Wie stellt ein westliches Museum die Geschichten von Flüchtlingen dar, ohne deren Perspektiven zu vereinnahmen? Wie findet es die richtige Balance zwischen konkreten Flüchtlingskrisen und deren historisch-kulturellen Kontexten sowie anthropologischen und universellen Simultaneitäten, die Flucht und Zwangsmigration zu eigen sind? Das im Juni 2022 eingeweihte Museum FLUGT – Refugee Museum of Denmark begegnet dieser Herausforderung mit einem innovativen Ansatz, der Technologie, Szenographie, multiperspektivisches Geschichtenerzählen und das Ausstellen von historischen Objekten kombiniert.1
Das zum Verbund der Vardemuseen in der Kommune Varde in Süddänemark gehörende Museum in Oksbøl ist an einem historischen Ort situiert: Zum Ende des Zweiten Weltkrieges kamen mehr als 250.000 deutsche Zivilisten in das besetzte Dänemark, vornehmlich auf der Flucht vor den sowjetischen Truppen aus den deutschen Ostgebieten. Von 1945 bis 1949 wurde die Aal Plantage in Oksbøl mit etwa 100.000 Flüchtlingen zum größten Flüchtlingslager in Dänemark, da diese nach dem Krieg nicht umgehend in das besetzte Deutschland zurückkehren durften.2 Auf seinem Höhepunkt beherbergte das Lager, das in den Jahrzehnten danach fast ganz abgetragen wurde, etwa 35.000 Flüchtlinge. Das vom dänischen Architektenbüro BIG – Bjarke Ingels Group entworfene Museum verbindet durch einen 500m2 großen Neubau aus Cortenstahl die beiden alten Flügel vom Krankenhaus des Flüchtlingslagers.3 Nach außen wirkt der Neubau wie eine geschlossene Mauer, nach innen aber öffnet er sich zu einem hellen, in die Höhe ragenden Raum aus Holz und Glas. Im linken Flügel befindet sich die Hauptausstellung Flüchtlinge zu allen Zeiten, die vornehmlich Geschichten von Flüchtlingen nach Dänemark seit dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Im rechten Flügel befinden sich unter anderem zwei Einführungsräume in das historische Flüchtlingslager Oksbøl, was dann durch einen Geländegang als Audiozeitreise erweitert wird. Museumsdirektor Claus Kjeld Jensen erklärt, dass die gesellschaftliche Aufgabe des Museums in der Demokratiebildung und Vermittlung der Menschenrechte liege. Entsprechend bietet FLUGT über Ausstellungen und Führungen hinaus unter anderem Vorträge und Diskussionsveranstaltungen mit der regionalen Bevölkerung als primärer Zielgruppe an.
Abb. 1: Außenaufnahme des Eingangs des Museums, mit den beiden ehemaligen Krankenhausflügeln zu jeder Seite
(Foto: © Stephan Jaeger, mit Erlaubnis von FLUGT)
Die Ausstellungen verzichten fast vollständig auf Text. Stattdessen wird durch einen digitalen Audioguide eine emotionale Verbindung zwischen den Besucher:innen und verschiedenen Flucht-Themen sowie den Geschichten der Flüchtlinge geschaffen. Der Audioguide – auf Dänisch, Deutsch oder Englisch – springt beim Durchgang durch die Ausstellung entweder automatisch durch Geosensoren an, oder Besucher:innen haben die Möglichkeit, Subthemen und Geschichten durch einen Pointer direkt anzusprechen.
