Ali Kanatli kam 1964 aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland. Er begann sofort in der Ford-Motorenfabrik zu arbeiten, wo er 28 Jahre lang blieb. Ali hatte eine Frau und zwei Kinder in der Türkei zurückgelassen, und während der langen Trennung, bevor sie ihm nach Deutschland folgten, schickte er ihnen Fotos, Postkarten und sogar Sprachaufnahmen auf einem Kassettenrekorder, den er in Deutschland gekauft hatte. 1968 kamen schließlich seine Frau Kalime und die beiden Kinder zu ihm nach Köln.
Rosa Spitaleri, die ursprünglich aus Sizilien kommt, hätte nie gedacht, dass sie ihr Leben lang in Deutschland bleiben würde, als sie 1966 im Alter von acht Jahren mit ihrem Bruder nach Gremberg zog. Ihr Vater und ihre Mutter waren ein paar Jahre zuvor nach Deutschland gekommen mit der Absicht, genug Geld zu verdienen, um ein Haus in Italien zu bauen. Rosas Schicksal sollte anders sein. Nach der Schule absolvierte sie ein Universitätsstudium mit einer Abschlussarbeit zum Thema „Bilingualität und Identität der zweiten Generation“. Danach arbeitete Rosa bei der Caritas als Sozialarbeiterin und half den in der Bundesrepublik lebenden Italiener:innen in den verschiedenen Aspekten ihres Lebens.
Dies sind nur einige der Migrationsgeschichten, die in der Fotoausstellung „Vor Ort / In Situ: Fotogeschichten zur Migration“ präsentiert wurden. Die in Zusammenarbeit mit dem Kölner DOMiD (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland) realisierte Ausstellung zeigte private Fotografien von Migrant:innen in unterschiedlichen Situationen (bei der Arbeit, in Wohnheimen, bei Familienfeiern, auf Autofahrten oder Wochenendausflügen, bei politischen Veranstaltungen, in Kulturkreisen oder während der Ferien an ihrem Herkunftsort) und bot somit einen fotografischen Einblick in die bundesrepublikanische Migrationsgeschichte von den 1950er-Jahren bis Ende der 1980er-Jahre.
Der örtliche Hintergrund dieser fotografischen und visuellen Parabel ist die Stadt Köln, die in den 1970er-Jahren infolge der Familienzusammenführung und dem damit verbundenen demografischen Aufschwung sowohl Veränderungen im sozialen Gefüge als auch architektonische und städtebauliche Umgestaltungen ganzer Stadtteile, Straßenzüge und Quartiere erlebte, die von der Stabilisierung multiethnischer communities geprägt wurden. Diese Beziehung zwischen (Im-)Migration und Stadtentwicklung steht im Mittelpunkt des Vorhabens der beiden Ausstellungskuratorinnen, Elâ Kaçel und Barbara Engelbach. Sie wollten damit einen Beitrag zum museologischen Diskurs über die fotografische Selbstvisualisierung von Arbeitsmigrant:innen in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre leisten. Die Fotoausstellung versuchte die Frage zu beantworten, wie die fotografische Praxis zur Produktion visueller Erinnerungen der (Selbst-)Lokalisierungserfahrungen von Migrant:innen und somit zur Schaffung stadt- und ortsbezogenen Gedächtnisses durch fotografische und räumliche Bilder der Einzelnen beitragen kann (S. 32). Das Kuratorinnenteam arbeitete dafür direkt mit den Migrant:innen, die einerseits ihre Fotomaterialien für die Ausstellung zur Verfügung gestellt haben. Andererseits ließen sie sich interviewen und trugen damit aktiv zur Sammlung von relevanten Informationen bei.
Abb. 1: Einblick in die Ausstellung mit interaktiven Computerplätzen. Diese zeigten Videointerviews mit Migrant:innen und deren Biografien.
(Foto: Francesco Vizzarri)
Im ersten Teil wurde das „Ankommen (in Wohnheimen und Baracken)“ der Arbeitsmigrant:innen in der Bundesrepublik Deutschland thematisiert. Anstatt sich auf die (oft schwierigen) Reisebedingungen der Arbeiter:innen, auf die Aspekte ihrer Ankunft an ihnen bis dahin unbekannten Orten, auf die prekären und beklagenswerten Unterbringungsbedingungen in den so genannten „Baracken“ zu konzentrieren – alles Aspekte, die sowohl in der Geschichtsschreibung als auch im Museum ausgiebig analysiert worden sind –, haben sich die Kuratorinnen auf Momente der Zusammenkunft, der Sozialisierung, der Erholung und der Entspannung konzentriert. Wir sehen Migrant:innen beim Abendessen in den Gemeinschaftsküchen der Unterkünfte, beim Gitarren- oder Kartenspiel, kurz vor dem Schlafengehen, manchmal auch in intimen Momenten, beim Schreiben von Briefen oder beim Lesen von Postkarten aus der Heimat. Neben diesen individuellen und persönlichen Momenten zeigen uns die Fotografien auch Samstags- und Sonntagsausflüge aus der Stadt, Reisen und Urlaube, die die Arbeiter:innen oft in andere europäische Länder (Frankreich, Belgien und Luxemburg) unternahmen, und die Rückfahrten in die Türkei oder nach Italien.
