Die Emscher. Bildgeschichte eines Flusses

Die Emscher. Bildgeschichte eines Flusses

Veranstalter
Ruhr Museum Essen
Veranstaltungsort
Ruhr Museum Essen
PLZ
45309
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.09.2022 - 16.04.2023

Publikation(en)

Cover
Grütter, Heinrich Theodor; Paetzel, Uli (Hrsg.): Die Emscher. Bildgeschichte eines Flusses. Essen 2022 : Klartext Verlag, ISBN 978-3-8375-2531-1 288 S., zahlr. Abb. € 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eckhard Schinkel, München

Zu den Schattenseiten des Industriezeitalters im Ruhrgebiet gehörte, dass um 1900 über 150 Kohlenzechen mit mehr als 175.000 Arbeitern, über 100 industrielle Großbetriebe – Hochofenanlagen, Eisen- und Walzwerke, Zinkhütten – sowie etwa eine Million Menschen ihre Abwässer ungeklärt in die Emscher entsorgten.1 Der kleine Fluss zwischen der Ruhr im Süden und der Lippe im Norden mäandrierte in vorindustrieller Zeit mit wenig Gefälle aus seinem Quellgebiet südöstlich von Dortmund in Richtung Westen und mündete bei Duisburg in den Rhein.2 Infolge der bergbaubedingten Tagesbrüche und Bergsenkungen, mancherorts mehr als 20 Meter tief, verlor der Fluss sein natürliches Gefälle. Großflächige Überschwemmungen und Versumpfungen, Vergiftungen des Grundwassers und Epidemien (Typhus, Cholera, Malaria) waren wiederkehrende Folgen. Dieser Ökozid, lange als ortsübliche Belastung geduldet, doch mit immer größeren Schäden für die Unternehmen und die Bevölkerung, für Grund und Boden sowie für die ganze Landschaft, erzwang 1899 die Gründung der Emschergenossenschaft, eines Zweckverbands aus Unternehmen, Städten und Gemeinden. Weitere neun Jahre verhandelten die „Zensiten“ über ihre finanziellen Pflichten.3 Nach umfangreichen Vorarbeiten verständigte sich die Genossenschaft über den Bau eines sicheren Abwasserabflusses bis zum Rhein. Aufgrund des instabilen Untergrunds wäre ein unterirdisch verlegter Abwasserkanal, wie in großen Städten damals schon seit mehreren Jahrzehnten bewährt, störungsanfällig und teuer geworden. Eine oberirdisch verlaufende, offene Betonrinne für den begradigten Fluss und seine Zuflüsse war leichter zu verlegen, an weitere Bergsenkungen anzupassen und zu reparieren. Im Herbst 1906 begannen die Bauarbeiten. Sie erstreckten sich über die folgenden Jahrzehnte. Pumpwerke stellten den Abfluss sicher. Kläranlagen entstanden erst nach und nach. Die Emscherregulierung veränderte die Industrielandschaft des mittleren Ruhrgebiets erheblich. Neben den Fördergerüsten, Hochöfen und Fabrikschornsteinen wurde das horizontale Betonskelett zu einem weiteren prägenden Wahrzeichen.


Abb. 1: „Kläranlage Bochum: ‚Emscherbrunnen im Bau‘, um 1907“ (Angabe im Katalog, S. 206)
(Emschergenossenschaft, Archiv)

Nicht minder aufwendig wurde der erneute Umbau des Emschersystems nach dem Ende des Bergbaus. Die Initiative dazu war um 1990 von der Internationalen Bauausstellung IBA Emscher-Park ausgegangen. Im Rahmen eines komplexen Geoengineerings wurden die Betonbetten der Emscher und ihrer Nebenflüsse zurückgebaut, und die Gewässer erhielten – so weit wie möglich – einen naturnah gestalteten, doch weiterhin mittels Pumpwerken gesicherten Verlauf in einer neu gestalteten Landschaft. Die Abwässer wurden unterirdisch abgeleitet, weiterhin gepumpt, nun aber immer besser gereinigt. Im Jahr 2021 war die sogenannte „Abwasserfreiheit“ hergestellt. Der sozial-ökologische Umbau der Stadtlandschaft Ruhrgebiet, wie die Emschergenossenschaft ihr neu definiertes Aufgabenfeld überschreibt, dauert an. Nach einem prägenden Wahrzeichen dafür wird noch gesucht.

Von Beginn an hat die Emschergenossenschaft ihre Arbeit fotografisch dokumentiert. 40.000 Glasplatten-Negative aus den Jahren 1906 bis 1966 wurden inzwischen digitalisiert und der fotografischen Sammlung des Ruhr Museums übergeben. Die gemeinsame Ausstellung von Ruhr Museum und Emschergenossenschaft zeigt nun eine Auswahl von 400 Bildern und mehreren Filmen aus jüngerer Zeit. Gegliedert ist sie nach den drei Epochen dieses „Schicksalsflusses des Ruhrgebietes“4: „Die alte Emscher“ (bis zum Beginn der Industrialisierung), „Der Industriefluss“ (zur Zeit der Industrialisierung), „Ein neuer Fluss“ (seit der Postindustrialisierung).


Abb. 2: Blick in den Hauptraum der Ausstellung mit dem zentralen Fotobestand zum Emscherumbau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Hintergrund zu sehen ist das auf etwa acht Meter Breite vergrößerte Panorama „‚Alter Emscherlauf, Strecke Karnap – Horst‘, [Essen-]Karnap 1908“ (Angabe im Katalog, S. 99–102).
(Ruhr Museum, Foto: Christoph Sebastian)

Die Ausstellungsräume des Ruhr Museums befinden sich in der ehemaligen Kohlenwäsche des UNESCO-Welterbe-Standorts Zeche Zollverein in Essen. Zugänge und Treppenhäuser in diesem Industriedenkmal sind düster, die Atmosphäre wirkt bedrückend. Das ist vergessen, hat man den Hauptausstellungsraum erreicht. Die hell angestrahlten Fotografien zum Emscher-Umbau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ziehen in ihren Bann. Der chronologisch angelegte Rundgang sieht allerdings zuerst einen Weg durch mehrere Seitenkabinette vor, und so beginnt die Ausstellung mit „Geschichten“ zur vorindustriellen Emscher. Die wesentlichen Stichworte aus den einleitenden Kurztexten muss man gedanklich mitnehmen, denn die Erläuterungen zu den einzelnen Abbildungen beschränken sich auf kurze Titel, Jahresangabe und Leihgebervermerk. Den Beispielen für archäologische Funde aus dem prähistorischen Emscherraum folgen religiöse Darstellungen mit Regionalbezug aus den 1950er-, 1960er-Jahren. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts war die Emscher ein mäandrierender und deshalb unzuverlässiger Grenzfluss zwischen Hoheitsgebieten, abzulesen an historischen Karten und Gemälden von Wasserburgen. Mühlenfotos und frühe Industriedarstellungen dokumentieren die unterschiedlichen Nutzungen des Flusses. Anfang des 20. Jahrhunderts erstellte der Wasserbau-Ingenieur Wilhelm Middeldorf detaillierte hydrologische, geographische und statistische Übersichten zum Einzugsgebiet des vergifteten, verschlammten und nur noch zäh fließenden „Industrieflusses“. Pläne für Begradigungen und die Kanalisierung sowie ausgewählte Konstruktionszeichnungen zum Kanalbett und zu den wasserbaulichen Anlagen schließen sich an.


Abb. 3: „Emscher vor der Regulierung, im Hintergrund das Stahlwerk Phoenix-Ost, [Dortmund-]Hörde, 18. Dezember 1913“ (Angabe im Katalog, S. 88)
(Emschergenossenschaft / Fotoarchiv Ruhr Museum)

Man ist leider schon etwas ermüdet, wenn der Rundgang nun den Hauptraum der Ausstellung erreicht. Hier zeigen etwa 200 Schwarz-Weiß-Aufnahmen den „Industriefluss“ und die Anstrengungen, ihn in ein Betonbett zu zwängen, ihn darin zu halten und zu kontrollieren. Drei kurze Einführungen mit den Überschriften „Transformation der Landschaft“, „Technik und Innovationen“, „Arbeit am Emscher-System“ geben Stichworte für die sich anschließenden Bilderfolgen. Auftragsgemäß haben die unbekannten Fotografen damals die Gelände und manchmal einzelne Situationen vor und nach einer Baumaßnahme dokumentiert: mäandrierende und begradigte Flussstrecken, versumpfte Flächen, Eindeichungen, die wasserbaulichen Betonkonstruktionen, Baustellen mit aufwendiger Hand- und Maschinenarbeit, Hochwassersituationen und Schäden, Brücken und die verschiedenen Architekturen der zahlreichen Pumpenhäuser. Die Bildunterschriften beschränken sich allerdings auch in dieser Abteilung auf die Identifizierung des jeweiligen Orts und die Datierung eines Fotos. Hier und da lenken Vorher-Nachher-Aufnahmen (übereinander gehängt), ein Foto-Tableau oder eine Großvergrößerung die Aufmerksamkeit auf ein Bildthema. Doch das jeweilige Besondere, das daran Zeigens- und Wissenswerte vermittelt sich in den Hängungen nicht. Mit zunehmender Zahl der Aufnahmen verdichtet sich die Emscherlandschaft zu einer grauen Industrie- und Stadtlandschaft mit einer bearbeiteten Restnatur. Ganz schön hässlich, schrecklich schaurig – das alte Ruhrgebiet, die Emscher damals, heute weit weg.


Abb. 4: Altärchen-Hängung mit dem Foto „‚Schönheitsaufnahmen: Emscher bei Oberhausen‘, um 1955“ im Zentrum. Das Wiederfinden der Bilder im Katalog ist dadurch erschwert, dass sich die Reihenfolge der nicht nummerierten Fotos in Ausstellung und Katalog unterscheidet.
(Ruhr Museum, Foto: Christoph Sebastian)


Abb. 5: Das Bilderkabinett „Landschaftswandel“ mit Fotografien von Henning Maier-Jantzen. In der Vitrine liegt eine Karte mit den Standorten des Fotografen bei seinen Aufnahmen. In einer Hörstation erläutert er seine Arbeitsweise.
(Ruhr Museum, Foto: Christoph Sebastian)

Ganz anders dagegen das neue Ruhrgebiet mit der neuen Emscher im 21. Jahrhundert: In vier seitlichen Kabinetten, die sich an den Hauptraum anschließen, zeigen Emschergenossenschaft und Ruhr Museum, mit welchen Mitteln und Ergebnissen das Emschersystem zurückgebaut und naturnah zu einer neuen Landschaft umgestaltet wurde. Deutlich diskursiver kommentiert als in den vorherigen Teilen der Ausstellung rücken dabei neben den technischen auch die ökologischen, sozialen, gesellschaftlichen Aspekte in das Bildfeld, manchmal sogar in den Vordergrund der Farbfotografien sowie der Dokumentations-, Image- und Animationsfilme. Mit den „Emscherskizzen. 66 dokumentarische Kurzfilme 2006–2015“ von Christoph Hübner und Gabriele Voss kommen Menschen aller Altersstufen zu Wort, die in der Emscherregion wohnen und die Veränderungen ihrer Landschaft erlebt haben. In einem Kurzfilm erläutert der Fotograf Henning Maier-Jantzen, der seit vielen Jahren für die Emschergenossenschaft arbeitet, Grundzüge seiner fotografischen Übersichten, die er aus größerer Höhe von einem Hubsteiger aus produziert. Zu diesen Bildern gibt es erstmals eine Karte mit den Aufnahmepositionen.

Die Ausstellung endet mit Aussichten auf blühende Landschaften im Ruhrgebiet und damit sicherlich im Sinne des Projektpartners Emschergenossenschaft. „Die Fotografien der renaturierten Flussabschnitte“, so die Einführungstafel zur letzten Abteilung, „lassen ein breites Spektrum an Assoziationen zu und transportieren auf diese Weise Werte und Phänomene wie heile Natur, Gemeinwohl, Gesundheit, Biodiversität, Lebensqualität sowie ökologische Wasserwirtschaft.“

Der Ausstellungskatalog mit zahlreichen, zum Teil ganzseitigen Abbildungen in hervorragender Qualität erlaubt es, die „Bildgeschichte eines Flusses“ noch einmal zu betrachten. Außerdem bietet er zu jeder der drei Flussepochen einen einführenden Beitrag. Die Stichworte, die den Besucherinnen und Besuchern auf den Ausstellungstafeln Orientierung geben sollten, erhalten, so ist zu erwarten, hier ihren sach- und fachkundigen, wissenschaftlich begründeten Kontext.

Im ersten Beitrag „Die alte Emscher“ versammelt der Historiker Axel Heimsoth (Ruhr Museum) bekannte, andernorts bereits publizierte „Emscher-Geschichten“ zu den Themen Archäologie, Besiedelung, Bevölkerung, Gewerbe. Ohne Bezug auf einen Forschungsstand, ohne eine neue Perspektive und bisweilen unkritisch erzählt er sie bloß noch einmal. Seitenbezüge zu dem sich anschließenden Bildteil fehlen.

Stationen des ersten Emscherumbaus skizziert Thomas Dupke, Mitarbeiter der fotografischen Sammlung im Ruhr Museum. Sein Beitrag „Der Industriefluss“ wiederholt zwar etliche Angaben, die sich schon in Heinrich Theodor Grütters Vorwort finden, ist in der Darstellung aber deutlich perspektivenreicher. Mit den kurzen Bemerkungen etwa zur konkreten Bautätigkeit der Genossenschaft, zur „sensible[n] Rolle“ der Kostenverteilung und zur „Anpassung“ der Genossenschaft an veränderte politisch-gesellschaftliche Verhältnisse deutet dieser Beitrag auf eine Unternehmensgeschichtsschreibung, die Probleme, Konflikte und Ambivalenzen nicht übergeht. Die Überschrift „Die Bedeutung der Fotografie im Emscherumbau“ zum Schluss seines Beitrags verweist darauf, was die Ausstellung insgesamt vielleicht etwas bescheidener, dafür zutreffender hätte thematisieren können. Nur kurz erwähnt Dupke die im Archiv von unbekannter Hand als „Schönheitsaufnahmen“ bezeichneten Fotografien aus den 1950er- und 1960er-Jahren. „Dabei handelt es sich um besonders aufwändig ausgearbeitete Abzüge, die mit einer Überhöhung der Landschaft eine geradezu sinnliche Qualität vermitteln.“ (S. 83) Gegenüber den dokumentarischen Baustellenfotos zielen ihre sorgfältig gestalteten Kompositionen, die an Vorbilder aus der Landschaftsmalerei erinnern, auf ein besonders positives und zustimmungsfähiges Bild von den Arbeiten der Emschergenossenschaft, weshalb sie vorzugsweise für die Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt wurden. Sie wären einen eigenen Beitrag wert gewesen (Beispiele auf den Seiten 89, 91, 160, 171, 175). Immerhin gibt Dupke Querverweise zu einzelnen Aufnahmen im Katalogteil.


Abb. 6: Beispiel für eine „Schönheitsaufnahme“: „Emscher-Unterlauf vor dem Werk der Ruhrchemie AG, Oberhausen, 22. Mai 1956“ (Angabe im Katalog, S. 158)
(Emschergenossenschaft, Archiv)

Die Abbildungen in den ersten beiden Katalogteilen erhalten wie schon in der Ausstellung nur eine zumeist einzeilige Bildunterschrift mit Bildtitel und Jahreszahl. Dabei gibt es bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der fotografischen Sammlung im Ruhr Museum eine klare Vorstellung über die Lesbarkeit von Fotografien und damit doch wohl auch von den Anforderungen an eine Bildlegende: „Was wurde wann und wo publiziert, von wem, mit welcher Absicht, in welchem Medium, wie und mit welchem Text? Was will ich heute von diesem Bild? Das setzt ein umfangreiches Wissen voraus, das sich nicht – oder nur in Teilen – aus dem Bild speist.“5 Doch die Auseinandersetzung mit Inhalt und Gehalt einzelner Aufnahmen, eine Aussage zu dem, was die sachkundigen Kuratorinnen und Kuratoren wissen, Betrachterinnen und Betrachter aber nicht und deshalb auch nicht sehen können, fehlt. Wonach wurde ausgewählt, wie die Reihenfolge begründet? Was würde Landschaftsfachleuten auf den Bildern im Detail auffallen, über das gefällige Wort „Transformation“ hinaus? Und wenn ein Schwerpunkt der Bildauswahl auf der Baugeschichte lag, warum wurde kein Ingenieurswissen eingebracht und für Laien erklärt? Ohne derartige Informationen bleiben Würdigungen wie „Meisterleistung“ leer und schal. Warum fällt kein Wort zu den beteiligten Unternehmen?6

„Ein neuer Fluss“ überschreiben die Autorinnen Stefanie Grebe und Giulia Cramm, Leiterin und Mitarbeiterin der fotografischen Sammlung im Ruhr Museum, den dritten Katalogteil. Mit Bezug auf den zweiten Emscherumbau seit den 1990er-Jahren umreißen die Autorinnen souverän das weite Feld der jüngeren fotografischen und audiovisuellen Dokumentation im Auftrag der Emschergenossenschaft. Entlang an 80 sorgfältig zusammengestellten Aufnahmen mit knapp kommentierenden Bildunterschriften, immerhin, weitet sich der Blick von der Einzel- zur Landschaftsbaustelle. Ökologische, soziale, gesellschaftliche Aspekte rücken in den Vordergrund der Farbfotos. Am Beispiel der Arbeit des Fotografen Henning Maier-Jantzen thematisieren die Autorinnen die Gestaltung von Aufnahmen mittels digitaler Bildbearbeitung. Nichts ist dem Zufall überlassen. Diese Bilder zum Landschaftswandel sind durchweg „Schönheitsaufnahmen“, die, wenn auch der Dokumentation verpflichtet, „fast zu perfekt erscheinen“ (S. 218). Dokumentation und intentionale Unternehmenskommunikation sind kaum noch voneinander zu trennen. Gleichwohl bleibt die technische Dokumentation betriebsintern unersetzlich. Ultraschall, Laserscan und Videoaufzeichnung ermöglichen die robotergestützte Inspektion im unterirdischen Emscher-Abwasserkanal. Die Schadenserkennung bei laufendem Betrieb wird mit dem Einsatz eines nicht mehr linsen-, sondern sensorbestückten Schwimmroboters möglich (S. 223). So gelingt den Autorinnen des dritten Katalogteils zwar ein eindrucksvoller Überblick zur Vielseitigkeit und Bedeutung der fotografischen Dokumentation in der Arbeit der Emschergenossenschaft. Weiterführende Fragen, etwa inwieweit digitale Fotografie und neue bildgebende Verfahren die Qualität und den Stellenwert der Dokumentation grundsätzlich verändert haben, stellen sie jedoch nicht.