Abb. 2: Audioguide für die Innen- und Außenausstellungen
(Foto: © Stephan Jaeger, mit Erlaubnis von FLUGT)
Die Hauptausstellung Flüchtlinge zu allen Zeiten ist in acht Teile unterteilt und folgt der Leitlinie von Zahlen zu konkreten Geschichten. Diese Geschichten sollen die Besucher:innen emotional und kognitiv ansprechen und das Gefühl vermitteln, dass jede(r) ein Flüchtling werden kann. Dadurch werden im emotional-kognitiven Erfahrungsraum des Museums Besucher:innen in ihren Erwartungen und Vorurteilen dazu eingeladen, die vielfältigen Stimmen von Flüchtlingen unterschiedlichster Krisen, Hintergründe und Altersgruppen zu begleiten. Es geht hierbei niemals um mimetische Erfahrung, einfaches Mitgefühl, sondern um eine komplexere Form von Empathie, die anthropologisch-universellen Bewegungen von Flüchtlingen mitzumachen, ohne sie direkt erleben zu können.4
Im ersten Raum erfahren die Besucher:innen die UN-Definition des Begriffs „Flüchtlings“ und Flüchtlingszahlen von Konfliktherden der letzten 100 Jahre – weltweit und auf Dänemark bezogen – und damit eine universelle Kontinuität. Der zweite Raum dient dazu, von den Zahlen zu den konkreten Geschichten von Flüchtlingen überzuleiten. In einem dunklen Spiegelsaal werden die Besucher:innen mit bekannten Bildern und Schlagzeilen von weltweiten Flüchtlingskrisen konfrontiert. Dann lädt eine Gruppe von Hologrammen die Besucher:innen ein, sie erstens als Menschen wahrzunehmen und zweitens mit ihnen auf die Reise durch die in der Ausstellung erzählten Geschichten zu gehen, um zu verstehen, welchen Weg ein Flüchtling vom Verankertsein in der Heimat über die Flucht, die Ankunft und die mögliche Integration in einem Land durchläuft. Die Hologramm-Spiegelinstallation ist ein gutes Beispiel, wie das Museum versucht, Besucher:innen, die selbst keine Flüchtlingserfahrung haben, dazu zu bringen, sich von ihrer Distanz als in Sicherheit befindliche Museumsbesucher:innen zu verabschieden und die eigene Subjektposition zu hinterfragen.
Abb. 3: Hologramme von Flüchtlingen in verdunkelten Spiegelsaal, Raum 2 „Wie aus Zahlen Menschen werden“, der Ausstellung 'Flüchtlinge zu allen Zeiten'
(Foto: © Stephan Jaeger, mit Erlaubnis von FLUGT)
Die Reise reicht vom dritten Raum mit sechs Inneneinrichtungen aus den Herkunftsländern, in denen sich Flüchtlinge die Frage stellen, ob sie wirklich fliehen sollen, über einen experientiellen Raum zur Flucht, in dem mit Fluchtgeräuschen und zwölf Bildschirmen die Besucher:innen immersiv mit teilweise verstörenden Bildern der Flucht konfrontiert werden bis zum letzten Raum „Ich war einmal Flüchtling“, in dem dänische Flüchtlinge, die heute fest in die dänische Gesellschaft integriert sind, vorgestellt werden. Immer wieder werden persönliche Objekte gezeigt, die in der Regel mit konkreten Geschichten einzelner Flüchtlinge verbunden sind.
Im fünften Raum – unterteilt in die Bereiche „In Sicherheit?“ und „Alltag?“ – werden in Form von Themeninseln die Herausforderungen deutlich, die Flüchtlinge im Zielland erwarten: zum Beispiel das emotionale Leiden nach der Flucht aus der Heimat, das Leiden von Kindern und Eltern, die Nähe von Leben und Tod auf der Flucht und in Aufnahme- und Flüchtlingslagern. Alle Themeninseln werden durch eine symbolische Installation veranschaulicht, wie eine Uhr über einer Art Bahnhofswartebank, die das ewige Warten auf Entscheidungen nach der Ankunft verdeutlicht. Dabei betont die Ausstellung den Fakt, dass Flüchtlinge in der dänischen Gesellschaft unterschiedlich begrüßt werden: Zum Beispiel wurden Menschen aus Ungarn Mitte der 1950er-Jahre und Ukrainer:innen in der Gegenwart willkommen geheißen, während diejenigen aus Deutschland 1945 und Syrien im letzten Jahrzehnt eher kritisch begrüßt oder sogar angefeindet wurden. Ein Teddybär aus dem griechischen Flüchtlingslager Moria auf Lesbos, dort 2020 gefunden, wird schwarz-weiß beleuchtet in einer Vitrine inszeniert, um darauf zu verweisen, wie nah auf der Flucht gerade für Kinder Leben und Tod beieinanderliegen. Verschiedene Objekte in der Vitrine der Themeninsel „Leben und Tod“ markieren unterschiedlichen Geschichten auf der Flucht und in Lagern, unterstützt von einem einführenden Audiobeitrag sowie drei bis zu ein-minütigen Geschichten über jeweils eine konkrete Verlusterfahrung aus Deutschland 1945, Vietnam 1982 und Syrien 2012.
