Das Verhältnis „der Deutschen“ zu „ihrem“ Wald ist zwar noch längst nicht auserzählt, in seinen kulturellen Grundzügen und romantisch-patriotischen Fluchtpunkten mittlerweile aber doch gut umrissen.1 Anders verhält es sich mit der schweizerischen Perspektive, die zumindest hierzulande, also in Deutschland, nur unzureichend bekannt ist. Offen ist etwa die Frage, ob sich die schweizerische Beziehung zum Wald von der deutschen maßgeblich unterscheidet, ob kulturelle Variationen oder vielmehr Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten festzustellen sind. Ohne den Anspruch, diesen Aspekt klären zu wollen, aber mit dem Ziel, der eigenen Bevölkerung und den Gästen das Mensch-Wald-Verhältnis unter dem Brennglas der schweizerischen Geschichte aufzuzeigen, ist derzeit die Ausstellung „Im Wald. Eine Kulturgeschichte“ im Landesmuseum Zürich zu sehen.
Die Beziehung des Menschen zum Wald ist komplex, ebenso die Auseinandersetzung damit. Besonders in historischer Perspektive ist der Wald ein „kulturelles Großthema“, wie Albrecht Lehmann und Klaus Schriewer schon vor gut 20 Jahren richtig feststellten.2 Ökonomische Fragen verbinden sich mit ökologischen (die bei genauer Betrachtung immer auch anthropologisch gelesen werden müssen). Daneben ist der Wald in der europäischen Zivilisationsgeschichte seit jeher Projektionsfolie für kulturelle Aufladungen unterschiedlichster Art und medialer Form. Die Bearbeitung dieses vielschichtigen Wechselverhältnisses gerät schnell zur Herkulesaufgabe, wenn die Gesamtheit des Beziehungsgeflechtes erfasst werden soll, anstatt einzelne Stränge herauszulösen und sie – im Gesamtkontext eingeordnet – mit Tiefenschärfe zu betrachten. Diesem Dilemma konnte schon 2011/12 das Deutsche Historische Museum in Berlin mit seiner Ausstellung „Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald“ nur bedingt Herr werden.3 Auch die Zürcher Ausstellung versucht sich an einem ganzheitlichen Blick, kann damit aber ebenfalls nur teilweise überzeugen.
„Genutzt. Gestört. Geschützt.“ – unter diesem griffigen Dreiklang will die Ausstellung, die von Pascale Meyer, Regula Moser und Noëmi Crain Merz kuratiert wurde, die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Wald am Beispiel der Schweiz dokumentieren. Die Präsentation bezieht sich damit auf die Angst um den Wald, die seit dem frühen 19. Jahrhundert an die Stelle der Angst vor dem Wald trat. Die Gründe für dieses neue Bewusstsein liegen unter anderem im devastierten Zustand der Wälder angesichts der wenig nachhaltigen Nutzung im vorangegangenen „hölzernen Zeitalter“ und des Energiehungers der Industrialisierung. Die Sorge um den Wald brachte neuartige Naturschutzkonzepte hervor; gleichzeitig gilt die Situation des Waldes bis in die Gegenwart als pars pro toto für Umweltzerstörung und Ressourcenverschwendung. Ideengeschichtlich eng damit verwoben, so die erweiterte These der Ausstellung, ist die Repräsentation des Waldes in der Kunst. Sie sei nicht nur Dokument einer spezifischen Umweltwahrnehmung, sondern habe das gesellschaftliche Bewusstsein für den Naturraum über ästhetische Vermittlungen diskursiv geprägt und gestaltet. Mit der Geschichte der Nutzung, der künstlerischen Verarbeitung und der Genese der schweizerischen Naturschutzbewegung versucht die Ausstellung, drei enorm umfangreiche und kulturhistorisch komplexe Linien zusammenzuführen. Beinahe zwangsläufig erlaubt dieses ambitionierte Programm nur ein kursorisches Vorgehen.
Abb. 1: Prolog: Ein lebensgroßer Buchenwald als Einstieg in die Ausstellung. Im Vordergrund ist Ferdinand Hodlers Gemälde „Der Holzfäller“ (1908) zu sehen.
(Foto: © Schweizerisches Nationalmuseum)
Die Ausstellung ist in mehrere Teile gegliedert, die unterschiedlich viel Raum erhalten: Prominent wird die Nutzung des Waldes als Ressource seit der Steinzeit dargestellt, danach wird die künstlerische Repräsentation im 19. und 20. Jahrhundert dokumentiert, bevor abschließend der Blick auf das vielseitige zeitgenössische Waldverhältnis gelenkt wird. Zu Beginn, als „Prolog“, wird ein heimischer Buchenwald lebensgroß und von Naturgeräuschen akustisch unterlegt auf die Wand der Eingangshalle projiziert. Der Einstieg simuliert die sinnlich-ästhetische Erfahrung des Waldes, die sich die industrialisierten, von der Dialektik aus Aufklärung und Romantik geprägten Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert kulturell aneignen konnten. Dieser Auftakt hat zweierlei zur Folge: einerseits eine emotionale, beinahe beruhigende Einstimmung auf die in dunklen Farben gehaltenen und angenehm indirekt beleuchteten Ausstellungsräume. Andererseits wird ein Bogen geöffnet, der sich ganz am Ende wieder schließt, wenn nach dem letzten Exponat erneut ein alter Baum im Buchenwald groß projiziert wird, diesmal allerdings als frisch gefällter und mit lautem Knarren vertont. Damit wird ein pädagogischer Impetus deutlich, der die gesamte Ausstellung durchzieht und der mehr will als nur wissenschaftliche Systematisierung. Vielmehr soll eine Sensibilisierung geschaffen werden für den Wald als Ökosystem, das vom Menschen ge- und übernutzt wurde. Die Zürcher Exposition ist somit weniger reine Dokumentation als vielmehr Teil eines gegenwärtigen, ökosensitiven Diskurses – ein durchaus legitimes und sinnvolles Unterfangen, zu dem man sich aber eine klarere Kommunikation im Begleitmaterial und in den Ausstellungstexten gewünscht hätte. Denn so steckt man als Betrachter:in etwas fest zwischen einer wissenschaftlich-objektiven Präsentation und der dann doch nicht mehr ausschließlich systematisierenden, stärker didaktischen Darstellung.
Abb. 2: Fällwerkzeuge aus dem 19. Jahrhundert, im Hintergrund Landschaftsmalerei jener Zeit
(Foto: © Schweizerisches Nationalmuseum)
Der erste und mit Abstand größte Teil firmiert unter dem Schlagwort „Abgeholzt“, das wie die weiteren Leitbegriffe in großen Buchstaben zu Beginn des jeweiligen Raumes die Besucher:innen auf die kommenden Exponate einstimmt. Der korrekten Feststellung folgend, dass die Geschichte des Waldes seit Menschengedenken auch immer die Geschichte seiner Abholzung war und ist, werden Ausstellungsstücke präsentiert, die die Ressourcengeschichte der Nutzung belegen. Daneben werden eigentumsrechtliche Fragen aufgeworfen („Wem gehört der Wald?“) und die Jagd als Praktik in ihrer historischen Entwicklung beleuchtet. Werkzeuge und Jagdwaffen aus der Alt- und Jungsteinzeit stehen hier neben römischen Tonamphoren und antiken Heizungen, die mit Holz betrieben wurden. Jagdtrophäen und Waldhörner werden um eine aufgrund ihres Alters und Zustandes beeindruckende Originalurkunde zur herrschaftlichen Waldnutzung aus dem Spätmittelalter ergänzt sowie mit Albrecht Dürers Holzstich „Apollo und Diana“ aus dem frühen 16. und Fällwerkzeugen aus dem 19. Jahrhundert komplettiert. Schon hier zeigt sich die heterogene Auswahl der Exponate, die bei der Betrachtung zwar für sich genommen von großem Interesse sind, in der Zusammenschau jedoch nur einen groben und beinahe willkürlichen Überblick geben – auch aufgrund der reichlich knappen Betextung.
Abb. 3: Die ersten Absolventen der Forstschule der ETH Zürich mit ihren Professoren, 1866
(Foto: Archiv Eidg. Forschungsanstalt WSL, Bildarchiv Knuchel-ETH, 1892–1952)
Die wenigen, aber spannenden Fotos der ersten schweizerischen Forststudenten (1866) und eines Holzfällers aus Vrin (1912) stechen heraus. Damit bekommt das Mensch-Wald-Verhältnis im Wortsinne ein Gesicht und wird sofort wesentlich griffiger als über die historischen Exponate zuvor. Sowohl als Zeitdokumente wie auch als fotografische Werke an sich zählen diese Bilder zu den interessantesten Exponaten der Ausstellung. Es ist dann etwas ärgerlich, dass bei der Beschreibung eines Plenterwaldes offenbar fachlich unsauber gearbeitet wurde. Der Plenterwald ist eine Bewirtschaftungsform, bei der über viele Jahre hinweg starke Bäume einzelstammweise entnommen werden. Dadurch entsteht ein äußerst strukturierter Wald in einem hochsensiblen Gleichgewicht. Allerdings werden bei einem Plenterwald Bäume nicht „gerodet“, sondern nur gefällt. Vor allem die Formulierung, ein Plenterwald erinnere stark an einen naturnahen Wald, ist irreführend, da die vertikale Plenterwaldstruktur in Primär- oder Naturwäldern kaum zu finden ist und eine falsche Vorstellung von naturbelassenen Wäldern suggeriert.
Der zweite thematische Block ist der Darstellung des Waldes in der Kunst gewidmet, wobei die Malerei den Schwerpunkt bildet. Der Erkenntnisgewinn liegt hier für ein schweizerisches wie deutsches Publikum eindeutig auf der Präsentation von Werken eher unbekannter schweizerischer Landschaftsmaler wie Conrad Meyer (1618–1689), Caspar Wolf (1735–1783) oder Wolfgang-Adam Töpffer (1766–1847). Deutlich wird, dass sich die dargestellte romantische Idyllisierung und gleichzeitige patriotische Aufladung des Waldes von den Waldsichten beispielsweise Caspar David Friedrichs oder Hans Thomas keineswegs signifikant unterschieden. Diese Darstellungen leisteten, hier wie dort, einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung der (bildungsbürgerlichen) Bevölkerung für den Wald als Ökosystem und wirkten mit an einem Bewusstsein, das den Wald emotional besetzte und als schützenswertes Gut vermittelte. Auch hier wird aber nur kursorisch aufgezeigt, wie unterschiedlich der Wald motivisch verarbeitet wurde. Neben den genannten Künstlern bietet „Im Wald“ mit je einem Exponat den Realismus eines Ferdinand Hodler, den Expressionismus eines Ernst Ludwig Kirchner und den Surrealismus eines Max Ernst. Obligatorisch und erwartbar endet dieser Ausstellungsteil mit dem Verweis auf Joseph Beuysʼ Kunstprojekt „Stadtverwaldung“, in dessen Rahmen 1982 zur documenta 7 in Kassel 7.000 Eichen im urbanen Raum gepflanzt wurden. Die Häufigkeit, mit der in solchen Kontexten auf Beuysʼ Projekt verwiesen wird, belegt einerseits dessen Wirkmächtigkeit, hält andererseits aber auch für ein nur mäßig vorgebildetes Publikum wenig Überraschendes bereit.
Beinahe pflichtbewusst wird dann die literarische Darstellung des Waldes abgearbeitet: mit einigen wenigen zur Ansicht ausliegenden Büchern, in denen der Wald inhaltlich eine Rolle spielt und die ohne weiteren Kontext oder Begründung der Auswahl präsentiert werden. Eine Stärke dieses Teils ist die Zusammenstellung von Wald-Bildern im Spielfilm des 20. und 21. Jahrhunderts. In kurzen Ausschnitten und mit Kopfhörern ausgestattet wird deren Vielseitigkeit in einem kleinen Séparée kompiliert. Hier findet man auch das, was man sich zuvor schon gewünscht hätte, nämlich klare Systematik: Mit dem Wald als Versteck in Andrej Tarkovskijs „Iwans Kindheit“ (1962), als Bedrohung in Lars von Triers Psychothriller „Antichrist“ (2009) oder als Sinnbild für Heimat im zweiten Teil von Peter Jacksons Fantasy-Epos „Herr der Ringe“ (2002) wird die genreübergreifende, variierende Motivik in der Filmgeschichte beispielhaft und eindrucksvoll belegt.
Abb. 4: „Beschützerinnen und Beschützer“ – ein eher ethnologischer Einblick in den Kampf schweizerischer Umweltschützer:innen des 19. und 20. Jahrhunderts um den Regenwald
(Foto: © Schweizerisches Nationalmuseum)
Die drei letzten Sektionen der Ausstellung fallen in Bezug auf den Umfang dann deutlich ab. In „Beschützerinnen und Beschützer“ wird der schweizerische Fokus insgesamt am deutlichsten. In Zusammenhang mit dem „neuen Waldbewusstsein“, das sich im frühen 20. Jahrhundert nicht nur in Deutschland, sondern eben auch in der Schweiz ausprägte, wird die Gründung von Schutzvereinen und -konzepten beleuchtet. Raum gegeben wird daneben den Biografien der berühmtesten schweizerischen Naturschützer:innen und Naturforscher:innen wie Paul Sarasin (1856–1929), Armin Caspar (1909–1991), Anita Guidi (1890–1978) und vor allem Bruno Manser (geb. 1954, Todesjahr unbekannt). Indem die Ausstellung hier Fundstücke, Tagebucheinträge und Fotos der Genannten vorstellt, löst sie sich von ihrem eigentlichen Fokus und erhält nun einen beinahe schon ethnologischen Charakter, allerdings ohne die westlich und kolonial geprägte Perspektive, die das Vorgehen von zumindest einem Teil der präsentierten Forscher:innen bestimmte, ausreichend zu würdigen oder gar zu problematisieren. In den Abschnitten „Der Wald heute“ und „Kunst für den Wald“ wird schließlich in Form eines kurzen Epilogs der gegenwärtige Waldzustand in der Schweiz aufgezeigt bzw. zeitgenössische Kunst dargestellt, die sich mit dem Wald befasst. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf schweizerischen Künstler:innen und Kollektiven, aber wiederum schafft die Präsentation der Exponate keinen tiefergehenden Zusammenhang.
