Das Jahrhundert der Flucht

Veranstalter
Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung
PLZ
10963
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.06.2021 -
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Jaeger, Department of German and Slavic Studies, University of Manitoba

Was genau ist die Aufgabe des am 23. Juni 2021 im komplett entkernten und neugestalteten Deutschlandhaus am Anhalter Bahnhof in Berlin eröffneten Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung und seiner Ständigen Ausstellung?1 Wie kann dieses Dokumentationszentrum den Spagat bewältigen, einerseits eine vermeintliche Leerstelle des deutschen Gedenkens und des historischen Wissens zum Leiden der deutschen Vertriebenen um 1945 zu schließen und andererseits einen Ort zu schaffen, der allen Flüchtlingen und Vertriebenen, gerade im heutigen Deutschland, eine Sprache und einen Raum gibt sowie zu kritischen Diskussionen über Zwangsmigration im 21. Jahrhundert einlädt? In der vorliegenden Rezension interessiere ich mich weniger für die ausgiebig dokumentierte, sehr kontroverse Entstehungsgeschichte des Dokumentationszentrums im Zusammenhang mit der ab 1999 entwickelten Idee für ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ des Bundes der Vertriebenen und der 2008 durch die Bundesregierung geschaffenen unselbstständigen Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung.2 Diskutieren möchte ich vielmehr, was eine Institution und besonders deren Ständige Ausstellung, irgendwo zwischen Gedenkstätte, historischem Museum, Dokumentations- und Forschungszentrum angesiedelt, im von Migration und Einwanderung geprägten Deutschland der 2020er-Jahre leisten kann.

Die Direktorin Gundula Bavendamm, seit 2016 in diesem Amt, benennt in einer konkreten Anfrage nach dem intendierten Publikum des Dokumentationszentrums drei Hauptzielgruppen: „(1) Die noch lebenden Heimatvertriebenen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und vermehrt auch die zweite und dritte Generation aus diesen Familien. (2) Die zahlreichen Menschen verschiedenster kultureller Herkunft, die in den letzten Jahrzehnten als Flüchtlinge oder Vertriebene nach Deutschland und insbesondere Berlin gekommen sind. (3) Schülerinnen und Schüler bzw. Jugendliche verschiedenster Klassen- und Altersstufen mit und ohne Fluchthintergrund.“ Sie bemerkt, dass „von den rund 800 Gruppen, die [2023] eine Führung durch die Ständige Ausstellung machten, 33 Prozent Schulklassen [waren], vorwiegend Sekundarstufen 1 und 2, und Jugendgruppen“.3


Abb. 1: Außenaufnahme des Deutschlandhauses mit Dokumentationszentrum. Der Gebäudekomplex (Europahaus) war von 1925 bis 1931 für verschiedene Veranstaltungs- und Unterhaltungszwecke errichtet worden (Festsäle, Theater, Kino, Cafés). Während der NS-Zeit gehörten das Reichsarbeitsministerium (ab 1938) und der Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (ab 1939) zu den Nutzern. Nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wurde ein Teil des Baus instandgesetzt bzw. wiedererrichtet. Er diente nun als Begegnungs- und Kulturort für deutsche Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten sowie für Übersiedler aus der DDR. 1974 wurde die Stiftung Deutschlandhaus gegründet und das Gebäude nach ihr benannt; hier waren mehrere Jahrzehnte die Landsmannschaften des Bundes der Vertriebenen untergebracht. Seit 2013 wurde das denkmalgeschützte Deutschlandhaus von den Architekten Bernhard und Stefan Marte für die heutigen Ausstellungszwecke saniert und umgebaut. Siehe https://www.bbr.bund.de/BBR/DE/Bauprojekte/Berlin/Kultur/stiftung-flucht-vertreibung-versoehnung/deutschlandhaus.html (28.02.2024) und die Zeittafel im Erdgeschoss des Gebäudes. Eine Medienstation informiert dort ausführlicher über die Ortsgeschichte.
(Foto: Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung)

Die Ständige Ausstellung ist auf zwei Stockwerke und insgesamt 1.300 Quadratmeter Fläche mit ca. 700 Exponaten und zahlreichen Medienstationen verteilt. Seit ihrer Gründung baut die Stiftung auch eine eigene Sammlung auf. Im ersten Obergeschoss begegnen die Besucher:innen in sechs Themeninseln – Nation und Nationalismus, Krieg und Gewalt, Wege und Lager, Erinnerungen und Kontroversen, Recht und Verantwortung sowie Verlust und Neuanfänge – der Ausstellung „Eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen“. Diese entfaltet das Thema von der Zeit des Ersten Weltkrieges bis zur Gegenwart mit Dutzenden unterschiedlicher globaler Beispiele von der Flucht und Vertreibung der Deutschen, der Teilung Indiens, den Balkan- und Jugoslawienkriegen im 20. Jahrhundert bis zur Gewalt und Vertreibung gegen die Rohingya in Myanmar. Jede Themeninsel wird durch eine Leitinstallation eröffnet, zum Beispiel eine Vitrine mit Ausweisen und anderen Identitätsdokumenten oder einen Stapel von Gesetzestexten zum Schutz von Flüchtlingen. Zu sehen sind interessante historische Objekte, doch bleiben diese – etwa in der Themeninsel Krieg und Gewalt – als kurze Fragmente von Geschichten oft so unverbunden, dass es für Besucher:innen ohne Führung schwierig sein dürfte, darin mehr Sinn zu erkennen, als dass es allgemeine Beispiele für bestimmte Unterkapitel sind. Die konzeptuell wichtige Medienstation zu Begriffen wie Flüchtlinge, Vertriebene, Migrationshintergrund oder Genozid versteckt sich im hinteren Bereich (in der Themeninsel zu Erinnerungen), anstatt von vornherein Orientierung zu bieten. Zudem sind die recht kurzen Definitionen dort vornehmlich auf deutsche Perspektiven und Rechtskategorien beschränkt.


Abb. 2: Erstes Obergeschoss, Leitinstallation mit Pässen und weiteren Identitätsdokumenten, Themeninsel Nation und Nationalismus
(Foto: Stephan Jaeger)

Im zweiten Obergeschoss befindet sich der Ausstellungsteil „Flucht und Vertreibung der Deutschen“, der chronologisch in drei Abschnitten angelegt ist. Er führt von der Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus und den Vertreibungen während des Zweiten Weltkrieges sowie dem Bereich „Neuordnung durch Vertreibungen“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Abschnitt über die Integration von Vertriebenen in Deutschland nach 1945. In letzterem wird ausführlich auf die kollektive Erinnerung der Deutschen und die individuelle Erinnerung der Vertriebenen Bezug genommen. Ein sehr knapp geratener Ergänzungsteil thematisiert den Aspekt der Versöhnung und europäischen Verständigung ab 1989.

Auf beiden Stockwerken wird die Ausstellung von einem gut funktionierenden Audioguide in sechs Sprachen begleitet (Deutsch, Englisch, Polnisch, Russisch, Tschechisch, Arabisch), der mit insgesamt 197 Stationen in allen Bereichen deutliche Vertiefungen von Einzelthemen und -geschichten ermöglicht. Selbst zweieinhalb Jahre nach Eröffnung liegt leider noch kein Katalog zur Ständigen Ausstellung vor (er soll im Herbst 2024 erscheinen). Das Zentrum beherbergt auch einen Raum der Stille zum Innehalten und zur Reflexion, eine Bibliothek und ein Zeitzeugenarchiv4, letzteres bisher mit eindeutigem Schwerpunkt auf den Geschichten der Deutschen.


