Seit rund 20 Jahren etabliert sich die Provenienzforschung als Suche nach NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern, Vermögensverlusten aufgrund von in der DDR und zuvor in der Sowjetischen Besatzungszone begangenem Unrecht sowie seit einiger Zeit auch im Zusammenhang der durch Kolonialherrschaften entwendeten Kulturgüter. Am Beginn stand die Suche nach NS-Raubgut in den Museen, angestoßen durch die internationalen Holocaust-Konferenzen der 1990er-Jahre, mit der Konferenz von Washington 1998 und deren Schlusserklärung als entscheidendem Impuls. Viele Museen in der westlichen Welt nehmen sich des Themas mittlerweile selbstverständlich an, aber der Nachholbedarf ist groß und der Zeitaufwand erheblich.
In dem Maße, wie Ressourcen für solche Forschungen bereitgestellt wurden, wuchs auch das Interesse der Museen, das Thema in Form von Ausstellungen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Seit Jahren ist eine große Zahl derartiger Ausstellungen zu beobachten. Allein 2022 wurden einer Dokumentation des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste zufolge in Deutschland, der Schweiz und Frankreich 15 Ausstellungen im Umfeld der Provenienzforschung eröffnet.1 Dazu gehört auch die Berliner Ausstellung „Spurensicherung“, die hier näher vorgestellt werden soll.
Inzwischen ist dabei ein Wandel der Themensetzung zu erkennen. Ging es bei den frühen Provenienzausstellungen oft darum, „gelungene“ Recherchen zu präsentieren, an deren Ende in der Regel die Restitution beziehungsweise eine Entschädigung und Verbleib der als Raubgut identifizierten Kulturgüter stand, handelte es sich also im Kern um „Restitutionsausstellungen“2, so steht mittlerweile zunehmend die Forschung selbst im Zentrum der Präsentationen. Darüber hinaus bewegen sich die Ausstellungen überwiegend zwar weiterhin im historischen Umfeld des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, doch wird das Spektrum auch hier zunehmend auf die kolonialen Kontexte und – in geringerem Maße – auf die Geschichte der Vermögensaneignung durch das SED-Regime erweitert.
Die Ausstellung der Berliner Akademie der Künste folgt beiden Linien, der Vermittlung der komplexen Recherchen sowie der Vielfalt von Themen, Fragen und Ergebnissen der Provenienzforschung. Hierzu wählten die beiden Kuratorinnen, Doris Kachel und Anna Schultz, verschiedenste Objekte und Objektgruppen aus den reichen Sammlungen der Akademie aus, die lediglich eine Gemeinsamkeit haben: dass sie Gegenstand der Provenienzforschung an der Institution sind. Die Auswahl erlaubt es, unterschiedlichste Werkgeschichten und neue Erkenntnisse vorzuführen, die alle durch die Erforschung der Provenienzen zutage kamen. Für jedes einzelne Objekt werden Recherchen und Resultate aufgefächert, sodass Besucher:innen einen profunden Einblick in die Forschung bekommen.