Abb. 4: Raum 5 „In Sicherheit?“, Raumaufnahme vom Eingang gesehen, Ausstellung 'Flüchtlinge zu allen Zeiten'
(Foto: © Stephan Jaeger, mit Erlaubnis von FLUGT)
Abb. 5: Schwarz-weiß inszenierter Teddybär aus dem griechischen Flüchtlingslager Moria (2020), Raum 5 „In Sicherheit?“, Ausstellung 'Flüchtlinge zu allen Zeiten'
(Foto: © Stephan Jaeger, mit Erlaubnis von FLUGT)
Einer der eindrücklichsten Räume ist der sechste Raum „Ein Zuhause?“, in dem Besucher:innen acht Drahtfiguren begegnen, die jeweils in der ersten Person über ihre Gefühle des Flüchtlingsdaseins in Dänemark erzählen. Bei einigen Personen kann man sich auf ein Möbelstück zu den Figuren setzen, zum Beispiel zur syrischen Mutter Gihan, die in Oksbøl ihr neues Zuhause gefunden hat, und sich mit ihren Kindern vollkommen in Dänemark angekommen fühlt. Dagegen scheint sich Lisbeth, 1945 aus Königsberg geflohen, von den Besucher:innen wegzuwenden. Ihr Mann gilt als vermisst und sie geht aus dem Lager in Oksbøl nach Bayern, wo sich sie und ihre Kinder diskriminiert fühlen. Zina, 2014 aus Syrien gekommen, wird in ihrer ständigen Angst vor Abschiebung von ihrer Familie von Haarausfall geplagt und hegt Selbstmordgedanken. Einerseits sind diese Geschichten so eindrücklich, dass die individuelle Erfahrung vieler Flüchtlinge durchscheint. Andererseits sind übergreifende Motive – Dankbarkeit, Angekommensein, Erinnerung an die verlorene Heimat, Hoffnung, Angst, Warten, Zweifeln etc. – immer wieder in der Ausstellung zu spüren, sodass Besucher:innen der Vielfalt der Reise und Existenz als Flüchtling als strukturelle anthropologische Erfahrung näherkommen, ohne dass diese Erfahrung stereotyp wird.5 Dies geschieht auch im siebten Raum, in dem Besucher:innen 18 verschiedene Stimmen von Flüchtlingen auf drei großen Bildschirmen, in einer ca. 20-minütigen Endlosschleife laufend, hören können. Einerseits werden immer wieder dieselben Themen wie Sprache, Familie, Chancen, aber auch Traumata angesprochen, andererseits wird das Gefühl, sich immer noch als Flüchtling zu fühlen, in ganz verschiedenen Facetten und Nuancen ausgedrückt.