Abb. 3: Zweites Obergeschoss, Leiterwagen der Familie Ferger (links im Bild) und erster Teil des Abschnitts „Vertriebene und Flüchtlinge in Deutschland nach 1945“. Die zur deutschen Bevölkerungsgruppe gehörende Familie Ferger war im Oktober 1944 aus einem Dorf im heutigen Serbien vor der Roten Armee nach Oberösterreich geflüchtet. Der Leiterwagen wurde später nicht mehr als Arbeitsgerät genutzt, aber zu Familienfeiern wieder zusammengebaut.
(Foto: Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung)

Während der erste Stock stärker durch historiographische Thesen gerade zur Bedeutung von Nationalismus für Minderheiten geprägt ist, widmet sich die Ausstellung im zweiten Obergeschoss – ausgehend vor allem von Deutschland, aber mit europaweiten Folgen – der Frage, wie politische Ideologien, Strukturen und Entscheidungen den Boden für Flucht und Vertreibung bereiteten. Dies drückt die eindeutige Erkenntnis aus, dass es ohne den Nationalsozialismus sowie dessen Bevölkerungs-, Kriegs- und Vernichtungspolitik die Flucht und Vertreibung der Deutschen vor und nach Kriegsende nie gegeben hätte. Die kuratorische Entscheidung, die Ursachen von Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration auf einer allgemein politischen Ebene zu belassen, führt aber gleichzeitig dazu, dass die Gegenüberstellung von Tätern und Opfern für den komplexen deutschen Kontext nur an wenigen Stellen in ihrer Schwarz-Weiß-Dichotomie hinterfragt werden kann.5 Zum Beispiel wird lediglich am Rande erwähnt, wie spätere Vertriebene zuvor von neuem Besitz nach Zwangsumsiedlungen profitiert hatten.


Abb. 4: Biographisches Cluster im zweiten Obergeschoss, „Deutsch genug?“. Nach der sowjetischen Besatzung des Baltikums 1940 siedelte die litauendeutsche Familie Schiller nach Pommern über. Ihr Einbürgerungsantrag im Deutschen Reich wurde aber abgelehnt. Im Februar 1945 musste die Familie vor der Roten Armee flüchten und wurde für drei Jahre voneinander getrennt.
(Foto: Stephan Jaeger)

Das Dokumentationszentrum hat ein starkes Interesse daran, die Erfahrungsebene hervorzuheben, was Flucht und Vertreibung konkret bedeuten. Dies gelingt an zwei Stellen der Ausstellung besonders gut. Erstens sehen sich Besucher:innen in der Sektion „Verlust und Neuanfänge“ im ersten Stock jeweils drei lebensgroßen Hologrammen von Zeitzeug:innen gegenüber, die in die Bundesrepublik, in die DDR oder das wiedervereinigte Deutschland geflohen sind oder ausgewiesen wurden. In einer etwa zehnminütigen Multimedia-Installation von drei vertikalen Bildschirmen treten insgesamt neun Zeug:innen aus drei historischen Kontexten von Flucht und Vertreibung auf – den deutschen Ostgebieten zum Ende des Zweiten Weltkrieges und kurz danach, aus Südvietnam in den späten 1970er-Jahren sowie aus Bosnien-Herzegowina im Zuge der Jugoslawienkriege in den frühen 1990-Jahren. Durch Ausschnitte aus längeren Interviews geben die Befragten einen kurzen Eindruck von ihren Flucht- und Vertreibungsgeschichten sowie ihrer Integration im Ankunftsland.


Abb. 5: Installation mit Hologrammen, erstes Obergeschoss, Themeninsel Verlust und Neuanfänge – Huyen Tran Chau (geb. 1963), Hans Schiller (geb. 1941), Anita Dadić (geb. 1977)
(Foto: Stephan Jaeger)

Zum Beispiel erzählt die aus Bosnien stammende Anita Dadić von ihrer gebrochenen Immigrationsgeschichte: Einerseits konnte sie sich mit ihrer Familie gut in Deutschland einleben, doch andererseits verlor sie ihre Eltern zum zweiten Mal, als diese nach dem Ende des Bosnienkrieges Deutschland wieder verlassen mussten. Hans Schiller beschreibt die Trennung der Familie bei der Flucht über die Ostsee von Pommern nach Dänemark im Jahr 1945 und später die schwierige Aufnahme von Flüchtlingen in Niedersachsen. Der Schwerpunkt der Installation liegt auf den Herausforderungen und Chancen der Integration in Deutschland. Besucher:innen haben zudem die Möglichkeit, an Audiostationen auf der Rückwand der Filminstallation tiefer in etwa zehnminütige Ausschnitte der einzelnen Zeitzeugenbiographien einzutauchen und zu den dargestellten Menschen eine Verbindung aufzubauen. Diese Option, kognitive und emotionale Bezüge zwischen unterschiedlichen Fluchtgeschichten herzustellen, ist sehr ansprechend; sie wird allerdings in anderen Ausstellungsteilen zu wenig genutzt.