Die Absicht, auf eine Darstellung von Migrant:innen ausschließlich als „Opfer“ des internationalen und insbesondere des europäischen Migrationsregimes der 1960er-Jahre zu verzichten, war auch im zweiten Teil der Ausstellung erkennbar, in dem einerseits die „Strategien der Verortung“ und andererseits das „Schaffen von Möglichkeitsräumen“ thematisiert wurden. In der Zeit nach dem Ende der „Rotation“1, als sich die ausländischen Arbeitskräfte für einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland entschieden, zeigen die Fotografien einen interessanten und (bisher) wenig untersuchten Aspekt, auch im historischen Kontext: die Lokalisierungsstrategien, die Mechanismen sowie die individuellen, sozialen und kulturellen Praktiken, durch die sich die Migrant:innen in die Orte der Ankunft einfügten, ihre Räume fanden und ihre Lebensstile sowie Gewohnheiten etablierten. Ziel war es auch in diesem zweiten Teil, die Perspektiven von Migrant:innen zu beleuchten und die Rolle der fotografischen Praxis in den Prozessen der Selbstbehauptung und Selbstdarstellung in verschiedenen Momenten des Alltags zu unterstreichen. Die Ansiedlung von Einwandererfamilien in der Bundesrepublik führte zur Entwicklung von ausländischen communities in deutschen Städten, die einen tiefgreifenden Einfluss auf den urbanen Wandel hatten. Während die Bundesregierung einerseits weiterhin darauf bestand, Deutschland als „Nicht-Einwanderungsland“ zu definieren, entwickelten andererseits viele Städte wie Hamburg, Köln, München, Frankfurt am Main und Stuttgart Konzepte und Programme zur Steuerung der Zuwanderung, um nicht nur „Ghettoisierungs“-Phänomenen in bestimmten Stadtteilen entgegenzuwirken, sondern auch die „räumliche“ Eingliederung von Migrant:innen, ihre kulturelle Assimilation und politische Partizipation auf unterschiedliche Weise sicherzustellen.2
Genau diese Aneignungsprozesse von städtischen kollektiven Räumen standen im dritten Ausstellungskapitel „Schaffen von Möglichkeitsräumen“ im Fokus. Dank Beiträgen von Kunstfotograf:innen (unter anderem Jörg Boström, Candida Höfer und Christel Fomm) wurde auch der sozio-kulturelle, urbane Strukturwandel in Köln zwischen den 1970er- und 1980er-Jahren thematisiert. Die Fotos zeigen beispielsweise die ersten türkischen Lebensmittelläden in der Weidengasse in Köln oder Migrant:innen vor dem Eingang des italienischen Kinos. Die Aufnahmen verdeutlichen die tiefgreifenden Veränderungen im städtischen Gefüge und unterstreichen die Rolle, die Migrant:innen bei diesem Wandel gespielt haben, sowohl in architektonischer und städtebaulicher als auch in sozialer Hinsicht. Neben dieser Fotoserie wurden auch die sozio-politische Mobilisierung und die Schaffung sozio-politischer Partizipationsmöglichkeiten erzählt. Zwischen Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre begannen die Migrant:innen, Kulturkreise, regionale Vereine und politische Organisationen zu gründen, nicht nur, um einen Ort der Begegnung, des Vergnügens und der Geselligkeit zu schaffen, sondern auch, um die eigenen Landsleute moralisch und materiell zu unterstützen und ihnen Ratschläge zum Beispiel zu Renten oder Gehaltsabrechnungen zu geben. Bemerkenswert sind die Fotos der ersten Kulturkreise der türkischen Gemeinde oder des ersten lokalen Vereins der PCI (Italienischen Kommunistischen Partei) in Köln. In den 1970er-Jahren spielten Migrant:innenvereine auch eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Orten der Sozialisierung, der Diskussion und des Austauschs. Sie trugen zur Überwindung sozialer und politischer Ausgrenzungen bei und bildeten transnationale soziale Räume für die Schaffung von (kulturellen und politischen) Mechanismen des Empowerments, der soziokulturellen Inklusion und der Integration.
Die soziale Dynamik der Selbstermächtigung wurde im vierten (und letzten) Teil der Ausstellung mit dem Titel „Geschichten von Selbstermächtigung“ thematisiert. Hier wurden Aspekte der sozialen und gewerkschaftlichen Mobilisierung dargestellt sowie die Entwicklung interkultureller Konfliktlösungsstrategien und -praktiken, die die ‚Gastarbeiter‘ in den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelt hatten. Eine lange Reihe von Fotos war den „Wilden Streiks“ der späten 1960er-Jahre gewidmet, an denen auch ausländische Arbeiter:innen, insbesondere aus der Stahl-, Metall- und Automobilindustrie, teilnahmen. Die ausdrucksvollen Fotografien der Ford-Streiks stellten aus fotografischer, ästhetischer und künstlerischer Sicht einen der Höhepunkte der Ausstellung dar.
