Wake up, Europe! Support and Solidarity Mobilizations Bosnia-Herzegovina

Wake up, Europe! Support and Solidarity Mobilizations Bosnia-Herzegovina

Veranstalter
Historisches Museum von Bosnien und Herzegowina, in Kooperation mit Memory Lab, mit Unterstützung des Goethe-Instituts Bosnien und Herzegowina, des Institut français Bosnien und Herzegowina und des deutsch-französischen Kulturfonds
Ort
Historisches Museum von Bosnien und Herzegowina, Sarajevo
Land
Bosnia-Herzegowina
Vom - Bis
20.10.2021 - 15.12.2021

Publikation(en)

Historisches Museum von Bosnien und Herzegowina (Hrsg.): Wake up, Europe!. Support and Solidarity Mobilizations for Bosnia and Herzegowina and its Citizens during the 1992–1995 War. digital 2021
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carl Bethke, Ost- und Südosteuropäische Geschichte, Universität Leipzig

Der Krieg 1992–1995 gegen Bosnien und Herzegowina und seine Verbrechen haben tiefe Spuren und bis heute nachwirkende Traumatisierungen hinterlassen. Die Folgen der Politik ethnischer Säuberung gelten inzwischen als Mahnung der Geschichte. Doch von einer bereits hinreichenden historischen Aufarbeitung kann keine Rede sein, weder mit Blick auf den Belgrader Militär-, Staats- und Parteiapparat, der für den Ausbruch des Krieges hauptverantwortlich war, noch hinsichtlich der Erforschung der zahllosen Verbrechen im Einzelnen.

Die Ausstellung in Sarajevo erinnert eingangs an die Enttäuschung vieler Bosnier über die Attitüde, mit der Politiker und Medien die Verbrechen in Bosnien und Herzegowina als „internen Konflikt“ abtaten, womit sie die massive Involvierung Rest-Jugoslawiens in die Kriege gegen seine Nachbarländer unterschlugen. Der zentrale Bereich der Ausstellung zeigt Versuche der Menschen in Sarajevo, die serbische Belagerung der bosnischen Hauptstadt mit Hilferufen und kreativer Kommunikation zu durchbrechen. Ins Auge fallen Plakate, Postkarten, Cartoons, Bilder der Zerstörung und von der Wahl zur „Miss belagertes Sarajevo“. Kultureinrichtungen, Wissenschaftler:innen und andere Institutionen richteten Briefe an Kolleg:innen und die „Bürger der Welt“, mit Bekenntnissen wie „Sarajevo is Europe“.

Wie antwortete „Europa“ auf diese Hilferufe? Gewidmet ist die Ausstellung den unterschiedlichen Formen und Inhalten der Solidarisierung mit den Menschen in Bosnien und Herzegowina. Zum Einstieg werden die Besucher:innen von den Ausstellungsmachern an vier Querschnittsthemen herangeführt: erstens die Verteidigung europäischer Werte, zweitens das historische „Nie wieder“, drittens die praktische Zusammenarbeit und die Begegnung mit den Bosnier:innen in Bosnien und in der Diaspora sowie viertens die Verstörung vieler Engagierter über die Indifferenz, gezeigt unter anderem anhand des Gedichtes „Sarajevo“ von Czesław Miłosz. Ein Foto zeigt das Transparent „Europa stirbt in Sarajevo“ von einer Demonstration 1993 in Hamburg; in der Ausstellung wird deutlich, dass dieses Motto in ähnlicher Form auch bei Demonstrationen, Postern, Texten und Spendenaktionen in Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien verwendet wurde. Den beigefügten Texten nach bedeutete es, dass es jene Werte zu verteidigen galt, für die der Europarat und die EU standen, an der Seite der Bosnier:innen, die sich darauf beriefen. Deutlich wird die Bedeutung der Zeitschrift Lettre, welche damals regelmäßig Texte von Autor:innen und Intellektuellen aus Bosnien und Herzegowina publizierte, die auch in der Ausstellung gezeigt werden. Erinnert wird auch an Proteste, welche das „Nie wieder“ als Lehre aus den NS-Verbrechen anmahnten, wie 1994 in Caen, mit Unterstützung der Widerstandskämpfer Jean-René Chauvin und Marek Edelman. „Wir müssen reagieren“, forderte 1994 der in der Ausstellung gezeigte Text der Gruppe „Studenten gegen Ethnische Säuberung“, denn: „Indifferenz ist Komplizenschaft“.