Abb. 1: Blick in die Ausstellung – links die Werkkartei von Otto Dix aus den 1960er-Jahren, in der Mitte das Bild „Tanzende Paare“ von Rudolf G. Bunk (1936, auf der Rückseite eines anderen Gemäldes von ihm), rechts das Gemälde „Schwarzer Pierrot“ von Fritz Erler (1908)
(Foto: Akademie der Künste, Berlin; © Andreas Süß, 2022)
Wenngleich bei der Mehrzahl der Recherchen an der Akademie der Künste (AdK) die Frage nach möglichem NS-Unrecht in der Provenienzkette im Vordergrund stand, kamen oft höchst überraschende Ergebnisse zutage, die mit der Ausgangsfrage nicht unmittelbar zusammenhingen, ohne diese aber kaum je entdeckt worden wären. So zeigte sich bei der Untersuchung des großformatigen Ölgemäldes „Schwarzer Pierrot“ von Fritz Erler, dass sich unter dem Bildmotiv ein anderes, bisher verschollen geglaubtes Werk des Künstlers verbarg. „Der Fechter“, der mit erhobenem Säbel gegen einen nicht sichtbaren Gegner antrat, war bei seiner Präsentation 1904 in Berlin und München bei der Kritik durchgefallen. Anlässlich eines Karnevalsfestes übermalte Erler 1908 den Fechter mit dem – auffälligerweise dunkelhäutigen – Pierrot, der nun statt des Säbels einen Blumenstrauß präsentiert (Begleitbroschüre zur Ausstellung, Covermotiv und S. 16f.; in der Ausstellung ergänzt um einen kritischen Kommentar zur dunklen Hautfarbe der traditionell weißgeschminkten Figur). Die Umstände, unter denen das Werk in die Sammlungen der AdK gelangte, blieben trotz der Recherche bisher unklar, ebenso wie der genaue Zeitpunkt der Erwerbung. Da der letzte nachgewiesene Eigentümer des Werkes die Münchner Moderne Galerie war (Heinrich Thannhauser) und Thannhauser 1934 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ums Leben kam, bleibt der Verdacht, es könne sich um einen NS-verfolgungsbedingten Vermögensverlust handeln, weiterhin bestehen.
Ein Beispiel für die Rückkehr von Kriegsverlusten in die Sammlungen der AdK ist die Geschichte zweier kleinformatiger Gemälde von Carl Blechen, „Tiberiusfelsen auf Capri“ und „Mühlental bei Amalfi“, beide aus dem Jahr 1829. Zum Schutz vor möglicher Zerstörung durch Luftangriffe hatte die Akademie die Gemälde 1943 mit zahlreichen weiteren in den Tresor der Neuen Reichsmünze Am Molkenmarkt bringen lassen. Dort wurden die Werke nach Kriegsende gestohlen. Sie tauchten erst 2018 im Berliner Kunsthandel wieder auf (Begleitbroschüre zur Ausstellung, S. 60f.).
Ein Schlaglicht auf die Methoden des SED-Regimes bei der Enteignung von privatem Kunstbesitz wirft dagegen die Geschichte eines Werkes von Hans Baluschek, „Matrosen in der Südsee“ (um 1890). Es stammt aus dem Nachlass des Malers Otto Nagel, der 1956 bis 1962 Präsident der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin gewesen war, und gelangte 1985 als Schenkung durch Nagels Tochter Sibylle in die Kunstsammlung der Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik (Begleitbroschüre zur Ausstellung, S. 92f.). Da diese Übereignung mit einer hohen Erbschafts- und Vermögenssteuerforderung des Finanzministeriums der DDR in Zusammenhang stand, besteht der Verdacht, dass die Schenkung nicht freiwillig erfolgte. Ein Antrag auf Rückübertragung wurde 1998 abgelehnt (Begleitbroschüre zur Ausstellung, S. 88).3
Es ist eine besondere Herausforderung des Genres Provenienzforschungsausstellung, die auf den ersten Blick oft wenig spektakulären Objekte, ihre komplexen Geschichten und die ebenso komplexen Recherchen für die Besucher:innen verständlich und nachvollziehbar zu präsentieren. Doch ist es damit nicht getan – in einer Ausstellung gilt es außerdem, eine schlüssige Gesamterzählung zu entwickeln und dafür Bilder und Räume zu entwerfen, in denen sich die Erzählung entfalten kann. Diese Herausforderung haben die Kuratorinnen zusammen mit der Gestalterin Hanna Dettner und etlichen weiteren Beteiligten auf wunderbare Weise gemeistert.
Abb. 2: Hinter fünf großen Papierschirmen verbergen sich unterschiedliche Objekte, die für das Spektrum der verschiedenen Provenienzen stehen – von „bedenklich“ bis „unbedenklich“, von kolonialen Bezügen bis zur NS-Herrschaft und zur Überlieferung in der DDR.
(Foto: Akademie der Künste, Berlin; © Andreas Süß, 2022)
Abb. 3: Im Vordergrund zu sehen ist die Kleinplastik „Springender Bock“ der Bildhauerin Renée Sintenis (Entwurf 1927, Bronzeguss 1950), den die Künstlerin dem DDR-Kulturminister und Akademie-Präsidenten Johannes R. Becher geschenkt hatte.