Zweitens wird Erfahrungsgeschichte für die Besucher:innen sehr plastisch durch dreizehn auf dem Audioguide abhörbare Teile von jeweils drei sich ergänzenden Stimmen ermöglicht, die sich über beide Stockwerke ziehen. Die kurzen Aussagen enthalten in der Regel je eine Stimme aus der Gruppe der Zeitzeug:innen (oder deren Nachfahren), Kurator:innen und meistens Historiker:innen. Ein Beispiel ist der Hausschlüssel von Paul Rohrmoser, der sein Haus in Königsberg im Januar 1945 verlassen musste. Während die Tochter Helgard Rohrmoser als Schenkerin des Objekts das Gefühl ausdrückt, dass das Gedenken an ihren Vater fortbesteht und der Schlüssel im Museum ein Zuhause gefunden hat, verbindet die Kurdischlehrerin Mirav Najah Sido den Schlüssel mit ihrer eigenen Geschichte des verlorenen Hauses in Aleppo, wodurch der mitgenommene Schlüssel zu einem übergreifenden Symbol wird. Der Kurator Alfons Adam stellt den biographischen Kontext her, dass das verlorene Haus Rohrmosers Lebenstraum war.

Generell ist die Ständige Ausstellung vor allem auf eine kosmopolitische Versöhnung orientiert, die eine globale Geschichte von Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration zu repräsentieren versucht, anstatt dauerhafte Kontroversen zu zeigen. Eine der Ausnahmen ist die Drei-Stimmen-Installation zur Charta der Heimatvertriebenen vom 5. August 1950. Während die Kuratorin Andrea Moll und der Historiker Mathias Beer die museologische und historische Bedeutung des Dokuments differenziert erklären, betont Bernd Fabritius, Präsident des Bundes der Vertriebenen (seit 2014), die aus seiner Sicht positive Rolle der Heimatvertriebenen als Friedensgeber für Europa. Dies widerspricht gerade der komplexen historischen Kontextualisierung von Beer zwischen deutschem Opferdiskurs, dem eingeforderten Recht auf Heimat und Fragen aktueller Zwangsmigration.6


Abb. 6: Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 und Drei-Stimmen-Installation zu diesem Dokument
(Foto: Stephan Jaeger)

Im Forum im ersten Stock gibt es verschiedene Möglichkeiten für Besucher:innen, sich interaktiv einzubringen, unter anderem in regelmäßig geänderten Abstimmungen etwa zur Funktion des Dokumentationszentrums, zum Ukraine-Krieg und zum aktuellen Nahostkonflikt. Am interessantesten ist das Angebot, dass Besucher:innen ihre eigenen Fluchtrouten (bzw. diejenigen von Familienmitgliedern) mit einer biographischen Notiz auf einem Computer verzeichnen können. Alle Besucher:innen können dann an einer Medienstation mit digitaler Europa- und Mittelmeerraumkarte die Verflechtungen und Überlagerungen von Zwangsmigration zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Kulturen mit Bezug auf das Publikum des Dokumentationszentrums erfahren.


Abb. 7: Forum mit Partizipationsangeboten, erstes Obergeschoss
(Foto: Stephan Jaeger)