Abb. 1: „Indifference is complicity“
(Copyright: Historisches Museum von Bosnien und Herzegowina)

Zum Selbstverständnis vieler damaliger Aktivist:innen gehörte demnach, dass sich politische Solidarität nicht auf humanitäre Hilfe beschränken sollte. Vielfach war ihr Ausgangspunkt die Frage, mit welchen politischen, juristischen und ggf. auch militärischen Mitteln dem Krieg gegen Bosnien und Herzegowina, einem Mitgliedsland der Vereinten Nationen, entgegenzutreten sei und wie die massiven Verbrechen politischer und militärischer Führer bestraft werden könnten; insofern würde der Begriff des „humanitären Interventionismus“ die Motivation der Akteure kaum hinreichend abdecken. Gleichwohl schloss das Engagement sehr oft Kampagnen zum Beispiel für die Aufnahme und Unterstützung von Geflüchteten ein, wie die Ausstellung zeigt. Überlebenswichtig für die belagerten Menschen waren Spendensammlungen. Viele Organisationen entsandten eigene Konvois, etwa die „Polish Humanitarian Action“, einige spezialisierten sich (z.B. auf die Sicherung des Briefverkehrs). Für die Verbreitung von Informationen waren bestimmte Bücher von besonderer Bedeutung, unter den ausgestellten Titeln war dies besonders „Witness to Genocide“ von Roy Gutman. Neben Lesungen und Diskussionsveranstaltungen waren Demonstrationen für die Mobilisierung der Öffentlichkeit wichtig, etwa 1994 in Bonn mit 30.000 Teilnehmer:innen. Die Beispiele aus Stockholm, Barcelona, Paris, Wien, am Ort der Verhandlungen in Genf, oder vor den jugoslawischen Botschaften etwa in Madrid zeigen, dass dabei lange vor Srebrenica die Bedrohung der UN-„Schutzzonen“ häufig ein Thema war.

Als Beispiele für politische Intervention ehrt die Ausstellung Texte und Initiativen unter anderem von André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy, sowie die „Sarajevo-Liste“ zur Europawahl in Schweden 1995, die Initiative zur Aufhebung des UN-Waffenembargos gegen Bosnien im US-Kongress durch Bob Dole und Joe Liebermann, die Berichte des UN-Menschenrechtsbeauftragten Tadeusz Mazowiecki sowie die Arbeit der Grünen Europaabgeordneten Eva Quistorp (Hamburg) und Alexander Langer (Südtirol). „Keine Mauer durch Sarajevo“ forderte ein Flugblatt im Namen der Bürger:innen Berlins, eine Initiative aus Italien schlug 1995 die sofortige EU-Aufnahme Bosniens vor, was europaweit 530 Abgeordnete unterstützten. Für einen internationalen Aufschrei sorgten die vielen Vergewaltigungen von bosnisch-muslimischen Frauen insbesondere während der Besetzung des Landes im Frühjahr 1992 durch die jugoslawisch-serbische Armee. Sie dienten, so eine französische Solidaritäts-Gruppe, als Waffe und Mittel zur Vertreibung.1 Für Opfer sexualisierter Gewalt engagierte sich unter anderem Monika Hauser von „Medica Mondiale“ mit medizinischer und psychosozialer Hilfe vor Ort. Auch die wohl bekanntesten Initiativen im Kulturbereich werden in der Ausstellung gezeigt: Susan Sontags Theater-Inszenierungen im belagerten Sarajevo, der Film „Bosnia“ (Bernard-Henri Lévy), und das „Sarajevo Film Festival“ (seit 1993). Und man erfährt von vielen weiteren Beiträgen.


Abb. 2: Überblick über den Austellungsraum
(Copyright: Historisches Museum von Bosnien und Herzegowina)