Schließlich würde die „Chronik“ zur „Geschichte des Emscherraumes“ am Ende des Katalogs, die auch in der Ausstellung angeschlagen ist, größere Sorgfalt verdienen. Die „Emscherschauen“ seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten ebenso hinein wie präzisere Angaben etwa zum Projekt eines schiffbaren Emscherkanals. Bereits 1856 hatte Friedrich Hammacher, der Vorsitzende des Verwaltungsrats der Arenbergʼschen Aktiengesellschaft für Bergbau und Hüttenbetrieb, die Bedeutung eines solchen Kanals hervorgehoben. Zwischen 1857 und 1859 erarbeitete der Münsteraner Wasserbau-Inspektor Karl Michaelis die Grundlagen für die entsprechende Denkschrift des Essener Kanalkomitees. William Thomas Mulvanys Engagement für einen Emscherkanal begann 1862 mit der Ausarbeitung seiner Denkschrift (Veröffentlichung 1872).7 Der Eintrag unter „1873“ ist auffällig nah zum Eintrag im Wikipedia-Artikel „Emscher“ formuliert.8 Und die vorgeschichtliche Naturlandschaft hat das Ruhr Museum schon deutlich gehaltvoller charakterisiert als mit dem Hinweis: „Mammuts leben im Emschertal.“ (S. 276)

Die neue „Abwasserfreiheit“ im Emschertal gehört „zu den bedeutendsten ökologischen und nachhaltigen Landschaftsprojekten in Europa“ (Grütter, Vorwort zum Katalog, S. 11). Das ist ein ehrenwerter Anlass für eine Ausstellung. Wenn aber das Museum die „komplexe Lesart von Fotografien“9, für die es andernorts plädiert, kaum umsetzt, die „Bildgeschichte“ auf die Sicht der Werks-, Auftrags- und Konzeptfotografie beschränkt und die bekannte Erfolgsgeschichte der Emschergenossenschaft nur ein weiteres Mal illustriert, dann ist der Anspruch, „die gesamte Geschichte des Flusses ins Bild“ zu setzen (Grütter), nicht eingelöst.

Anmerkungen:
1 Pbg., Der Entwässerungsplan für das Emscherthal, in: Zentralblatt der Bauverwaltung Nr. 52 (1901), S. 321f., hier S. 321.
2 Zur Daten-Übersicht siehe den Wikipedia-Artikel „Emscher“: https://de.wikipedia.org/wiki/Emscher (10.01.2023).
3 Die Veranlagung der Emschergenossenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Belastung der Gemeinden. Vortrag von Baudirektor Dr. Helbing in der Sitzung der „Gruppe Gemeinden“ über die Höhe der Beiträge zur Emschergenossenschaft am Donnerstag, dem 10. März 1927, Essen o.J. (1927), S. 2.
4 Heinrich Theodor Grütter, Die Emscher – Schicksalsfluss des Ruhrgebietes, in: Forum Geschichtskultur Ruhr, Heft 1/2022, S. 22–26.
5 Stefanie Grebe / Thomas Dupke / Giulia Cramm, Visual History im Fotoarchiv des Ruhr Museums, in: Forum Geschichtskultur Ruhr, Heft 2/2020, S. 17–22, hier S. 22. Im „Begleitmaterial für Lehrer:innen, Pädagog:innen und Eltern“ unter der Überschrift „Historische und aktuelle Fotografien als Quelle“ fordert das Museum dazu auf zu sagen, was man sieht: https://ruhrmuseum.de/fileadmin/redakteur/PDF/Vermittlung_Bildung/Begleitmaterial_Schule_Die_Emscher.pdf (10.01.2023).
6 1967 veröffentlichte das Bauunternehmen Heitkamp mehrere Aufnahmen „seiner“ Emscherbauwerke, in: Bauen macht Freude. 75 Jahre Heitkamp. 1892–1967, o.O., o. J. (Wanne-Eickel 1967), S. 326–335.
7 Olaf Schmidt-Rutsch, William Thomas Mulvany. Ein irischer Pragmatiker und Visionär im Ruhrgebiet 1806–1885, Köln 2003, S. 247–252.
8https://de.wikipedia.org/wiki/Emscher#Geschichte (10.01.2023).
9 Grebe / Dupke / Cramm, Visual History, S. 22.