Abb. 6: Zina als Drahtfigur (Sofa mit Gihan und Kindern als Drahtfiguren im Hintergrund) in Raum 6 „Ein Zuhause“ der Hauptausstellung 'Flüchtlinge zu allen Zeiten'
(Foto: © Stephan Jaeger, mit Erlaubnis von FLUGT)
Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf den Umgang der Ausstellung mit Kontroversen geworfen. Ein medialer Debattiertisch im Abschnitt „Alltag?” spielt in sechs Szenarien unterschiedliche Positionen durch, die von dänischen politischen Parteien in den Medien vertreten werden. Hierzu zählt die Unterminierung des Unterschiedes der Begriffe von Migrant:innen und Flüchtlingen und die Frage, ob alle Flüchtlinge gleich sind, obwohl die Reaktionen der dänischen Bevölkerung einen klaren Unterschied in der Akzeptanz von zum Beispiel syrischen und ukrainischen Flüchtlingen zeigen. Zwar stellt das Museum am Ende jedes Szenarios nur Entweder-Oder-Fragen, dennoch dürfte die Installation viele Besucher:innen dazu bringen, kritisch über ihre eigenen Vorurteile und Positionierungen nachzudenken.
Abb. 7: Ausschnitt Debattiertisch in Raum 5 der Hauptausstellung 'Flüchtlinge zu allen Zeiten'
(Foto: © Stephan Jaeger, mit Erlaubnis von FLUGT)
Während die Stimmen der deutschen Flüchtlinge in der Hauptausstellung bereits sehr präsent sind, befindet sich im anderen erhaltenen Krankenhausflügel eine kurze einführende Ausstellung zum Lager Oksbøl, allerdings auf relativ geringer Fläche in zwei Räumen. Hier gibt das Museum durch historische Fotos, Gegenstände, das Modell einer Lagerbaracke und ein Filmtheater unterstützt von Übersichtsaudiotexten einen Überblick über das Lager und die das Leben im Lager dominierenden Themen, wie zum Beispiel Essen, Schule, Kultur und Theater, Religion und Tod. Der Schwerpunkt des Museums zum historischen Flüchtlingslager Oksbøl liegt jedoch auf dem Geländerundgang, der wiederum den kreativen Ansatz von Technologie und Geschichtenerzählen des Museums fortführt.
Abb. 8: Einführungsraum Flüchtlingslager Oksbøl
(Foto: © Stephan Jaeger, mit Erlaubnis von FLUGT)
Hier gelingt FLUGT eine äußerst innovative Ergänzung, um das materiell nicht mehr vorhandene, wenn auch in seinen Wegen und Straßen klar erkennbare Lager räumlich zu erschließen. Besucher:innen können auf 3,7km – mit möglicher Abkürzung nur 2,7km – einen Spaziergang durch die Landschaft des ehemaligen Lagers als eine Art Zeitreise ins Jahr 1946 machen. Der durch Radiosignale gesteuerte Audiowalk beginnt und endet mit der Stimme eines männlichen historischen Erzählers in der Gegenwart, der die Technik sowie die Vor- und Nachgeschichte des Lagers erklärt. Innerhalb dieses Erzählrahmens betreten und verlassen Besucher:innen die historische Realität durch eine simulierte Zeitreiseinstallation in das Jahr 1946. Eine knapp dreißig Sekunden dauernde Audiocollage aus einem guten Dutzend minimalen Bruchstücken ikonischer Nachrichten und populären Popsongs führt vom Jahr 2020 mit Corona-Pandemie über unter anderem 9/11, den Sieg Dänemarks bei der Fußballeuropameisterschaft 1992, ABBA, die Mondlandung und Dänemarks Sieg beim Eurovision Song Contest 1963 in die Realität des Flüchtlingslagers Oksbøl im Jahr 1946. Hier werden die Besucher:innen von einer fiktiven jungen Krankenschwester namens Alice begrüßt, die sich als Besucher:innenführerin durch das Lager anbietet.
