Die Letzten ihrer Art. Handwerk und Berufe im Wandel

Die letzten ihrer Art. Handwerk und Berufe im Wandel

Veranstalter
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
Veranstaltungsort
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
PLZ
53113
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.12.2022 - 02.04.2023

Publikation(en)

Cover
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Die Letzten ihrer Art. Handwerk und Berufe im Wandel. Bonn 2022 : Walther König 120 S., ca. 60 Abb. € 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Holtwick, DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund

Um was geht es? Die von Henriette Pleiger kuratierte Ausstellung der Bundeskunsthalle macht die Antwort schwer. Der Titel spricht von „Handwerk und Berufen“. Der Einleitungstext nennt dann auch noch „Professionen“. Für alle Begriffe bleibt die präzise Definition ebenso unklar wie das, was sie verbindet. Im Ausstellungsraum und im Begleitbuch finden sich die Überschriften „Bäcker:in“, „Schneider:in“, „Bergmann“, „Kassiererin“, „Schriftsetzer:in“.1 Der Einleitungstext bezeichnet alle fünf als „gefährdete Professionen“, denen das Verschwinden drohe. Dabei fallen zumindest „Schriftsetzer:in“ und „Bergmann“ aus dem Rahmen, da es beide Berufe in Nordrhein-Westfalen (dem räumlichen Bezugsrahmen der Ausstellung) nicht mehr gibt – die Bergleute seit wenigen Jahren, die Schriftsetzer:innen seit einer Generation nicht mehr. Gleichzeitig will die Ausstellung aber den „beruflichen Wandel“ darstellen. Es finden sich also „Professionen“, „Berufe“ und das „Handwerk“ (oder sind mehrere Handwerke gemeint?), die sich wandelten oder wandeln werden, die verschwanden oder möglicherweise verschwinden werden. Als Auslöser der Veränderungen nennt die Einleitungstafel die „Industrialisierung“ in der Vergangenheit und – als beschleunigend bewertet – die „Globalisierung“ und die „Digitalisierung“, wobei die Definition und historische Verortung all dieser Prozesse unscharf bleiben. Die Einleitung des Begleitbuches, die Bettina Kohlrausch und Magdalene Polloczek verfasst haben, betont ergänzend noch die Relevanz der „Technisierung“, die „schon immer Ursache von gesellschaftlichen Veränderungen und Fortschritt“ gewesen sei (S. 12).

Diese Einleitung lenkt die Aufmerksamkeit auch explizit auf die „Handarbeit“, die manuelle Fertigung von Produkten als weitere Gemeinsamkeit. Das erscheint im Fall des „Bergmannes“ nicht ganz eindeutig, aber noch nachvollziehbar, bei der „Kassiererin“ dann nicht mehr. Die Ausstellung selber nimmt bei den Abteilungen „Bäcker:in“ und „Schneider:in“ darauf deutlich Bezug, vor allem inspiriert von Richard Sennetts Buch „The Craftsman“, deutsch „Handwerk“ (2008). Bei näherem Überlegen bleibt auch die „Handarbeit“ begrifflich unscharf: Welche Kraftquellen, Werkzeuge, Geräte oder Maschinen erlauben noch das Etikett der manuellen Fertigung, das hier eher als Qualitätsmerkmal mitgeführt wird (obwohl der Einsatz von Technik die Präzision in vielen Bereichen gesteigert haben dürfte)? Muss beim Brotbacken bereits das Mehl handgemahlen sein? Die Stoffe fürs Schneidern handgesponnen und -gewebt? Oder reicht der letzte Fertigungsschritt per Hand? Geht es überhaupt um Produktion, oder ist die manuelle Bedienung einer Tastatur „Handarbeit“? All das wird weder erörtert noch entschieden.