Abb. 2: Foto- und Videoreproduktionen politischer Demonstrationen und Kundgebungen sowie verschiedener sozialer und kultureller Initiativen, die von italienischen und türkischen politischen Parteien und Vereinen im Köln der 1970er-Jahre organisiert wurden.
(Foto: Francesco Vizzarri)
Trotz einiger verbesserungswürdiger technischer Aspekte (die manchmal suboptimale Qualität der Fotos und die nicht immer gelungene Nutzung der Ausstellungsfläche) hat die Fotoausstellung ihre Ziele voll und ganz erreicht. Die Ausstellung konzentrierte sich auf die fotografische Praxis als Strategie der Selbstlokalisierung von Migrant:innen; sie beleuchtete Momente, Orte und Dynamiken, die spezifisch postmigrantisch sind und sich auf Bereiche des täglichen Lebens, der Familie und des sozialen Lebens beziehen, die bisher in Museen nur wenig vertreten waren. Dies erlaubt und hilft vor allem, die stereotypisierte Figur des Migranten zu dekonstruieren, die oft auf die Migrationserfahrung als Vertreibung und internationale Mobilität reduziert wird und somit den tiefgreifenden psychologischen und soziokulturellen Wandel ausblendet, den die Migrant:innen erlebten, aber den sie auch an ihrem Ankunftsort bewirkten. Die Ausstellung machte somit das gesamte Spektrum sozialer, politischer und gemeinschaftlicher Praktiken sichtbar, die Migrant:innen entwickelt haben, um Ausgrenzung und Diskriminierung zu überwinden, aber auch um soziale Räume der Zusammenarbeit und größere Prozesse der kulturellen und sozialen Integration zu schaffen. Die Tatsache, dass die Ausstellung die Aspekte des täglichen Leben der ausländischen Arbeitskräfte hervorhob, trägt sicherlich dazu bei, die (sowohl in der öffentlichen Meinung als auch in der Museologie immer noch weit verbreitete) Darstellung der Migrant:innen als „Objekte“ bzw. „Opfer“ des in den 1960er-Jahren entwickelten nationalen und internationalen Migrationsregimes zu dekonstruieren. Anstelle dieses Narrativs präsentierte die Ausstellung die Migrant:innen als aktive Subjekte bzw. Protagonist:innen der urbanen und gesellschaftlichen Transformationen im Köln der 1960er-Jahre.
Dieses Ergebnis ist nicht nur auf die erfolgreiche Arbeit der Kuratorinnen zurückzuführen, sondern auch auf die intensive Zusammenarbeit zwischen ihnen und den Migrant:innen, die in den Interviews die Möglichkeit hatten, die auf den Fotos dargestellten Situationen neu zu kontextualisieren, ihre Sichtweise, ihre Emotionen und Gefühle zum Ausdruck zu bringen und damit einen Diskurs über das kulturelle Gedächtnis der Einwanderung nach Deutschland zu entwickeln. Hierin liegt der interessanteste Aspekt der Ausstellung, in der Überwindung eines traditionellen „museologischen“ Ansatzes zugunsten einer Perspektive, die Migrant:innen als aktive Subjekte berücksichtigt, die auch am Prozess der Wiedererlangung der Erinnerung und deren Darstellung beteiligt sind. Durch diesen „partizipativen Ansatz“ hob die Ausstellung die Komplexität und Heterogenität der Migrationsgeschichte hervor und orientierte sich damit ganz an dem von mehreren deutschen Museen eingeschlagenen „richtigen Weg“3: eine neue Perspektive für die Migrationsgeschichte zu schaffen, die über eine rein (mono-)nationale Interpretation des Phänomens hinausgeht und stattdessen den multikulturellen, pluralistischen und postkolonialen Charakter der heutigen Gesellschaft berücksichtigt.
Anmerkungen:
1 Zum „Rotationsprinzip“ siehe Philip Zölls, Regieren der Migration. Von Einwanderungsprozessen und staatlichen Regulierungsproblemen, München 2019, S. 90.
2 Hierzu: Mark E. Spicka, City Policy and Guest Workers in Stuttgart, 1955–1973, in: German History 31 (2013), S. 345–365. Siehe auch Raika Espahangizi, Migration and Urban Transformations: Frankfurt in the 1960s and 1970s, in: Journal of Contemporary History 49 (2014), S. 183–208.
3 Vgl. Dietmar Osses / Katarzyna Nogueira, Representing of Immigration and Emigration in Germany’s Historic Museums, in: Cornelia Wilheilm (Hrsg.), Representations of Immigration and Emigration in Germany’s Historic Museums, New York 2018, S. 155-175, hier S. 168.