Auf einer Landkarte Europas, die lediglich die heutigen Staatsgrenzen zeigt, hat das Kurator:innen-Team die Frage formuliert: „Welche Staaten sollen in Zukunft zur Europäischen Union gehören?“ Bei den handschriftlichen Antworten von Besucher:innen findet sich die unterstrichene Aussage „Wo das Christentum bleibt!“ Der Sinn ist nicht ganz eindeutig: Ist dies eine Kritik an fortschreitender Säkularisierung des „alten“ Europas, eine Kritik am wachsenden Einfluss anderer Religionen im EU-Europa oder auch eine Warnung vor bestimmten Erweiterungen der Union? Deutlich wird jedenfalls die Relevanz und Brisanz des Themas „Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee“. Die Ausstellung wurde von Felicitas Heimann-Jelinek, Michaela Feurstein-Prasser und Hanno Loewy kuratiert und ist bis zum 29. Mai 2023 im Jüdischen Museum München zu sehen. Zuvor wurde sie im Jüdischen Museum Hohenems gezeigt (04.10.2020 – 03.10.2021) sowie im Volkskundemuseum Wien (21.01. – 18.04.2022).
Die Ausstellung versteht sich als eine Kritik an den „illiberalen Demokratien“ und als einen Akt des Widerspruchs gegen die Akzeptanz neoliberalen Wirtschaftens, gegen das Ausspielen des Nationalen zulasten des Gemeinsamen sowie gegen diejenigen, die das Projekt und die Vision Europa zerstören wollen, wie auch aus dem Titel der Ausstellung hervorgeht. Dabei begibt sie sich auf die Suche nach den „Fundamenten einer gemeinsamen Vision, nach den Wurzeln des europäischen Traums, nach jenen Ideen, welche die EU zu einer zukunftsfähigen Gemeinschaft machen sollten und vielleicht noch immer könnten“ (so die Herausgeber:innen im Begleitband, S. 12).
Betreten die Besucher:innen den ersten Raum, so werden sie mit der europäischen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und den von Europa und den Europäern verübten Gewaltverbrechen und Gräueltaten sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas konfrontiert. Die Medieninstallation visualisiert anhand von rechts und links im Raum angebrachten Leinwänden die Massenverbrechen in Form von historischem und zeitgenössischem Foto- und Filmmaterial. Themen sind dabei Krieg und Genozid, Antisemitismus, koloniale und rassistisch motivierte Gewalt, Sklaverei, Gewalt gegen Kinder und Frauen sowie Terrorismus. An der Wand gegenüber dem Eingang wird die Geschichte dieser Gewaltverbrechen chronologisch aufgelistet, beginnend mit „1888–1908: Den von der belgischen Kolonialmacht begangenen Kongo-Gräueln fallen ca. zehn Millionen Kongolesen zum Opfer“ über die Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Zweiten Weltkrieg (mehr als 50 Millionen Tote) sowie der Schoa (ca. 6 Millionen ermordete Jüdinnen und Juden). Die Auflistung endet mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit dem 24. Februar 2022, reicht also über das 20. Jahrhundert hinaus in die Gegenwart. An 21 schwarzen Stäben ist vor einem Leinwandtryptichon auf der linken Seite eine digitale Anzeige angebracht, die die Todesopfer von europäischen Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert herunterzählt – beginnend mit 125.300.000 –, bis sie zum Ende der Ausstellungslaufzeit von der Anzeige verschwunden sind.
Abb. 1: Ansicht des ersten Raums mit einem Tryptichon, das die europäischen Gewaltverbrechen des 20./21. Jahrhunderts visualisiert, sowie mit der rötlich leuchtenden digitalen Anzeige der Opferzahlen
(Foto: Eva Jünger / Jüdisches Museum München)
Beim Betreten des zweiten Ausstellungsraums (und damit auch des zweiten Stocks) eröffnen sich den Besucher:innen an der linken Wand Fragen zu den vielfältigen Konzepten und Ideen Europas, die im weiteren Verlauf der Ausstellung vertieft und diskutiert werden: „Was wäre, wenn wir gefragt würden, was für uns Europa ist? Wie wollen wir Europa definieren? […] Ist es die Summe einzelner Nationalstaaten oder auch eine historisch-kulturelle Einheit? Gibt es so etwas wie einen europäischen Wertekanon?“
Abb. 2: Eine Europa- und eine Weltkarte bieten den Besucher:innen die Möglichkeit, sich mit bestimmten Fragen schriftlich und bildlich auseinanderzusetzen, etwa zu den Grenzen Europas.