Abb. 1: Blick durch den Ausstellungsraum
(Foto: Simon Vogel, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

An den Außenwänden des ca. 300 qm großen Ausstellungsraumes ist ein Regalsystem montiert, in das Fotos, Texte und Vitrinen mit Objekten integriert sind. In der Raummitte stehen größere Objekte teils solitär, teils zu Ensembles arrangiert. Die Bereiche für die fünf Berufsbeispiele sind farblich voneinander abgehoben. Die Farben finden sich auf den niedrigen Sockeln der Objekte in der Raummitte. Die Großfotos sind durchgängig auf schwarz-weiß reduziert, wobei das Weiß teilweise durch die jeweilige Bereichsfarbe ersetzt ist. Alles wirkt übersichtlich, aber auch standardisiert, nüchtern und unemotional – und von Handarbeit keine Spur. Ganz am Ende des großen Raumes befindet sich ein kleinerer, dunkler Raum, den eine große Projektionsfläche dominiert. Auf ihr tauchen die unterschiedlichsten Berufsbezeichnungen ohne nachvollziehbare Reihenfolge auf und verschwinden wieder.

Die Besucher:innen sehen beim Betreten den Einleitungstext (der sich wie alle anderen in einer deutschen und einer englischen Version findet), können dann frei durch den Raum flanieren und verlassen den Raum wieder durch die Eingangstür. Bewegen sie sich im Uhrzeigersinn, stoßen sie zunächst auf den Bereich „Bäcker:in“, dann „Bergmann“, „Schriftsetzer:in“, „Kassiererin“ und zum Schluss „Schneider:in“. Die zusammenfassenden bzw. einleitenden Informationen zu den Berufsbeispielen befinden sich aber immer auf der Seite des Ein- und Ausgangs. Jeder Bereich enthält einen Monitor, auf dem Filme laufen, und für den Ton jeweils zwei Kopfhörer, wobei es nur deutsche Versionen gibt. Lediglich an einer Station („Schriftsetzer:in“) ist ein Film zusätzlich deutsch untertitelt; englische Übersetzungen fehlen ganz.


Abb. 2: Ausstellungssegment „Bäcker:in“
(Foto: Simon Vogel, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Die ausgestellten Objekte sind vielfältig. Es handelt sich durchgängig um Leihgaben aus nordrhein-westfälischen Museen und Sammlungen, wobei oft nicht klar ist, ob sie in NRW hergestellt oder verwendet wurden. Bei „Bäcker:in“ stammen die Exponate aus verschiedenen Zeiten und unterschiedlichen Sammlungen. Es geht in den Zwischentexten um die Geschichte des Backens und um die Liebe der Deutschen zum Brot, die als antifranzösische bzw. antirevolutionäre Reaktion dargestellt wird: Während die Französische Revolution das Weizenbrot als Speise des Adels für alle verfügbar machte, kultivierten die Deutschen ihre Begeisterung für die vielen regionalen und volkstümlichen Brotsorten. Ein weiterer Text schildert die Aufnahme der deutschen Brotvielfalt in die UNESCO-Liste für das immaterielle Kulturerbe (2014). Im Film berichtet ein Bäcker darüber, wie er sich der technisierten Massenfertigung und Normierung entzieht und stattdessen Brote mit einem möglichst großen Anteil von Handarbeit produziert. Wahrscheinlich spricht dort ein Bäckermeister und Betriebsinhaber. Unterschiedliche Qualifikationen oder Beschäftigungsverhältnisse bleiben aber ganz außerhalb der Betrachtung, alles ist „Bäcker:in“. Die Auswahl der Objekte erschließt sich auch nicht näher. Einige haben mit der Brotherstellung zu tun, die meisten nicht. Zur Frage, wie die Handarbeit definiert ist, leisten sie keinen Beitrag. Dabei läge das nahe, zumal für eine Bäckerei zumindest der Ofen ein unverzichtbarer technischer Bestandteil ist. Darf der Teig mit einer Maschine geknetet, mit einer anderen portioniert werden?

