das bildliche Pendant ins Auge. Dort erkennt man – aus der Gegenwartsfotografie – ästhetische Porträts von Tieren, die heute in der städtischen Wildnis des ehemaligen Reviers leben: etwa eine Libelle, einen Wolf, zwei Frischlinge, eine Französische Feldwespe, ein Rotkehlchen, auch eine vergrößerte Milbe. So markiert der Wandel der Fauna und ihrer menschlichen Wahrnehmung zugleich einen generellen Wandel des Ruhrgebiets.


Abb. 2: Blick in die Ausstellung mit dem Präparat des Braunbären „Max“ (1976–2003), der ehemals im Bochumer Tierpark lebte, und mit Porträts von tierischen Bewohnern des Ruhrgebiets. Die Zusammenschau zeigt, wie heute Tiere im ehemaligen Steinkohlerevier leben – und sterben.
(© Ruhr Museum, Foto: Rainer Rothenberg)

Die an den Wänden umherlaufende Vitrinenpräsentation ist bestückt mit Objekten aus dem eigenen Haus sowie zahlreichen Leihgaben regionaler Museen, Sammlungen, Vereine, Archive und aus Privatbesitz. Die lokale Provenienz unterstreicht die Thesen der Ausstellung wirkungsvoll. In ihrem kulturhistorischen Zugriff bezieht die Schau möglichst viele Lebensbereiche und Objekttypen ein, ist dadurch sehr abwechslungsreich und kann pointierte Kontraste zeichnen. Während in der ersten Abteilung „Tiere töten“ zum Thema Jagd etwa diverse Tötungswerkzeuge aus dem Westfalen des 19. Jahrhunderts, der Weihestein eines Bärenfängers aus dem 3. Jahrhundert nach Christus und ein Beschwerdeschreiben der Rheinlachsfischerei von 1925 angesichts verschmutzter Gewässer zu sehen sind, finden sich zum Aspekt der Schlachtung nicht nur ein in die Jahre gekommener Fleischwolf, sondern auch gefriergetrocknete Insekten aus einem Supermarktregal von 2019. Das Thema „Tiere nutzen“ vereint die winzigen Wägelchen eines Flohzirkus (Unterthema „Arbeit“) mit Produkten, die aus der Tiernutzung entstehen. So wird zum Beispiel gezeigt, dass zur Herstellung einer Pergamenthandschrift für die Essener Münsterkirche mindestens sechs verschiedene Tierarten beitrugen (Lederbezug vom Schwein, Pergament vom Kalb, Federkiel von der Gans, Pinsel aus Marderhaaren, Tinte dank der Gallwespe mit Knochenleim von Wirbeltieren; um 1370).


Abb. 3: Fotografie eines Grubenpferds auf Zeche Zollverein, Essen, um 1957
(© Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Karl Wieseler)

Der Abschnitt „Tiere lieben“ zeigt unter anderem Teddybären der 1940er- und 1950er-Jahre, den Igel „Mecki“ und die Vermenschlichung der Tiere in einem Äsop-Fabelbuch. Unter „Tiere ordnen“ finden sich Brenneisen, die, so der Katalog, heute noch in der Pferdekennzeichnung verwendet werden und in der Frühen Neuzeit Sklaven als Eigentumskennzeichen unter großen Schmerzen brandmarkten. Die Eulen-Sammlung einer Gelsenkirchenerin aus den 1970er-Jahren hat Platz in derselben Vitrine. Der Bereich „Tiere deuten“ bietet ebenfalls einen zeitlichen Querschnitt von der Antike über das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bis in die 2010er-Jahre; hier geht es um Alltag, Glaube und Politik. Ein Pferdeschädel, gefunden in einer Zeche in Castrop-Rauxel, veranschaulicht vorchristliche religiöse Tieropfer, und eine Medienstation gibt filmisch dokumentierte Tiersegnungen von 2013 zum Besten. Die Objekte sind sorgfältig ausgesucht, durchdacht und angeordnet. Dank knapper, aber informativer und stets mit Gegenwartsbezug versehener Texte gestaltet sich der Rundgang äußerst anregend und einleuchtend. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihres relativ begrenzten Raumes führt die schnelle Abfolge von Objekten verschiedener historischer Kontexte zu einer thesenorientierten, präzisen Pointierung. So werden der Wandel in den menschlichen Verhaltensnormen gegenüber Tieren und die Historizität der Vorstellungen deutlich.


Abb. 4: Blick in die Vitrine „Tiere deuten“
(© Ruhr Museum, Foto: Rainer Rothenberg)

Die Intention der Ausstellung ist es dabei nicht, das Deuten und Handeln des Menschen gegenüber dem Tier als reine Willkür abzutun. Zwar macht die dezidiert kulturhistorische, aus menschlicher Perspektive blickende Ausstellung ethische und politische Dimensionen überaus deutlich. Klar wird, dass der Mensch einerseits schon immer deutend, ordnend, nutzend, liebend und tötend das Tier unterwarf und daher andererseits – immer und überall – ebenso in jener Verantwortung steht, die häufig aus der biblischen Schöpfungsgeschichte (Genesis 1,26ff.) abgeleitet wird: Da Gott die Tiere dem Menschen Untertan gemacht hat, ist der Mensch zugleich für deren Wohl zuständig. Ebenso zeigt die Schau aber in historischer Dimension, dass es soziale, wirtschaftliche, kulturelle, politische Konstellationen sind, die ein bestimmtes menschliches Verhalten Tieren gegenüber evozieren. So ist es oft Wille, nicht immer aber Willkür, die den Menschen zu einem bestimmten Umgang mit Tieren brachte und bringt.