In der Mitte des Ausstellungsraumes repräsentieren Stellwände ausgewählte Initiativen der Bosnien-Solidarität. Einige waren bereits zuvor in der Menschenrechtsarbeit aktiv, wie in Deutschland seit den 1970er-Jahren die „Gesellschaft für bedrohte Völker“. Eine Woche nach dem Genozid in Srebrenica errichtete die Organisation in Helmut Kohls Wohnort einen symbolischen muslimischen Friedhof, mit dem Banner: „Können Sie noch ruhig schlafen, Herr Kohl?“. Die „Initiative gegen den Krieg in Bosnien und Herzegowina“ in Münster entstand 1991, als dort lebende Kroat:innen die Anhänger:innen der Friedensbewegung aufforderten, sich zu engagieren. Erinnert wird unter anderem an eine Kampagne zur Aufnahme von 1.200 Flüchtlingen. Wie in diesem Fall entstanden viele Gruppen spontan aus neu gebildeten Diskussionszusammenhängen, allein in Frankreich gründeten sich 1992 bis 1995 300 Bosnien-Komitees. Als Beispiel werden die Aktivitäten der „Assemblée Européenne des Citoyens Nantes“ vorgestellt, die sich von 1992 bis 1997 an jedem Freitag auf einem Platz (von ihnen Sarajevo-Platz genannt) versammelten, um über Bosnien und Herzegowina zu informieren. In vielen Gruppen begünstigte die gemeinsame Haltung zu Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eine zentristisch-antitotalitäre und liberale Tendenz. Eine gewerkschaftliche, zum Teil trotzkistische Prägung zeichnete die „International Workers Aid“ aus, die über 30 Hilfstransporte nach Bosnien durchführte und dafür in der Arbeiterstadt Tuzla politische Anknüpfungspunkte suchte. Einen pazifistischen Hintergrund hatte das Projekt „Mir Sada“ („Frieden jetzt“): Bei zwei Friedensmärschen versuchten Hunderte Aktivist:innen aus Italien und Frankreich das eingeschlossene Sarajevo 1993 zu erreichen. Eine weitere Initiative war der Versuch, Sarajevo zur Kulturhauptstadt Europas 1993/94 zu erklären, um, so Pascal Bruckner, die Aufmerksamkeit auf das Wunder zu lenken, dass in Sarajevo unter den Umständen der Belagerung ein kulturelles und akademisches Leben weiterhin stattfand. Einige Initiativen unterstützten unter dem Motto „Gegen die Barbarei“ konkrete Partner:innen in Bosnien, zum Beispiel die Zeitung Oslobodjenje. Andere waren durch Projekte in spezifischen Arbeitsfeldern definiert, wie die deutsche Organisation „Schüler helfen Leben“, die bis heute besteht. Die Ausstellung macht die Besucher:innen mit Aktivitäten wie „Barcelona für Sarajevo“ oder „People in Need – SOS Bosnia“ aus Tschechien bekannt, und stellt auch die damalige Arbeit bosnischer NGOs vor, darunter das „International Peace Centre“ und das Festival „Sarajevo Winter“, 1994 zum Thema „Frieden“. In Serbien zählten die „Frauen in Schwarz“ zu den wichtigsten Widerstandsgruppen: Diese bis heute aktive Gruppe führte 1991 bis 1995 in Belgrad Mahnwachen durch und forderte ein Ende des Krieges gegen Kroatien und Bosnien-Herzegowina.

Der letzte und eher knappe Teil des Ausstellungsbereichs thematisiert Konflikte und Kontroversen. Als bedenklich galt, schon auf Grund des widersprüchlichen UN-Mandates, das Konzept und die Praxis „humanitärer Hilfe“: Handelte es sich nicht um ein bloßes Alibi, da zugleich über die Aufteilung des Landes verhandelt wurde? Auch über den Einsatz militärischer Gewalt zur Beendigung des Krieges bestanden unterschiedliche Positionen: „Rettet Goražde! Waffen für Bosnien!“ forderte 1994 eine französische Initiative.

Beim Hinausgehen fällt der Blick auf zwei Installationen der Künstlerin Selma Banich, die nach der Relevanz von Solidarität in der Gegenwart fragen: Zum einen werden Fotos von Flüchtlingen gezeigt, die auf der „Balkanroute“ ums Leben gekommen sind, und zum anderen die Beteiligung an einer Demonstration in Zagreb 2020, welche den Slogan „They can´t kill us all“ aus der Black-Lives-Matter-Bewegung aufgriff. In dieser Formel klingt zugleich eine bosnische Erinnerung an: Denn „Lasst nicht zu, dass sie uns alle töten“ war auch das Motto bei der Wahl zur „Miss belagertes Sarajevo“ 1993.

Die Ausstellung „Wake up, Europe!“ lief in Sarajevo bis Ende Dezember 2021, und es ist geplant, sie auch in anderen Städten Europas zu zeigen. Dem Autor:innenteam Elma Hašimbegović und Dina Memić (Kuratorinnen), Nicolas Moll (wissenschaftliche Recherche) und Samina Tanović (Design) ist eine nicht nur visuell ansprechende Ausstellung gelungen. Beachtlich ist auch die Quellenbasis, die auf Sammlungen von NGOs, Privatarchiven, Stiftungen sowie Leihgaben und Schenkungen aus vielen Ländern beruht. Die Ausstellung ist einem transnationalen, gesamteuropäischen, und authentisch demokratischen Erinnerungsort gewidmet, dem ein angemessener Platz im politischen Gedächtnis zu wünschen ist. Derzeit (bis zum 30. April) ist die Ausstellung in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin zu sehen.2


Abb. 3: Flyer der Ausstellung
(Copyright: Historisches Museum von Bosnien und Herzegowina)

Anmerkungen:
1 Landmark Cases, International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, https://www.icty.org/en/features/crimes-sexual-violence/landmark-cases (20.04.2022).
2https://calendar.boell.de/en/event/wake-europe?fbclid=IwAR2qc9PpMAlxxlGU-Y3cQrvHPjIup50R_yLt2rCCBNO4PbzEGBIQzk0XwcY (20.04.2022).

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