Street Art, als illegaler Teil der Urban Art und im Hinblick auf reine Schriftgestaltungen als Graffiti bezeichnet, hat im Saarland bereits eine längere Tradition. Seit 2011 wird im Weltkulturerbe Völklinger Hütte alle zwei Jahre eine „Urban Art Biennale“ veranstaltet und jeweils mit einem opulenten Katalog versehen, der die dort versammelten Künstler:innen als Teil des internationalen Kunstmarkts präsentiert, mindestens als Aspirant:innen einer Karriere in Galerien und Museen.1 Seit etwa derselben Zeit werden an der örtlichen Kunsthochschule und ihrer Völklinger Dependance Lehraufträge für die Schnittstelle von Comic und Street Art vergeben, und einige der einstmals im Verborgenen agierenden Sprayer, Writer oder Stencil Artists sind nun arrivierte Galerist:innen und Dozent:innen; manche haben sogar ihren Hochschulabschluss mit einer solchen Arbeit gemacht. Insofern ist eine Ausstellung, die sich den Grundlagen dieser Ausdrucksform widmet, schon länger überfällig – und, soviel sei vorab bemerkt, sie wird diesem Anspruch in vollem Umfang gerecht.
Abb. 1: Eingang zum Historischen Museum Saar, Saarbrücken
(© Historisches Museum Saar, Foto: André Mailänder)
Ausgangspunkt von Ausstellung und Katalogbuch ist, wie der Kurator und Herausgeber Ulrich Blanché anmerkt, ein Perspektivwechsel in der Betrachtung, wie er sich im Titel andeutet: Es geht nicht darum, die Arbeit von Street Artist:innen mit den Weihen der anerkannten Kunst zu versehen, sondern hier wird – ganz im Sinn eines kulturhistorischen Museums – eine Archäologie aller Vor- und Frühformen dieser Bildgattungen präsentiert, in einer Vielzahl von Medien und mit besonderer Berücksichtigung des wichtigsten Aspekts dieser Arbeit, ihrer ephemeren und zeitlich stark begrenzten Existenz. Gleich zu Beginn des Rundgangs wie im Vorwort des Buchs wird man darauf hingewiesen, dass hier kaum Originale, sondern in erster Linie Reproduktionen ausgestellt sind, und auch diese in oftmals prekärer Qualität. Medial geschickt hat sich Sabine Reiser als Ausstellungsgestalterin dafür entschieden, die historischen Materialien entweder als Videoprojektion oder als fototapeten-artige Großreproduktion zu präsentieren, um die Atmosphäre und Dimension von Stadträumen wiederzugeben; hinzu kommen einige Tische mit Aufsatzvitrinen, in denen sich Notizbücher, Handzettel und anderes Kleinmaterial finden.
Abb. 2: Blick vom Eingang in die Ausstellungshalle
(© Historisches Museum Saar, Foto: André Mailänder)
Der Raum für Wechselausstellungen im Historischen Museum Saar ist nicht einfach zu bespielen: Direkt hinter der großen Glaswand, durch die man in den Raum tritt, befindet sich die Treppe nach unten zur Dauerausstellung des Museums. Besucher:innen müssen sich also noch in der Eingangs-Situation nach links oder rechts wenden, um die Sonderausstellung anzuschauen. Das Treppengehäuse mit dem umlaufenden Geländer nimmt dann die gesamte Mitte des vorderen Raumteils ein, sodass man sich zum Ansehen der Ausstellung auf zwei schmalen Gängen bewegt, die entweder zum nahen Hinschauen auf der eigenen Raumseite oder zum Weit-Weg-Sehen auf der gegenüberliegenden Seite zwingen. In diesem Segment der Ausstellung wird das Problem dadurch gelöst, dass einige Texte und kleinere Monitore im unteren Bereich der sehr hohen Wände zu finden sind, während Großprojektionen im oberen Bereich wichtige historische Positionen darstellen. Hinzu kommen große Bilder auf dem Boden, als Projektionen oder kaschierte Großdrucke – der ganze Raum wirkt urban und in der Wahrnehmung instabil, was exakt der Konzeption von Ausstellung und Katalogbuch entspricht.