Auf dem Rundgang, auf dem nur wenige wirkliche Spuren des alten Lagers zu entdecken sind, erklärt Alice die Architektur und die Tagesabläufe des Lagers, oft in kurzen Unterhaltungen mit Personen aus historischen Personen wie Walter Warndorf, dem ehemaligen Direktor des Staatstheaters Danzig, der nun das Theater in Oksbøl leitet. Man geht in die Werkstätten, die Großküchen und die Schule, hört von Frauen von Nazigrößen wie der Frau des SS-Obergruppenführers Werner Best, sieht, wie Alice mit einem dänischen Wachmann flirtet und von einer anderen Zukunft träumt und wie sie emotional über die hohe Kindersterblichkeit an Diphterie und den nun endlich verfügbaren Impfstoff berichtet. Einerseits erfahren die Besucher:innen nicht viel, was sie nicht bereits im Museum durch Fotos und Objekte gesehen haben. Andererseits schafft die Ausstellung für diejenigen, die sich darauf einlassen, eine sinnliche Reise der Imagination. Die Mehrzahl der Besucher:innen äußern sich positiv über die Zeitreiseerfahrung, wie die Leiterin der Besucher:innen- und Presseabteilung der Vardemuseen, Majken Graver, berichtet.
Abb. 9: Zeitportale, Geländerundgang „Eine Zeitreise ins Lager Oksbøl im Jahre 1946“
(Foto: © Stephan Jaeger, mit Erlaubnis von FLUGT)
Abb. 10: Ehemaliges Theater im Flüchtlingslager Oksbøl, Geländerundgang „Eine Zeitreise ins Lager Oksbøl im Jahre 1946“
(Foto: © Stephan Jaeger, mit Erlaubnis von FLUGT)
Alices Erzählerinnenstimme variiert ständig zwischen der Erzählung aktueller Ereignisse im Lager sowie Informationen über die Menschen, denen sie auf der Tour begegnet, und ihren Geschichten einerseits, und allgemeineren Beschreibungen dessen, was es bedeutet, im Lager zu leben, andererseits. Die Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart lässt sich auf vielfältige Weise beobachten: Zum Beispiel umfasst die Geräuschkulisse der Landschaft von 1946 viele Hintergrundgeräusche von Pferden, Wagen, plappernden Menschen, spielenden Kindern, Schritten von Menschen sowie zwitschernden Vögeln und dem Rascheln des Windes. Nimmt man die Kopfhörer ab und nutzt die Lautsprecherfunktion des Audioguides, überlagern sich auf unheimliche Weise die Geräusche von Wind und Schritten in Vergangenheit und Gegenwart und offenbaren die Simulationsfähigkeiten einer solchen narrativen Installation. Da die physischen Installationen abstrakt bleiben, sind die Besucher eingeladen, ihre Imagination zu nutzen, um den Raum mit visuellen und sinnlichen Bildern zu füllen, die zu Ton und Landschaft passen. Die Zeitreise destabilisiert die Erzähler:in-Subjekt-Position und ermöglicht es den Besucher:innen, eine erfahrungsräumliche Verbindung zur Vergangenheit aufzubauen, was einer/einem klassischen erklärenden und erzählenden Historiker:in-Erzähler:in nicht gelingen könnte.
Gleichzeitig ist natürlich anzumerken, dass die Geschichtsvermittlung durch eine starke personenbezogene Erzähler:innenfigur dazu neigt, Komplexitäten zu vereinfachen und durch den stärkeren Fokus eher bekanntes stereotypes Wissen zu wiederholen. Zudem ist ein Gang durch eine Geländeausstellung abhängig vom Wetter, von möglichen technologischen Störungen und nicht barrierefrei zugänglich. Auch deshalb plant das Museum unter Leitung seines Chefhistorikers John V. Jensen in einem weiteren historischen Gebäude – der „Baracke“ – eine Ausstellung, die sowohl die historischen Informationen über die Flüchtlingslager nach dem Zweiten Weltkrieg in Dänemark erheblich verdichten soll als auch neue Vermittlungsangebote wie die Rekonstruktion von Lagerbetten enthalten wird. Sie wird voraussichtlich im Sommer 2024 eröffnet werden. Die größte Forschungsleistung von FLUGT besteht neben der genauen Erforschung des Flüchtlingslagers Oksbøl und der deutschen Nachkriegsflüchtlingslager im Allgemeinen, sicherlich in der Durchführung und Archivierung zahlreicher Interviews mit Flüchtlingen, die aus diversen Herkunftsländern nach Dänemark gekommen sind. Das Museum hofft laut Stina Troldtoft Andresen, der Leiterin der Abteilung Ausstellungen der Vardemuseen, diese Quellen noch auf seiner Website vollständig aufgearbeitet zugänglich machen zu können.
