Paris, Palais de la Porte Dorée: Migrationsgeschichte und Sportgeschichte

Musée national de l'histoire de l'immigration

Veranstalter
Palais de la Porte Dorée
PLZ
75012
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
17.06.2023 -

Olympisme, une histoire du monde

Veranstalter
Palais de la Porte Dorée
PLZ
75012
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
26.04.2024 - 08.09.2024

Publikation(en)

Gökalp, