Das Werkbundarchiv – Museum der Dinge, seit den 1970er-Jahren mit der Sammlung und Interpretation von Alltagsobjekten befasst, widmet sich in seinen Ausstellungen dem Ordnen, Befragen und Wiederbefragen der materiellen Kultur – so auch in der aktuellen Sonderausstellung „The Story of My Life“, in der es um die Objektbiografie als Analysemethode und kommunikative Praxis geht. Der für die temporären Präsentationen vorhandene Raum ist klein, sodass das Museum und die Kuratorinnen Imke Volkers (Berlin) und Ann-Sophie Lehmann (Groningen) zur Konzentration und thesengestützten Darbietung aufgefordert sind. Dies geschieht durch die Einteilung in vier Kapitel und den dezidierten Rückgriff auf die wissenschaftliche Debatte um die Materielle Kultur, die seit den späten 1980er-Jahren geführt wird, ausgelöst durch Ivan Kopytoffs Aufsatz „The Cultural Biography of Things“ und in einer breiten Öffentlichkeit rezipiert durch Neil MacGregors Buch „A History of the World in 100 Objects“ von 2010.1 Beide Publikationen sind auch in der Ausstellung zu sehen.
Abb. 1: Ausstellungsansicht mit der Wachsfigur „Lulu“ im Vordergrund, einer beschädigten Schaufensterpuppe (ursprünglich 1927 in Paris hergestellt). Im Jahr 2011 verwendeten Lou Reed und Metallica diese Figur für das Cover ihres Albums „Lulu“ (https://www.youtube.com/watch?v=UGGif2odABI, 05.02.2023). Die Kuratorin Imke Volkers reiste seinerzeit mit der Wachsfigur des Museums eigens nach New York, was in der Vitrine auch dokumentiert ist.
(Werkbundarchiv – Museum der Dinge © JF / Museum der Dinge)
Das Museum der Dinge gliedert den objektbiografischen Ansatz in vier Themen, um die Breite möglicher Betrachtungsperspektiven zu verdeutlichen: „Biografie eines Konzepts“, „Objektbiografie im Museum“, „Objektbiografie und Konsumgesellschaft“ sowie „Dinge wie wir“. Im Segment „Biografie eines Konzepts“ geht es zunächst um die Rolle des Objekts in Belletristik und wissenschaftlicher Literatur. Hier findet sich Kopytoffs Aufsatz ebenso wie Sergej Tretjakows Essay „Die Biografie des Dings“ von 1929, eine konstruktivistische Kritik am Heldenroman in der sowjetischen Literatur mit dem Vorschlag, stattdessen eine „Faktografie“ der auf menschlicher Arbeit beruhenden Dingwelt zu schreiben. Noch weiter zurück reicht die literarische Figur des erlebnisberichtenden Dings, das im verfremdenden Perspektivwechsel den Nutzer des Objekts adressiert (etwa bei Hans Christian Andersen oder Annie Carey). Drei- bis fünfminütige Ausschnitte der Texte sind an Hörstationen abrufbar.
Abb. 2: Vitrine zum Thema „Objektbiografie im Museum“ – links im Bild ein Inventarbuch mit Einträgen von 1953, rechts ein Schmuckkamm aus der dort verzeichneten Schenkung
(Foto: Andreas Ludwig)
Im Kapitel „Objektbiografie im Museum“ wendet sich die Ausstellung den Museumspraxen beim Umgang mit Objekten zu. Authentifizierung, Konservierung und Restaurierung bilden die Grundlagen materialfokussierter und herstellungsbezogener Analysen. Die seit einigen Jahren vor dem Hintergrund der Debatte um Raubgut intensivierte Provenienzforschung zwang die Museen zur Beschäftigung mit Herkunft und Besitzverhältnissen, die in Sammlungsinventaren oftmals nur kursorisch und lückenhaft dokumentiert worden waren. Die Ausstellung zeigt als Beispiele einen Schmuckkamm und eine Trommel, Teile einer 100 Objekte umfassenden Schenkung von 1953 an ein Heimatmuseum (museum oder-spree, Beeskow). Die Herkunft aus kolonialem Kontext kann aufgrund der unzureichenden Dokumentation nur vermutet werden. Objektbiografien in Museen sind auch Geschichten von Translozierungen und Neuzuordnungen, wie das Beispiel einer Zeichnung des sogenannten Oldenburger Wunderhorns belegt, einer Goldschmiedearbeit der Spätgotik. Die Zeichnung von ca. 1550 gehörte zum Bestand der Königlichen Kunstkammer im Berliner Schloss, die aufgelöst und auf verschiedene Museen verteilt wurde, bis sie heute im Bestand der Kunstbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu finden ist. Hier geht es also um Museumsgeschichte und den Versuch, ein schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts aufgelöstes Protomuseum zu rekonstruieren.2
Neben Goethes Handleuchter, einer 1934 aus jüdischem Besitz angekauften römischen Goldmünze der Zeit um 370 n.Chr. (erworben vom Kestner-Museum, Hannover) und der Rekonstruktion der Provenienzen eines Buchs aus der Berliner Staatsbibliothek findet sich in der Ausstellung auch ein Objektpaar, das eine fiktive Objektgeschichte suggeriert und damit authentisiert. Anhand zweier Schreibmaschinenteilchen (aus dem Berliner „Museum der Unerhörten Dinge“) wird ein Zusammenhang mit Walter Benjamins Reiseschreibmaschine hergestellt, auf der er den Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ geschrieben haben soll. Die Installation verweist auf die Kritik am Verfahren der Authentizitätsbehauptungen durch Dinge, wie sie aus Orhan Pamuks Roman „Das Museum der Unschuld“ oder Leanne Shaptons fiktiven Auktionskatalog „Bedeutende Objekte…“ bekannt geworden sind3 und uns in den Werbebotschaften der Konsumgesellschaft affirmativ wiederbegegnen.
Die Verbindung von materieller Kultur und Konsumgesellschaft wird im dritten Ausstellungsabschnitt aufgenommen. Hier geht es, in diesem Kontext nicht recht schlüssig, zunächst um Materialwissen, das anhand einer kleinen Sammlung von Lehrmittelkästen verdeutlicht wird. In ihnen sind „Werdegänge“ von Produkten industrieller Fertigung erläutert, von Waren aus Flachs und Kunststoff, von Margarine und Perlon-Faser. Solche Lehrmittelkästen, die bis in die 1950er-Jahre hergestellt wurden, zeigen das auf systematisiertem empirischem Wissen beruhende System von Forschen und Lernen, weniger die Konsumgesellschaft als eine Grundlage der industriellen Produktion.
Abb. 3: Ausstellungsansicht mit den Lehrmittel-Schaukästen
(Werkbundarchiv – Museum der Dinge © JF / Museum der Dinge)
Abb. 4: „Der Werdegang der Perlon-Faser“ – einer der Lehrmittel-Schaukästen
(Foto: Andreas Ludwig)
Direkt auf den Konsum bezogen ist dagegen die Inszenierung von Produkten durch die Werbewirtschaft, indem den maschinell hergestellten Gegenständen eine Objektgeschichte beigeordnet wird, die sie kulturell aufwerten soll. „Storytelling“ und „Storyselling“, in der Ausstellung unter anderem am Beispiel eines martialisch-militärischen Baumarkt-Werbefilms von 2013 für einen Hammer präsentiert, aber auch Materialien, die der künstlichen Alterung und damit der Auratisierung dienen, verdeutlichen, dass der Massenproduktion von Konsumgütern eine Individualisierung als Verkaufsargument an die Seite gestellt wird – ein Verfahren, das bekannt ist aus dem Versandkatalog für die guten Dinge, die es noch gebe. Die Geschichte der 7.000 Hämmer, die aus einem abgewrackten Panzer hergestellt wurden, kann man in der aktuellen Lage nicht ohne zusätzliche Assoziationen und Irritationen betrachten.
Abb. 5: „Vintage-Look“, „Rosteffekt“, „Patina liquid“ – Hilfsmittel zur beschleunigten Auratisierung
(Foto: Andreas Ludwig)
Abb. 6: Aus Verpackungsmaterial produzierte Kinderstühle der 1990er-Jahre im Ausstellungsbereich „Objektbiografie und Konsumgesellschaft“
(Werkbundarchiv – Museum der Dinge © JF / Museum der Dinge)
Bezüge zwischen Objekten und Konsumgesellschaft kommen heute ohne Verweise auf Recycling, Wiederverwendung, Kreislaufwirtschaft und neuerdings „Klimaneutralität“ nicht mehr aus. Ein Kinderstuhl, der aus Windelverpackungen hergestellt ist und ein Stuhl aus Flachsfasern zeigen in der Ausstellung Möglichkeiten einer ressourcenschonenden Produktion. Ein Fernseher, dessen Weg zur Verschrottung mittels eines GPS-Senders von Hamburg nach Ghana verfolgt wurde, verweist auf die globale Kette der Müllentsorgung.4 Heute befindet sich das Objekt in der Sammlung des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Andere Beispiele der materiellen Kultur in der Konsumgesellschaft vermögen indes weniger zu überzeugen: Objekte einer möglichen Kreislaufwirtschaft, die jedoch real nicht produziert werden, aber auch all die mehr oder weniger verzichtbaren Dinge einer Überflussgesellschaft, kurze Produktions- und Nutzungszyklen, mangelnde Reparaturfähigkeit oder das Anhäufen von Dingen in privaten Haushalten fehlen als Themen in der Ausstellung. Gerade wenn die „Biografie“ der Dinge verhandelt wird, wäre ihr „kurzes Leben“ in der Konsumgesellschaft, neben allen Strategien einer behaupteten Wertschätzung, ein wichtiges Thema gewesen.5
Stattdessen widmet sich das Museum der Dinge in einem vierten Ausstellungabschnitt unter dem Titel „Dinge wie wir“ Beispielen der Mensch-Ding-Beziehungen. Nicht fehlen darf hier der sogenannte Berliner Schüssel, der 1912 erfunden wurde und durch eine Untersuchung Bruno Latours seit den 1990er-Jahren neue Prominenz gewonnen hat.6 Latour beschreibt anhand dieses Durchsteckschlüssels, der das Öffnen und Schließen der Tür eines großen Mietshauses vom Besitz eines solchen Schlüssels abhängig macht, als Beispiel für die Agency des materiellen Objekts, bei dessen Benutzung sich der Mensch den Eigenschaften des Dings beugt. Auch wenn der Soziologe Latour hier die technikbasierte Funktion der sozialen Kontrolle außer Acht lässt, die der Berliner Schlüssel verkörpert, ist das Objekt als Beispiel für Mensch-Ding-Beziehungen gut gewählt. In der Ausstellung geht es des Weiteren aber vor allem um die emotionale Dimension. Yōkais, japanische Fabelwesen, werden lebendig, wenn Dinge vernachlässigt oder leichtfertig weggeworfen werden; aus „Alice im Wunderland“ erwachsen vermenschlichte Objekte; und in einer offenbar als kindgerecht angesehenen Gestaltung durch einen bekannten Medienkonzern wird das vermenschlichte Objekt filmbegleitender Nippes.
Abb. 7: Ausstellungssegment „Dinge wie wir“, mit Bruno Latours Buch und dem „Berliner Schlüssel“ unten rechts
(Werkbundarchiv – Museum der Dinge © JF / Museum der Dinge)
Abb. 8: Yōkais, übernatürliche Wesen, sind in der japanischen Populärkultur seit einigen Jahrzehnten wieder stark verbreitet. Die hier gezeigten Objekte wurden 2022 in Spanien hergestellt.
(Foto: Andreas Ludwig)
Man hätte solche Beispiele eher in der Abteilung Konsumgesellschaft vermutet. So bleibt das Konzept „Dinge wie wir“ unklar: Der Berliner Schlüssel ist eben nicht „wie wir“, sondern ein Hilfsmittel, um des Nachts ins Haus zu gelangen und ungebetene Gäste herauszuhalten. Die vermenschlichte Kaffeekanne aus dem Märchen „Die Schöne und das Biest“ ist ein Objekt, das eine kommunikative Eigenschaft beim kindlichen Spiel hervorrufen mag, aber „wie wir“ dürfte es auch dabei nicht werden.
Abb. 9: Blick in den Sonderausstellungsraum
(Werkbundarchiv – Museum der Dinge © JF / Museum der Dinge)
Abb. 10: Installation im Eingangsbereich des Museums mit Ausschnitten aus Dsiga Wertows Dokumentarfilm „Der Mann mit der Kamera“ (1929), der unter anderem im Kyiv und Odessa gedreht wurde. Der Film zeigt viele Facetten des damaligen sowjetisch-ukrainischen Großstadt-Alltags, darunter auch Mensch-Ding-Verhältnisse bei der Arbeit im Bergbau, in der Zigarettenfabrik, bei der Telefonvermittlung oder in der Textilindustrie. Im selben Jahr wurde Sergej Tretjakows Essay „Die Biografie des Dings“ veröffentlicht.