(Foto: Eva Jünger / Jüdisches Museum München)
Auf einer Leinwand unter dem Titel „Wie groß ist Europa?“ befinden sich eine Weltkarte und eine Karte Europas. Hier können sich die Besucher:innen interaktiv mit folgenden Fragen beschäftigen, wie eingangs schon erwähnt: „Welche Staaten sollen in Zukunft zur Europäischen Union gehören?“ „Was ist für Dich/Sie Europa?“ Die große Zahl an bildlichen und schriftlichen Antworten verdeutlicht das rege Interesse. Der Ausstellungsraum wird von Leinwänden gesäumt, auf die Videos projiziert werden: links eine wehende europäische Flagge, rechts eine ruhig plätschernde Wasseroberfläche, vermutlich des Mittelmeers. Auf der Rückseite befindet sich die Installation „Letzte Europäer?“ des Künstlers Arnold Dreyblatt (geb. 1953 in New York), in der er Zitate überwiegend jüdischer Intellektueller sichtbar macht, die sich in den vergangenen 20 Jahren mit Europa-Ideen beschäftigt haben, ergänzt um ältere Textpassagen des Esperanto-Begründers Ludwik Lejzer Zamenhof (1859–1917). Die Technik des Lentikulardrucks ermöglicht es, verschiedene Textebenen auf Deutsch, Englisch und Esperanto so übereinanderzulegen, dass je nach Perspektive Unterschiedliches lesbar und die Mehrstimmigkeit visuell erfahrbar wird.1
Abb. 3: Die Installation „Letzte Europäer?“ des Künstlers Arnold Dreyblatt macht Zitate europäischer Ideen jüdischer Intellektueller in den Sprachen Deutsch, Englisch und Esperanto sowie deren Überlagerung sichtbar.
(Foto: Eva Jünger / Jüdisches Museum München)
Im Zentrum des Ausstellungsraums gibt es acht Stationen, jeweils mit Vorder- und Rückseite, die sechzehn verschiedene Perspektiven und Fragen zum übergreifenden Thema verhandeln. Jede Station bietet Informationstexte, wird rechts und links von einer entsprechenden Fotografie zur Visualisierung der Teil-Thematik gesäumt und enthält im unteren Bereich ein Video, das ein Gespräch zwischen einem Mitglied des Kurator:innenteams und einem Experten oder einer Expertin zum jeweiligen Thema zeigt.
Abb. 4: Ansicht des zweiten Ausstellungsraums mit Aufstellern, die sechzehn Perspektiven auf das Projekt Europa sowie die Beiträge von Jüdinnen und Juden dazu verhandeln
(Foto: Eva Jünger / Jüdisches Museum München)
Unter der Überschrift „Das ‚Andere‘ Europas“ werden in einer dieser Stationen die bedeutenden Beiträge jüdischer Wissenschaftler:innen zur Disziplin der Orientalistik bzw. der Islamwissenschaft erläutert, die sich besonders im 19. Jahrhundert in Europa etablierte. Maßgeblich beteiligt waren viele Vertreter:innen der Wissenschaft des Judentums, darunter Abraham Geiger (1810–1874). Diesen Vordenkern folgten etwa der zum Islam konvertierte Islamwissenschaftler Lew Nussimbaum (1905–1942; ab 1922 nannte er sich Essad Bey) oder Hedwig Klein (1911–1942), die in Auschwitz ermordet wurde. Dem wissenschaftlichen Interesse für den Islam und der exotisch motivierten Faszination für den „Orient“ entgegengesetzt, wird der Islam heute, so die Kurator:innen der Ausstellung, in Europa vor allem als Feindbild betrachtet, als Gegenentwurf zum „christlich-jüdischen Abendland“ und ewiger Widerpart Europas. Gesäumt wird der Text links von einer historischen Portraitaufnahme Lew Nussimbaums (1923) sowie rechts von der Fotografie eines islamfeindlichen Mottowagens beim Düsseldorfer Karnevalsumzug (2007). Weiterhin ist in der Videoaufnahme ein Interview zwischen dem Kurator Hanno Loewy und dem britischen Philosophen Brian Klug zu sehen und zu hören: „‚Andere‘ – innen und außen. Europa und das Erbe von Kolonialismus und Antisemitismus“. Jüdinnen und Juden galten und gelten in Europa als das innere „Andere“, als eine Art Kontrastfolie, gegen die sich Europa abgegrenzt und definiert hat, so Klug.