Abb. 3: Blick aus dem Ausstellungsraum zurück zum Eingang
(© Historisches Museum Saar, Foto: André Mailänder)
Gegenstand der gesamten Unternehmung sind künstlerische Manifestationen im öffentlichen Raum, die – weil ohne Absprache mit Hausbesitzern, Polizei und Politik platziert – zunächst als illegal zu gelten haben; oft genug sind die Akteur:innen während ihrer Arbeit und für ihr Werk inhaftiert, gelegentlich auch wegen Sachbeschädigung oder Landfriedensbruch verurteilt worden. Zeichenartige Ritzungen und Graffitis gehören zu den ältesten Formen bildender Kunst, was auch in der Ausstellung vermerkt und im Katalog beschrieben wird, doch regelrecht zum eigenen Genre werden diese und andere ephemere Bildformen erst nach dem Zweiten Weltkrieg, mit einem ersten Höhepunkt in der Praxis der Situationisten, als etwa Guy Debord ein verändertes Rimbaud-Zitat („ne travaillez jamais“) 1953 auf eine Pariser Hauswand appliziert. Von hier geht eine direkte Linie bis zu inzwischen hoch anerkannten Künstler:innen und deren Arbeitsweise, wie etwa Christo oder Daniel Buren. Letzterer – auch als Theoretiker sehr geschätzt – wird mehr oder minder direkt mit den studentischen Bewegungen in Europa um 1968 identifiziert, und dazu sind in der Ausstellung neben den Pariser Ereignissen durchaus eindrucksvolle Beispiele aus Hamburg, Köln, Düsseldorf, Zürich und den USA zu sehen. Dieser Zeitblock ist zwar bereits im Eingang der Ausstellung präsent; ihm wird aber auch in der Mitte der langen Ausstellungshalle ein eigenes Gehäuse gewidmet, das um 1984 den langen Zaun vor der besetzten ehemaligen Kölner Schokoladenfabrik Stollwerck genauso vorführt wie Debords Pariser Kunstwerk und einen U-Bahn-Abgang in Philadelphia.
Abb. 4: Daniel Buren, Zwei Anschläge, Paris 1968. Zu Burens „Affichages sauvages“ siehe auch die Hinweise im „Catalogue raisonné“ auf seiner Website, https://t1p.de/rw7vk (09.08.2024).
(Foto: Rolf Sachsse)
Ein Verdienst der Ausstellungskonzeption besteht angesichts des schwer zu fassenden Themas darin, keine kontinuierliche Zeitschiene präsentieren zu wollen, sondern sich darauf zu konzentrieren, dass es Phasen mit spezifischen Ausdrucksformen gibt, die hier schlicht neben- und/oder hintereinander gestellt werden. Der Betrachtungszeitraum reicht von Brassaïs Graffiti-Fotografien, die zuerst 1960 in Stuttgart ausgestellt wurden, bis zum Jahr 1995, als erste Werke Banksys in England aufkamen. Wo für die Zeit um 1968 ein stark politisches Element als Ausgangspunkt für die illegale Kunst-Arbeit zu setzen ist, erscheinen die späten 1970er- und die ganzen 1980er-Jahre in direktem Kontext mit musikalischen Entwicklungen wie Punk und Hiphop. Hier, am Ende des Ausstellungsraums, sind großflächige Hinweise auf das soziale Umfeld der neueren Street Art zu finden, daneben aber auch – vor allem auf einigen Tischen in der Mitte des Raums und an der Wand entlang – Paraphernalia aus dem Wirken von (bundes-)deutschen Künstler:innen wie Timm Ulrichs oder Klaus Staeck sowie alle möglichen Kleinigkeiten von lokalen Matadoren wie Reso oder Cone. An einer Wand findet sich zudem eine Landkarte der Großregion SaarLorLux mit Ortsangaben dieser Nahbereichs-Szenen und deren Austausch untereinander. Hier sind auch Vinyl-Covers mit Elementen der Street Art zu finden und auf einer Projektion darüber der kreative Umgang französischer Writer mit kommerziellen Großplakaten.
Abb. 5: Wand mit Akteur:innen und ihren Werken aus der Großregion SaarLorLux
(© Historisches Museum Saar, Foto: André Mailänder)
Abb. 6: Wand mit Vinyl-Schallplatten, deren Cover auf Graffiti Bezug nehmen (u.a. von „The Clash“ und „Die Toten Hosen“)
(Foto: Rolf Sachsse)
Ausstellung und Katalogbuch sind mit Hilfe eines umfassend geförderten Forschungsprojekts der Universität Heidelberg entstanden – das merkt man vor allem dem begleitenden Band an. Mehr als die Hälfte aller Texte stammen vom Herausgeber, der 2021 mit einem Thema aus diesem Umfeld habilitiert wurde; die übrigen Texte sind von Menschen aus der Szene verfasst worden, die mit entsprechenden Publikationen ebenfalls bekannt wurden. Hier geht es um Themen wie die Gender-Fragen des Genres, den Zusammenhang von Street Art mit der Musikindustrie oder um politische Implikationen von Graffiti, besonders im Kontext von lokalem und Klima-Aktivismus. Eine anrührende Marginalie ist die Entdeckung des Künstlers Keith Haring im Jahr 1982 durch den deutschen Kunsterzieher Klaus Wittmann, die hier mit faksimilierten Briefen dokumentiert wird. Den Thementexten folgt eine etwas eigenwillige Auswahl von Arbeiten, die in einem Katalogteil mit jeweils einer Doppelseite gewürdigt werden – allen, die sich auch nur ein wenig in der Szene auskennen, wird die eine oder andere Eintragung fehlen, während man andere Positionen unter dem Aspekt einer gestalterischen Eigenart eher mit Achselzucken quittieren wird.