(Foto: Akademie der Künste, Berlin; © Andreas Süß, 2022)
Schon im ersten Raum entsteht ein eindrückliches Bild, indem ausgewählte Objekte zuerst als Schattenprojektionen auf großen Papierschirmen erscheinen. Erst bei der Annäherung von der Rückseite erkennen die Besucher:innen die tatsächliche Gestalt des jeweiligen Werks. Im wörtlichen und übertragenen Sinne werden diese Werke von verschiedenen Seiten beleuchtet. In der weiteren Abfolge gelingt es mit einem sehr konzentrierten Farb- und Formkonzept ohne besondere Inszenierung, den überwiegend kleinen Objekten in den großen Oberlichtsälen der Akademie am Pariser Platz Halt zu geben und eindrückliche Bilder für die Geschichten der Werke und für deren Erforschung zu finden. Mit den quadratischen Podesten und Papierschirmen des ersten Saals ist die Grundform eingeführt, der die Gestaltung durch die weiteren Säle folgt. So sind die frei im Raum platzierten Einbauten zur Präsentation der Objekte und auch die Sitz- und Studienmöbel quadratisch.
Abb. 4: Ausstellungsraum zur Geschichte der Akademie in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg. Die zersplitterten grünen Linien hinten rechts verweisen auf den Nachlass Walter Benjamins, zu dem es hier einige Objekte und eine Hörstation gibt.
(Foto: Akademie der Künste, Berlin; © Andreas Süß, 2022)
Ebenso konzentriert bleibt das Farbkonzept mit dem nüchternen Grau der Wände, einem helleren Grün als Farbe der Texttafeln und einem kräftigen Grün als visuelle Fassung der Objekte, die mitunter wie ein konzeptioneller Kommentar zur Werkgeschichte wirkt. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Präsentation der Bibliothek – oder vielmehr dessen, was davon übrigblieb – des Kritikers und Schriftstellers Alfred Kerr, der Deutschland bereits 1933 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verließ. Seine Sammlung umfasste einst 5.000 bis 6.000 Bände, darunter bibliophile und literaturhistorische Kostbarkeiten. Nur 88 Bücher sind bisher wiederaufgefunden worden – sie befanden sich im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin, die sie 2008 Kerrs Tochter Judith Kneale-Kerr übergab. Diese 88 Bände sind in der Ausstellung hinter Glas auf einem hoch oben angebrachten Regalboden zu sehen; die Titel können in einem ausliegenden Verzeichnis nachgeschlagen werden. Die fehlenden Bücher werden symbolisiert durch eine Linie, die sich in der Gesamtlänge der einst gefüllten Regalmeter mäandernd knapp unter der Decke beginnend über die Wand zieht, um bei dem Bord mit den verbliebenen Büchern zu enden, und so das bis heute Fehlende vor Augen führt.
Abb. 5: Wandinstallation zu Alfred Kerrs weitgehend verschwundener Bibliothek, die schätzungsweise 120 Regalmeter umfasste. Ein sozialgeschichtlich äußerst aufschlussreiches Inventarverzeichnis von Kerrs Villa, das 1950 im Kontext der Wiedergutmachung erstellt wurde und in der Ausstellung durchgeblättert werden kann, nennt eine „in ungefähr 40 Jahren zusammengetragene Bibliothek in deutscher, französischer, englischer, italienischer und spanischer Sprache“ – „Wert unschätzbar“.
(Foto: Ulrike Schmiegelt-Rietig)
In ähnliche konzeptkünstlerische Gestaltungen werden auch die anderen Werke eingebettet. Als Beispiele genannt seien zwei von Anna Dorothea Therbusch und Anton Graff gemalte Porträts aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, deren jeweilige Odysseen vor einer wandfüllenden Europakarte erscheinen, auf der die Orte und Wege ablesbar sind, oder auch Otto Nagels „Proletarisches Familienbild“ (1930/31), von dessen sieben Einzelbildern nur zwei überliefert sind. Die fehlenden Bilder werden an der Wand durch einfache leere Rechtecke ersetzt, die die Verluste vor Augen führen.