Der Themenkomplex „Christlich-jüdisches Abendland“ wird in einer weiteren Station verhandelt, unter anderem mit dem Hinweis, dass jüdische Gemeinden in Europa teilweise wesentlich älter seien als das Christentum, wurde die Christianisierung doch erst im Mittelalter abgeschlossen. Die Kurator:innen sprechen das kritische Verhältnis des Katholizismus gegenüber dem Judentum an sowie das Verhalten der Kirchen im Allgemeinen und im Hinblick auf eine Mitschuld an der Massenvernichtung von Jüdinnen und Juden während der NS-Zeit. Weiterhin werten sie das verbreitete Schlagwort vom „christlich-jüdischen Abendland“ als politischen Kampfbegriff, insbesondere zur Mobilmachung nationalistischer rechter Gruppen gegen Minderheiten und speziell gegen den Islam.
Weitere Themenkomplexe, denen sich die Ausstellung und die einzelnen Stationen widmen und die auch in der Begleitpublikation aufgegriffen werden, sind unter anderem Grenzen, Sprachen, Menschenrechte, Erinnerungskultur, soziale und ökologische Fragen, Konzepte und Ideen Europas sowie damit verbundene zentrale jüdische Persönlichkeiten und deren Beiträge zu Europa als Idee und Praxis: etwa die Sozialistin Rosa Luxemburg mit dem Text „Von der Freiheit der Andersdenkenden“, Walther Rathenau und „Die Idee Europa“, die „europäische Präsidentin“ Simone Veil, „Ludwik Lejzer Zamenhof und die Sprache der Menschheit“ oder Simon Wiesenthal zu „Niemals vergessen“. Darüber hinaus finden sich Interviews mit jüdischen Wissenschaftler:innen und Persönlichkeiten wie dem deutsch-französischen Publizisten und Politiker Daniel Cohn-Bendit zum Thema „Eine europäische Sozialunion? Was man aus Griechenland lernen kann“, dem Historiker Michael Miller zu „Pazifismus und die Paneuropäische Union“ oder der Kulturwissenschaftlerin Liliana Feierstein „Über Esperanto als jüdische, europäische und internationale Sprache“.
Die großen Fragen rund um das Thema Europa sind hochaktuell und brisant. Heute stehen Ideen, Konzepte, Werte und Grenzen Europas (wieder) auf dem Prüfstand, sei es durch die Neubewertung von Gewaltereignissen des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Kolonialverbrechen und der Massenvernichtung europäischer Jüdinnen und Juden während der NS-Herrschaft, durch aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen, die sogenannte Flüchtlingskrise, die Corona-Pandemie und wieder aufflammenden Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Gerade vor diesem Hintergrund erscheinen jüdische Perspektiven sowie die vielfältigen Beiträge europäischer Jüdinnen und Juden zu Europa als liberaler Idee ausgesprochen relevant. Denn Menschen jüdischer Herkunft wie Hannah Arendt, René Cassin, Hersch Lauterpacht, Raphael Lemkin und viele andere haben stets den europäischen Traum mitgeträumt und maßgeblich mitgestaltet, nationale und kulturelle Grenzen überschritten, sich für die universelle Geltung der Menschenrechte eingesetzt und diese nicht nur eingefordert, sondern konkret mitformuliert und kodifiziert – vor, während und nach der Schoa.
Hier knüpfen die Kurator:innen an und möchten mit der Ausstellung einen Ort für Debatten eröffnen: über die reale und ideelle Substanz Europas in seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; über frühere Konzepte und neue Chancen. Europa kann mehr sein als ein defensives und exklusives Bündnis von Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen. Dabei ist es den Kurator:innen durch die Wahl der Themen, Perspektiven und Gestaltungselemente gelungen, über das freiheitliche Potential Europas ebenso zu reflektieren wie über das Potential an Ausgrenzung, Antisemitismus und Rassismus. Europa ist aus der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts erwachsen, aber auch maßgeblich verbunden mit Träumen, Ideen und Konzepten des menschlichen Miteinanders. An welche Geschichten soll das Europa der Zukunft also anschließen? Wer wird sie erzählen und gestalten?
Anmerkung:
1 Siehe das Interview mit Dreyblatt unter https://blog.juedisches-museum-muenchen.de/arnold-dreyblatt/ (22.04.2023) sowie die Begleitbroschüre zur Kunstinstallation unter https://www.juedisches-museum-muenchen.de/fileadmin/redaktion/02_Ausstellungen/Die_letzten_Europaeer/ArnoldDreybllatt_LetzteEuropaeer.pdf (22.04.2023).