Auch wenn die Mehrzahl der Besucher:innen aus Dänemark und Deutschland kommen, ist FLUGT in seinem Anspruch ein Museum, das für Besucher:innen aus aller Welt, die nach Jütland kommen, ein Anzugspunkt sein kann. Es ist hervorragend für Schüler:innen- und Student:innengruppen geeignet, die mehr über Zwangsmigration im Allgemeinen und das Flüchtlingslager Oksbøl im Besonderen erfahren wollen. Hierbei ist – wie FLUGT immer wieder betont – natürlich zu beachten, dass Besucher:innen, die selbst Flüchtlinge waren, durch die Ausstellung nicht retraumatisiert werden. Für das deutsche Museumspublikum ist sicherlich gerade der Emotionalität und Fakten zusammenbringende Ansatz interessant, der sich substantiell von dem eher auf kognitive Distanz der Besucher:innen angelegten deutschen Museumsansatz unterscheidet.6 Während Letzterer immer in der Gefahr ist, dass Geschichten einzelner Menschen zu universellen Aussagen umgewandelt werden, hält FLUGT die Balance zwischen Besonderem und Allgemeinen. Zudem kann der auf konkrete Erfahrungshaftigkeit angelegte Ansatz, der Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen lässt, neue Besucher:innengruppen erschließen, die traditionell nicht in ein Geschichtsmuseum gehen würden. Besucher:innen werden immer wieder herausfordert, ihre distanzierte Besucher:innenposition zu hinterfragen. Gleichzeitig gibt gerade die Hauptausstellung wenig Deutungen vor. Besucher:innen haben weiterhin die Möglichkeit, ihre eigenen Schlussfolgerungen aus den Exponaten, Installationen und erzählten Geschichten zu ziehen.
Anmerkungen:
1 Es gibt leider noch keinen Katalog zur Ausstellung, wobei mehrere Arbeiten zum historischen Kontext des Flüchtlingslagers Oksbøl durch den Chefhistoriker der Varde Museen, John V. Jensen, in Arbeit sind. Siehe auch John V. Jensen, Deutsche auf der Flucht, Aarhus 2022.
2 In unmittelbarer Nähe des Museums befindet sich die vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge verwaltete Kriegsgräberstätte Oksbøl. Die Anlage ist Ruhestätte für 1.675 Flüchtlinge und 121 Soldaten. Unter ersteren sind viele Kinder, die gerade in den ersten Monaten nach Kriegsende an Infektionen und Krankheiten gestorben sind.
3https://www.big.dk/projects/denmark%26%23039%3Bs-refugee-museum-4593 (18.11.2023).
4 Siehe zum Potential von emotional-erzählenden Ausstellungen, multiple Bedeutungen herauszuarbeiten und möglicherweise Transformationsprozesse von Besucher:innen einzuleiten, beispielsweise Joy Sather-Wagstaff, Making Polysense of the World. Affect, Memory, Heritage, in: Divya P. Tolia-Kelly u.a. (Hrsg.), Heritage, Affect and Emotion, London 2017, S. 12–29, bes. S. 24.
5 Vgl. zu den strukturellen Erfahrungspotentialen von Geschichtenerzählen im Museum Kerstin Barndt / Stephan Jaeger, Introduction. Museums, Narratives, and Critical Histories, in: dies. (Hrsg.), Museums, Narratives, and Critical Histories. Narrating the Past for the Present and Future, Berlin 2024, S. 1–22, bes. S. 4–15 (im Druck).
6 Vgl. zum Beispiel das im Juni 2021 eröffnete Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin, https://www.flucht-vertreibung-versoehnung.de/de/home (18.11.2023).