Abb. 6: Visuelle Darstellung zu den verschlungenen Wegen der beiden Gemälde von Anna Dorothea Therbusch und Anton Graff
(Foto: Ulrike Schmiegelt-Rietig)
Die ausgestellten Werke stammen aus den verschiedenen Sammlungsbereichen der AdK, den Kunstsammlungen, der Bibliothek und dem Archiv. Ganz nebenbei bekommen die Besucher:innen so einen Einblick in die Sammlungsgeschichte der Institution; sie erfahren, wie die Sammlungen der AdK entstanden und gewachsen sind, wie sie getrennt und wieder zusammengeführt wurden und auf welchen Wegen sie sich stetig vergrößern.
Das rätselhafteste und zugleich berührendste Objekt der Ausstellung ist eine Munitionskiste mit Lebenszeugnissen der Pianistin Ella Jonas-Stockhausen, die angeblich auf einer Papierdeponie gefunden und 2012 der Akademie der Künste übergeben wurde. Sie ist Sinnbild für die Situation der aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgten Künstlerin und gehört zu den Objekten, die im Eingangsraum hinter Papierschirmen gezeigt werden. Ella Jonas-Stockhausen war mit dem Chemiker Ferdinand Stockhausen verheiratet, einem Erben des Krefelder Chemieunternehmens Stockhausen & Cie. Das Ehepaar ist in der Provenienzforschung bekannt durch die mutmaßlich sehr umfangreiche Kunstsammlung Ferdinand Stockhausens, die dieser, wohl als Lebensversicherung für seine Frau, testamentarisch Hermann Göring vermachte. Die Sammlung wurde 1943 nach Schlesien ausgelagert und gilt seither größtenteils als verschollen. Das Ehepaar Stockhausen überlebte Verfolgung und Krieg in der weitgehenden Zurückgezogenheit der eigenen Wohnung in Berlin-Charlottenburg. Ella verstarb 1967. Erst ein halbes Jahrhundert später begann die Suche nach der verlorenen Kunstsammlung. Um diese Zeit wurde auch die Munitionskiste erstmals öffentlich gezeigt, in der AdK-Ausstellung „Uncertain States. Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen“ 2016/17.4
Die Kiste mit den Dokumenten aus Ella Jonas-Stockhausens Leben ist kein Kunstwerk. Es ist eine zufällige Ansammlung von Papieren, von der nicht einmal bekannt ist, wer sie in diese Kiste legte. Und doch zeigt das Objekt mehr als alles andere, worum es in der Ausstellung „Spurensicherung“ geht: zu verdeutlichen, dass die Werke eine Geschichte haben, die bestimmt ist von ihren Eigentümerinnen oder Eigentümern und deren Biographien, und dass es ein Erfolg der Provenienzforschung ist, wenn es gelingt, die Menschenschicksale zu rekonstruieren und sie ins Gedenken zurückzuholen.
Anmerkungen:
1 Siehe https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Recherche/AusstellungenProvenienzforschung/Index.html (06.01.2023).
2 Den Begriff prägte Reesa Greenberg, Restitution Exhibitions: Issues of Ethnic Identity and Art, in: Intermédialités / Intermediality 15 (2010), S. 105–117, https://doi.org/10.7202/044677ar (06.01.2023).
3 Zum Vorgang siehe auch Salka-Valka Schallenberg, Otto Nagel. Der Künstler – und sein Vermächtnis, in: Mathias Deinert / Uwe Hartmann / Gilbert Lupfer / Deutsches Zentrum Kulturgutverluste (Hrsg.), Enteignet, entzogen und verkauft. Zur Aufarbeitung der Kulturgutverluste in SBZ und DDR, Berlin 2022, S. 261–271. Die Autorin ist Nagels Enkelin.
4 Siehe https://www.adk.de/de/archiv/fundstuecke/index.htm?we_objectID=60374 (06.01.2023) und zur Ausstellung https://www.adk.de/de/projekte/2016/uncertain-states/ (06.01.2023).