Damit gibt die Ausstellung auch Luhmanns Begriff der Autopoiesis statt, d.h. der Annahme, dass sich soziale Systeme selbst erhalten und sich soziale Verhältnisse nur durch Systemwandel ändern. So ist die Gegenüberstellung der Fotografien der 1950er- bis 1970er-Jahre mit den Tierporträts im Galerieraum zu deuten. Dieser Kontrast legt nahe, dass sich vor allem durch den Wandel der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Ruhrgebiet während der vergangenen Jahrzehnte die Nutzung der Tiere in mancher Hinsicht gewandelt hat. So werden Tiere heute ästhetisch fotografiert und nicht mehr in den Gärten von Arbeiterhäuschen zur Selbstversorgung gehalten.

Während der Objektparcours beeindruckend ist, fallen die Medienstationen mit zwei bis drei Film- und Fotobildschirmen leider dürftig aus. Zwar sind die neu eingesprochenen Aufsätze eines Schreibwettbewerbs für Kinder („Du und das Tier“, 1953) eine akustische Durchbrechung der visuellen Dominanz der Galeriepräsentation. Doch wären Stationen, die zum Beispiel Tierlaute und den Umgang damit zum Thema haben, durchaus möglich gewesen und hätten dem Interesse der aktuellen Forschung entsprochen.2 Auch die Haptik hätte – nicht nur museumspädagogischen Trends folgend – befriedigt werden können. Statt den ausgestopften Braunbären „Max“ aus dem Bochumer Tierpark, der 2003 starb und als museales Objekt für die Geschichte des Präparierens steht (siehe Abb. 2), mit dem Hinweis „Bitte nicht berühren“ zu versehen, hätte man in einer Hands-on-Station etwa mithilfe von Fellen, Häuten und verarbeitetem Gewebe die vielfältig erfahrbare Präsenz tierischer Materialien unter dem Aspekt „Tiere nutzen – Produkte“ hervorheben können.

Die Galerieschau ist Bestandteil eines Veranstaltungs- und Ausstellungsprogramms zu „Mensch und Tier im Ruhrgebiet“, das 2019/20 in Nordrhein-Westfalen vom gleichnamigen Arbeitskreis realisiert wird.3 Diese umfassende wissenschaftliche Aufbereitung für eine breitere und regionale Öffentlichkeit ist im Bereich der Animal Studies, nach der innovativen Ausstellung „Tierisch beste Freunde“ des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden von 2017/184, neu und bedeutsam. Das dazugehörige Vortragsprogramm weist eine beeindruckende Liste an Beiträgen renommierter WissenschaftlerInnen auf, die sich aktuell mit den Beziehungen von Menschen und Tieren befassen. Ebenso vielfältig wie die besprochene Ausstellung im Ruhr Museum ist auch diese Zusammenstellung. Interessierte dürfen sich also auf spannende Vorträge bis weit ins Jahr 2020 freuen. Sehr begrüßenswert ist auch, dass schon 2019 der teils recht elitäre Anspruch des Veranstaltungsprogramms mit kinderfreundlichen Angeboten wie der Vorstellung eines Kaninchenparcours oder einem Workshop zur Heuschreckenpräparation durchbrochen wurde. Der 300 Seiten starke Katalog zur Ausstellung verortet mittels einleitender Texte den Gegenstand im Forschungsfeld und weist dann zu den zahlreichen Abbildungen eingehende analytische Objektbeschreibungen auf. Somit dient die Publikation keineswegs nur der Ergänzung der Schau, sondern trägt darüber hinaus zur Erforschung der Mensch-Tier-Beziehungen in regionalgeschichtlicher, kulturhistorischer und methodischer Hinsicht einen wichtigen Baustein bei.

In der Ausstellung „Mensch und Tier im Revier“ fehlt zwar die didaktische Möglichkeit, sich auch haptisch und akustisch genauer mit dem Zusammenleben von Menschen und Tieren zu beschäftigen. Dies tut der Schau jedoch keinen Abbruch, die durch die hervorragende Auswahl, Platzierung und Erklärung der Objekte sowie die kluge Einordnung in größere Zusammenhänge sehr abwechslungsreich und punktgenau die vielschichtigen Spektren dieses Zusammenlebens darstellt. Sowohl der Rundgang als auch die Lektüre der Begleittexte sind intellektuelle und ethische Bereicherungen, die weder von den Animal Studies noch von der Politik übersehen werden sollten.

Anmerkungen:
1 Treue Freunde. Hunde und Menschen, Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum, München 28.11.2019 – 19.04.2020, https://www.bayerisches-nationalmuseum.de/index.php?id=1092 (08.01.2020).
2 Vgl. u.a. Marianne Sommer / Denise Reimann (Hrsg.), Zwitschern, Bellen, Röhren. Tierlaute in der Wissens-, Medientechnik- und Musikgeschichte, Berlin 2018; Eva Meijer, Die Sprachen der Tiere, Berlin 2018.
3 Siehe https://kulturwissenschaften.de/projekt/das-tier-als-objekt/ (08.01.2020).
4 Vgl. hierzu die Rezension von Andrew Wells, in: H-Soz-Kult, 05.06.2018, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-296 (08.01.2020).