Für forstlich, naturkundlich oder kulturhistorisch vorgebildete Besucher:innen hält die Ausstellung insgesamt nur wenig Neues bereit. Gleichwohl bietet sie Interessierten ohne größere Vorkenntnisse einen leicht verständlichen Einstieg in einen vielschichtigen Themenkomplex. Nicht zuletzt kann sie in pädagogischer Hinsicht als Teil der Klimadebatte helfen, die lange Geschichte rund um den Wald und dessen Nutzung besser zu verstehen. Damit macht sich „Im Wald“ für ein so sensibles wie schützenswertes Ökosystem stark. In der Frage nach kulturellen Verschiedenheiten zwischen einem deutschen und schweizerischen Waldbewusstsein lassen sich auf Grundlage dessen, was in der Ausstellung präsentiert wird, keine signifikanten Brüche feststellen, sondern vielmehr Gemeinsamkeiten und kulturhistorische Kontinuitäten – besonders im Hinblick auf die Romantisierung des Waldes und die Genese moderner Schutzkonzepte. Eine sich an diese Beobachtung anschließende und weiterführende Perspektive könnte beleuchten, inwieweit es sich bei der oft beschworenen Liebe „der Deutschen“ zu ihrem Wald tatsächlich um ein Alleinstellungsmerkmal handelt, bzw. ob diese Annahme nicht etwas zu eng gefasst ist.
Abb. 5: Ausstellungsplakat und Cover des Begleitbuches
(Foto: © Schweizerisches Nationalmuseum)
Sehr empfehlenswert ist das Begleitbuch: Das rund 120-seitige Werk im bibliophilen A4-Hardcover vereint Aufsätze aus unterschiedlichen Disziplinen – von Philosophie über Ökonomie bis hin zu Sozialanthropologie. Hier finden sich neben reichhaltigem Bildmaterial und einem gelungenen Layout vertiefende Texte beispielsweise zu Waldschutzkonzepten, dem Schaffen Bruno Mansers oder der Ausbeutung tropischer Regenwälder, getrieben von westlichen Märkten. Besonders lesenswert ist Stefan Zweifels Beitrag, der die ideengeschichtliche Bedeutung des aufklärerischen Multitalentes Jean-Jacques Rousseau nicht nur für die Romantik, sondern auch für unser gegenwärtiges Naturverständnis am Beispiel des Schweizer Waldes zeigt (S. 44–55). Indem der Sammelband den Fokus tatsächlich auf die Schweiz legt, löst das Buch ein, was die Ausstellung nicht immer zu leisten vermag. Somit handelt es sich um eine gelungene, durchaus anspruchsvolle Erweiterung des Präsentierten, die fachkundigen Leser:innen wie interessierten Laien fundiertes Wissen vermitteln kann.
Anmerkungen:
1 Siehe z.B. Johannes Zechner, Der deutsche Wald. Eine Ideengeschichte zwischen Poesie und Ideologie 1800–1945, Darmstadt 2016; Klara Schubenz, Der Wald in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Geschichte einer romantisch-realistischen Ressource, Konstanz 2020; Johannes Litschel, Rückzug und Freiheit. Der Wald als Raum für Muße in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Kontexte, Rahmenbedingungen und Formen einer spezifischen Waldwahrnehmung, phil. Diss. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau 2022, https://doi.org/10.6094/UNIFR/226251 (14.05.2022).
2 Albrecht Lehmann / Klaus Schriewer, Einführung, in: dies. (Hrsg.), Der Wald – ein deutscher Mythos? Perspektiven eines Kulturthemas, Berlin 2000, S. 9–19, hier S. 9.
3 Siehe https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/unter-baeumen/ (14.05.2022) und die Rezension von Susanne Kiewitz, in: H-Soz-Kult, 28.01.2012, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-156 (14.05.2022).