(Werkbundarchiv – Museum der Dinge © JF / Museum der Dinge)
Wie viele Ausstellungen des Werkbundarchivs – Museums der Dinge regt auch diese an, über das jeweilige Thema nachzudenken, ohne dass es in seiner ganzen Breite in der Ausstellung selbst verhandelt werden kann. Die Walter Benjamin zugeschriebene Formulierung, dass eine Ausstellung dann gut gelungen sei, wenn man „gewitzter“ herausgehe als man hineingegangen sei, trifft hier absolut zu. Es wäre also zu überlegen, wohin der Ansatz der Objektbiografie führen könnte. Das Konzept selbst ist wiederholt kritisiert worden, vor allem aufgrund einer doch wohl nur hypothetischen Gleichsetzung menschlicher und dinglicher Biografie.7 Wichtiger erscheinen mir dagegen zwei andere Gedanken: Im Objekt lassen sich, mit einer Biografie im übertragenen Sinne, unterschiedliche wie auch zusammenhängende Gesellschaftsbereiche erkennen und konkretisieren – Entwurf, Konstruktion und Produktion, dann Vertrieb und Vermarktung, Nutzung, Verschleiß und Verbrauch sowie schließlich der Übergang in einen Zustand des Mülls oder die Praxis von Musealisierung und Wiederentdeckung. All dies sind Praxen gesellschaftlichen Handelns, die sich am Objekt bündeln. Insofern weisen materielle Dinge in der Tat Biografien auf, eine Abfolge von Entstehungs-, Verwendungs- und Bewertungskontexten. Zugleich ist das mit dem Begriff der Biografie verbundene Nacheinander nicht die einzige Betrachtungsmöglichkeit. Unabweisbar ist das Argument der Gleichzeitigkeit, indem die Dinge etwa parallel als Gebrauchsgegenstände und Memorialobjekte dienen können oder indem sie als Prismen fungieren8 – Dinge, die aus unterschiedlichen Perspektiven und Erkenntnisinteressen heraus betrachtet werden können und mit denen sich verschiedene Kontextualisierungen entwickeln lassen. Die Ausstellung bietet dazu Neugier weckende Ansatzpunkte und genügend Raum. Aus dem bisherigen Gebäude in der Berliner Oranienstraße wird das Museum der Dinge allerdings bald verdrängt; es muss sich ausgerechnet im Jahr seines 50-jährigen Bestehens ein neues Domizil suchen – zum nunmehr vierten Mal seit 1973.9
Anmerkungen:
1 Ivan Kopytoff, The Cultural Biography of Things. Commoditization as Process, in: Arjun Appadurai (Hrsg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986, S. 64–91; Neil MacGregor, A History of the World in 100 Objects, London 2010 (dt. 2011). 2014 veröffentlichte die Bundeszentrale für politische Bildung eine Lizenzausgabe der deutschen Übersetzung.
2 Siehe dazu die virtuelle Ausstellung „Objektwege. Von der Kunstkammer ins Museum“: https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/objektwege/ (05.02.2023). Die Zeichnung des Oldenburger Wunderhorns ist dort das erste von fünf näher vorgestellten Objekten.
3 Orhan Pamuk, Das Museum der Unschuld. Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier, München 2008; Leanne Shapton, Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck. Aus dem Amerikanischen von Rebecca Casati, Berlin 2010 (engl. 2009).
4 Für die zugrundeliegende Recherche siehe auch Carolyn Braun u.a., Auf der Jagd nach dem Schrott, in: ZEIT, 24.07.2014, S. 13–15, und https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2014/Wo-landen-unsere-Schrottfernseher,gpsjagd102.html (05.02.2023).
5 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die aktuelle Ausstellung „Reparieren!“ des Deutschen Technikmuseums, Berlin, 07.12.2022–03.09.2023, https://technikmuseum.berlin/ausstellungen/sonderausstellungen/reparieren/ (05.02.2023), und die Ausstellung „Fast Fashion. Die Schattenseiten der Mode“ im Museum Europäischer Kulturen, Berlin, 27.09.2019–31.01.2021, https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/fast-fashion/ (05.02.2023).
6 Bruno Latour, Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Aus dem Französischen von Gustav Roßler, Berlin 1996, S. 37–51.
7 Siehe zur Diskussion etwa Dietrich Boschung / Patric-Alexander Kreuz / Tobias Kienlin (Hrsg.), Biography of Objects. Aspekte eines kulturhistorischen Konzepts, Paderborn 2015.
8 Annette C. Cremer, Zum Stand der Materiellen Kulturforschung in Deutschland, in: dies. / Martin Mulsow (Hrsg.), Objekte als Quellen der historischen Kulturwissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln 2017, S. 9–21.
9 Siehe https://www.museumderdinge.de/information/presse/von-anonymen-investoren-verdraengt-und-auf-die-strasse-gesetzt (05.02.2023). Nach jetzigem Stand muss das Museum die bisherigen Räume spätestens zum Jahresende 2023 verlassen.