In seiner Einleitung des Katalogbuchs verweist Blanché auf mediale Aspekte der Street Art, vor allem auf den Zusammenhang zwischen Fotografie und Illegalität – für manche Künstler:innen sind die polizeilichen Dokumentationen die einzigen Zeugnisse ihrer Arbeit, andere haben von Anfang an in Gruppen mit eigenen Fotograf:innen gearbeitet. Hier ist noch Einiges an Forschungsarbeit zu leisten: Sicher gibt es schon ab den 1860er-Jahren Fotografien mit Graffitis, die hier eingebracht werden könnten. Auch ist Michèle Bernstein als Fotografin, Filmemacherin und Dokumentarin der Arbeit von Guy Debord – sie ist die eigentliche Erfinderin des Dérive, der absichtslos erfahrungs- und stimmungsgeleiteten urbanen Raumerkundung – einmal mehr unterschlagen worden. Aber das sind nur Details, die an Möglichkeiten zukünftiger Forschungen erinnern. Eher kritisch zu sehen ist die Produktion des Katalogbuchs: Zum einen werden die – sehr umfänglichen – Texte in einer lese-unfreundlichen Typografie präsentiert; die fette Futura ist eine Auszeichnungs- und keine Laufschrift, die Carbonara eignet sich nur für kurze Textzeilen und braucht einen wesentlich höheren Zeilendurchschuss als hier gegeben; genügend Weißraum ist auf jeder Seite vorhanden. Zum anderen fehlt dem Buch als einem Werk, das derart viele Namen nennt, ein Register; man suche einmal nach Banksy oder anderen Exponent:innen der Szene – kaum zu machen. Schließlich fehlt, wie in sonstigen Katalogen üblich, ein Anhang mit Kurzbiografien der Autor:innen, von einem Verzeichnis der ausgestellten und reproduzierten Werke der rund 120 Künstler:innen ganz abgesehen. Somit ist das Buch prima vista wieder einmal das typische Produkt einer vom Lektorat kaum betreuten Katalogherstellung, die durch eine laute und selbstverliebte Grafik nur mühsam übertüncht wird.
Das ist schade, denn die Texte können als exzellente Einführung in die Materie gelesen werden. Sie bieten eine seriöse, wissenschaftlich korrekte Darstellung einer bildkünstlerischen Gattung und ihrer diversen Formen am äußersten Rande des neoliberalen Kunstmarkts2 – der sich selbstverständlich bereits auch die Protagonist:innen dieses Genres schon wieder einverleibt, und sei es durch digitale Zertifikate. Der Ausstellung ist bis zu ihrem Ende im Februar 2025 noch großer Zuspruch zu wünschen, und auch das Katalogbuch wird – trotz seiner äußerlichen Schwächen – sicher dereinst als Standardwerk einer Genre-Definition gelesen und bewahrt werden. Und wer nach dem Besuch der Ausstellung den kaum genutzten Weg vom Museum zum Saarbrücker Schlossgarten wählt, kann eine Auswahl von Graffiti-Motiven als Plakate noch einmal anschauen, in einem öffentlichen Raum, auch wenn dieser etwas abseits der üblichen Wege liegt.
Abb. 7: Reproduktionen von Motiven der Ausstellung an der Außenwand des Museums
(Foto: Rolf Sachsse)
Anmerkungen:
1 Zur aktuellen Veranstaltung von 2024 siehe https://voelklinger-huette.org/de/ausstellungen/urban-art-biennale-2024/ (09.08.2024).
2 Als Beispiel aus der neueren Forschungsliteratur siehe auch: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 24 (2022): Politisches Graffiti, hrsg. von Martin Papenbrock und Doris Tophinke (u.a. mit einem Aufsatz von Ulrich Blanché zu Stencil Graffiti aus den Jahren 1930–1945). Der Band steht im Zusammenhang mit dem DFG-geförderten „Informationssystem Graffiti in Deutschland“ (INGRID), siehe https://www.uni-paderborn.de/forschungsprojekte/ingrid/ (09.08.2024).