Trotz dieser sehr gelungenen Ansätze, die Besucher:innen kognitiv und affektiv in ihrer Selbstpositionierung mit dem Dargestellten in Verbindung zu bringen, ist der Großteil der Ausstellung didaktisch-erklärend, was Besucher:innen wenig Spielraum lässt, eigene historische Urteile und Erfahrungen zu entwickeln. Man lernt von der nicht-lokalisierten Perspektive der Historiker:innen. Die meisten Geschichten von Flucht und Vertreibung in den Ausstellungstexten und im Audioguide werden in der dritten Person als biographische Fakten berichtet. Gerade in den Teilen zu Flucht und Vertreibung der Deutschen um 1945 stellen sie vornehmlich eine Auflistung exemplarischer Fälle dar, die verschiedene Kategorien und regionale Herkunft abdecken – einschließlich einzelner Beispiele gerade der Vertreibungen von Pol:innen –, während individuelle Erfahrungen nicht im Vordergrund stehen.7 Der durchaus reichhaltige Abschnitt zur Zeit nach 1945 beschränkt sich auf individuelle und kollektive Erinnerungen an Heimat und Traditionen für die Mehrzahl der Vertriebenen, sodass ungeklärt bleibt, inwieweit sich viele Vertriebene eigentlich mit der west- oder ostdeutschen Gesellschaft arrangiert bzw. sich in diese integriert haben. Auch die jahrzehntelange Rolle der Vertriebenenverbände als „pressure groups“ in der Bundesrepublik könnte jenseits der oben diskutierten Drei-Stimmen-Installation zur Charta der Heimatvertriebenen noch tiefgehender und multiperspektivischer dargestellt werden. So entsteht letztlich doch eher ein kollektiver Opferdiskurs, statt unterschiedliche Erfahrungen nebeneinander zur Geltung zu bringen.8

Mit der Ausnahme einiger Darstellungstechniken sowie der Präsenz zahlloser Geschichten und Objekte der deutschen Flucht und Vertreibungen erscheinen beide Ausstellungsebenen eher unverbunden. Die Architektur des österreichischen Architektenbüros Marte.Marte ist zwar ästhetisch beeindruckend, führt aber dazu, dass der Eingang im Erdgeschoss und die beiden Ausstellungsobergeschosse gerade für Einzelbesucher:innen kaum Orientierung bieten, wie man sich durch die Ausstellung bewegen könnte. Auch die unglückliche Entscheidung, die durch ein Panaromafenster geschaffene zentrale Sichtachse zur benachbarten „Topographie des Terrors“ im ersten Obergeschoss aus konservatorischen Gründen durch einen Vorhang zu verdecken, statt kreativere Lösungen zu suchen, die die Sichtachse bei gleichzeitiger Verdunkelung inszenieren könnten, zeigt den geringen Dialog zwischen Gebäudearchitektur und Ausstellungsdesign. Die strenge Ästhetik der Ausstellungsgestaltung des Stuttgarter Ateliers Brückner wirkt thematisch passend, erschwert aber, dass Besucher:innen sich zu den durch rechtwinklige Tische und Vitrinen auf Distanz gehaltenen Objekten und Objektgeschichten selbst positionieren können.


Abb. 8: Wendeltreppe zum zweiten Obergeschoss
(Foto: Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung)

Letztlich verfolgt das Dokumentationszentrum ein Konzept von zwei unterschiedlichen Ausstellungen9; die obere wirkt mit dem bevorstehenden Sterben der letzten Zeitzeug:innen als größtenteils abgeschlossen. Die Kontroversen zwischen Polen und Deutschland um den Ursprung des Zentrums werden zwar genannt, aber im abschließenden, bis 2020 reichenden Zeitstrahl zur europäischen Verständigung im zweiten Obergeschoss scheint die Gründung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung die Probleme gelöst zu haben. Deshalb fehlt ein klares Sinnangebot, die obere Ebene wieder mit den aktuellen, politisch brisanten Fragen zu Zwangsmigration und Akzeptanz bzw. Ablehnung von Flüchtlingen im heutigen Deutschland zu verknüpfen.