Im Bereich „Schneider:in“ hätte dazu der Film gepasst, der einen Maßschneider aus Kassel zeigt, der sogar auf die Nähmaschine verzichtet – und dem es angeblich gelingt, hinreichend Abnehmer für Hosen im Preis von ca. 700 Euro pro Stück zu finden. Die Ausstellung nimmt diesen Faden nicht auf. Dafür präsentiert sie das Schneidern von kirchlichen Gewändern und von Karnevalskostümen, sowie Düsseldorfer Haute Couture. Hier finden sich auch Objekte mit einer detailliert nachgewiesenen Herkunft, die aber trotzdem keine besonderen Geschichten erzählen. Die Ausstellungsarchitektur erweist sich in diesem Bereich als problematisch, weil sie dazu zwingt, Fotos zu beschneiden und etwa von Kaiserin Soraya beim Einkaufsbummel auf der Düsseldorfer Kö (1958) nur den Oberkörper belässt. Erst das Begleitbuch zeigt sie vollständig (S. 52) – und vor allem ihr modisches Kostüm, das einem Objekt in der Ausstellung ähnelt.


Abb. 3: Ausstellungssegment „Schneider:in“
(Foto: Simon Vogel, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Ein eindrucksvolles liturgisches Gewand hängt in einer Vitrine, die von einem Aluminiumträger geteilt ist (rechts im Bild). Er verdeckt ausgerechnet das Marienmotiv in der Mitte. Zum Thema „Handwerk und Berufe“ hätte hier ein Blick auf den Unterschied zwischen Schneider:in und Näher:in gelohnt. Auch wäre es interessant, wie Änderungsschneider:innen ihren Beruf ausüben. Und dass die Globalisierung die Zahl der Schneider:innen reduziert habe, ist zumindest eine gewagte These. Sie lässt außer Acht, dass die heimische Konfektionsware in Deutschland, gefertigt von Näher:innen, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Maßanfertigung der Schneider:innen verdrängte. Die Arbeit in den Nähereien wanderte dann seit den 1970er-Jahren in Länder mit niedrigeren Löhnen ab.


Abb. 4: Ausstellungssegment „Kassiererin“
(Foto: Simon Vogel, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Bemerkenswert ist die Auswahl der „Kassiererin“. Im Gegensatz zu allen anderen Fällen handelt es sich nicht um einen Ausbildungsberuf, sondern um eine angelernte Tätigkeit. Thematisiert, ja auch nur erwähnt, wird das nicht. Mit dem Siegeszug der Selbstbedienungsläden vor allem im Lebensmittel-Einzelhandel, in den Supermärkten, verschwanden viele Tätigkeiten von Verkäufer:innen – das Kassieren blieb übrig. Dieser Wandel lässt sich nicht auf die in der Ausstellung betrachteten Faktoren zurückführen, sondern auf neue Verkaufssysteme, um Kosten zu sparen, vielleicht auch auf veränderte Konsummuster. Möglicherweise wird die Digitalisierung aber selbst das Kassieren als menschliche Tätigkeit noch beseitigen. Der Monitor in diesem Ausstellungsteil zeigt einen eindrucksvollen Spielfilm aus den 1970er-Jahren, in dem Frauen Respekt und höheren Lohn für ihre Arbeit als Kassiererinnen einfordern. Allerdings dauert er 29 Minuten und erscheint dadurch ungeeignet für eine Ausstellung. Offen bleibt, warum die Überschrift hier kein Gender-Sternchen enthält. Im Text des Begleitbuches ist allerdings von „Verkäufer:innen“ die Rede.


Abb. 5: Ausstellungssegment „Schriftsetzer:in“
(Foto: Simon Vogel, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Immerhin noch 15 Minuten dauert der – einzig untertitelte – Film im Bereich „Schriftsetzer:in“ – und verlangt damit ebenfalls eine außergewöhnliche Motivation, um ihn komplett anzuschauen. Er wurde in der Absicht aufgenommen, das berufliche Wissen zu bewahren, und fokussiert auf die Arbeitsschritte beim Satz mit Bleilettern. Der Wandel von dort zum Fotosatz und zum rein digitalen Textsatz ist prägnant und mit wenigen Objekten klar umrissen. Hier gingen mit der Transformation sehr viele qualifizierte Arbeitsplätze verloren. Menschen sahen ihr berufliches Wissen und ihre Erfahrungen entwertet und mussten sich völlig neu orientieren. Diese Verlusterfahrungen waren sicher schmerzhaft – allerdings wäre die Frage interessant, worin denn jenseits dieser persönlichen Ebene der Nutzen des Handsatzes bestand. Für Kunstbücher mag es ihn noch geben, aber könnte man sich als Verkaufsargument für eine Zeitung vorstellen, dass sie per Hand mit Bleilettern gesetzt wurde – analog zum „per Hand“ gebackenen Brot?