Vergleicht man das erste Konzept für die Ständige Ausstellung von 201210 mit dem unter Leitung von Gundula Bavendamm überarbeiteten Konzept von 201711 und der entstandenen Ausstellung, wird sehr deutlich, dass Flucht und Vertreibung der Deutschen durch das erste Obergeschoss zwar in einem langfristigen europäischen und globalen Zusammenhang von Zwangsmigration stehen; doch die Grundidee, dass die Universalmetapher der Versöhnung es erlaube, alle Formen von Zwangsmigration unter der Leitlinie deutscher Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges zu verstehen, bleibt relativ unverändert. Um wirklich ein dynamisches Bildungsangebot für die heutige deutsche Einwanderungsgesellschaft zum nicht abschließbaren Thema der Zwangsmigration schaffen zu können, müsste auch die Ständige Ausstellung über ein vornehmlich auf die Vergangenheit orientiertes Konzept hinausgehen. Ansätze hierzu sind im pädagogischen Begleitprogramm und in Veranstaltungen des Dokumentationszentrums vielfach erkennbar, auch in Projekten für Sonderausstellungen (demnächst ab April 2024 in Kooperation mit dem UNHCR die Sonderausstellung „Becoming Who We Are – Studium trotz Flucht“, die mit Arbeiten des Schweizer Fotografen Antoine Tardy die Geschichten von rund 20 Flüchtlingen vorwiegend aus Krisengebieten in Afrika und im Nahen Osten erzählt) oder in der Erweiterung des Archivs durch ein geplantes Oral-History-Projekt „Von Bosnien nach Berlin“. Darüber hinaus arbeitet das Dokumentationszentrum mit dem Museum Friedland bei Göttingen und der Berliner Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde an dem Projekt „Was uns verbindet – Erfahrungen von Zwangsmigration gestern und heute“, um die Erfahrungen von Zeitzeug:innen mehrerer Generationen mit unterschiedlichen Biographien und kulturellen Hintergründen in Dialog zu bringen. So ist zu hoffen, dass diese Verflechtung von Zwangsmigrationen über verschiedene Zeiten und Kulturen hinweg trotz der fehlenden Verzahnung der beiden Teile der Ständigen Ausstellung mittelfristig doch besser gelingen kann.

Anmerkungen:
1 Das Dokumentationszentrum befindet in direkter Nähe der „Topographie des Terrors“ und des als Neubau am Anhalter Bahnhof geplanten Exilmuseums. Zu letzterem siehe https://stiftung-exilmuseum.berlin/de (28.02.2024).
2 Siehe z.B. Gregor Feindt, From ‘Flight and Expulsion’ to Migration. Contextualizing German Victims of Forced Migration, in: European Review of History/Revue européenne d’histoire 24 (2017), S. 552–577. Institutioneller Träger der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist die Stiftung Deutsches Historisches Museum.
3 E-Mail-Austausch Stephan Jaeger – Gundula Bavendamm, 22.02.2024.
4 Nach Registrierung sind einige Zeitzeug:inneninterviews zugänglich unter https://portal.oral-history.digital/fvv/de (28.02.2024).
5 Siehe auch die deutliche Kritik von Winson Chu, From Expellee to Refugee. Absolute Victimhood and the Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, in: Central European History 55 (2022), S. 587–595, der die „segregation of macrolevel collective guilt from microlevel victimization“ herausarbeitet, hier S. 592.
6 Zur Charta der Heimatvertriebenen siehe auch Feindt, From ‘Flight and Expulsion’ to Migration, S. 554f.
7 Siehe demgegenüber die Erzähl- und Darstellungsstrategien in FLUGT – Refugee Museum of Denmark (2022 eröffnet) und meine Rezension der dortigen Dauerausstellungen, in: H-Soz-Kult, 09.12.2023, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-139113 (28.02.2024).
8 Siehe auch Chu, From Expellee to Refugee.
9 So auch Andreas Kilb, Die Heimat ist ein Stück Holz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.06.2021, S. 11, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/ausstellung-der-stiftung-flucht-vertreibung-versoehnung-17400611.html (28.02.2024).
10 Siehe https://assets.ctfassets.net/qdxd3oucyup5/4iFCeJx1lrZVKDkC46eIYl/baab9cdd788f3858e2eb9043cd0a3d0f/Konzeption_fu__r_die_Stiftungsarbeit_sfvv.pdf (28.02.2024). Siehe auch das Forum: Vertreibungen ausstellen. Aber wie? Debatte über die konzeptionellen Grundzüge der Ausstellungen der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, in: H-Soz-Kult, 09.09.2010, https://www.hsozkult.de/text/id/texte-1350 (28.02.2024).
11 Siehe https://sfvv.e-fork.net/sites/default/files/2023-11/konzept-der-staendigen-ausstellung_sfvv.pdf (28.02.2024).