Abb. 6: Ausstellungssegment „Bergmann“
(Foto: Simon Vogel, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)


Abb. 7: Links im Bild Sitze aus dem Gelsenkirchener Parkstadion des FC Schalke 04. Der Bergbau ist ein Bezugspunkt in der Selbststilisierung und im Marketing des Fußballvereins, etwa durch die Bezeichnung der Mannschaft als „die Knappen“ (ausgebildete Bergmänner).
(Foto: Simon Vogel, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Der Bereich „Bergmann“ hebt sich in verschiedener Weise von den anderen ab. Zum einen findet sich hier ausschließlich die maskuline Form, wohl weil Frauen nicht als Bergleute arbeiten durften. Zum anderen gehören die Exponate nicht nur in den Arbeitskontext, sondern dienten auch zur Überhöhung der Bergmänner, wie zum Beispiel beim Fußballverein Schalke 04, der das in besonderer Weise kultivierte. Ob die vier Sitzschalen aus dem Gelsenkirchener Parkstadion besonders „sprechende“ Objekte sind, darf allerdings bezweifelt werden. Eine weitere Besonderheit ist, dass die soziale und auch finanzielle Unterstützung für den aussterbenden „Berufszweig“ (so Franz-Josef Brüggemeier im Begleitband, S. 66) deutlich größer ausfiel als in allen anderen präsentierten Beispielen. Die Ausstellungstexte stellen das Verschwinden des Steinkohlebergbaus bemerkenswerterweise in den Kontext der „Dekarbonisierung“ (was der Aufsatz im Begleitbuch vermeidet). Tatsächlich war die Ursache rein ökonomisch. Die Lagerstätten sind so weit ausgebeutet, dass die Steinkohleförderung in Deutschland Jahrzehnte vor ihrem Ende – und deutlich vor dem Ziel, den Kohlendioxid-Ausstoß zu reduzieren – nicht mehr konkurrenzfähig war, sondern nur noch mit hoher staatlicher Förderung aufrechterhalten wurde. Hier wäre etwa zu fragen, warum (und für wen genau) der Verlust von Arbeitsplätzen mit extremer körperlicher Belastung, die für massive Umweltschäden verantwortlich waren und nur noch durch massive Subventionen erhalten blieben, so bedrohlich ist bzw. war. In der Corona-Pandemie haben sich die Kassiererinnen jedenfalls als deutlich „systemrelevanter“ erwiesen.

Das mag als Beispiel dienen, wie brisant und aktuell die Themen sind, über die das Publikum der Ausstellung nachdenken und diskutieren könnte. Leider bleibt dies ganz den persönlichen Vorkenntnissen und Neigungen überlassen. Die Ausstellung bietet zwar vielfältige Anregungen, aber wenig Struktur und Konsistenz. Die Texte im Begleitbuch liefern erheblich mehr Informationen, sind jedoch sehr heterogen und folgen keiner verbindenden Frage. Der Band dokumentiert aber nicht zuletzt die Exponate.

Die Auseinandersetzung mit dem Wandel der Arbeitswelt bleibt ein Desiderat, zu dem Ausstellungen einen wichtigen Beitrag liefern können. Wie gehen Menschen mit den Zumutungen oder Chancen von massiven Veränderungen um? Welche Ressourcen bieten ihnen dabei ihre beruflichen Qualifikationen oder ihr Berufsstolz? Welche Strategien erwiesen sich in der Vergangenheit als erfolgreich, um Wandel zu bewältigen? Solche Fragen sind in einer Zeit gravierender und schneller Veränderungen wichtiger denn je.

Anmerkung:
1Anm. der Red.: In der Ausstellung und im Begleitband werden Gendersternchen verwendet. Im Redaktionssystem von H-Soz-Kult müssen sie aus technischen Gründen durch Doppelpunkte ersetzt werden.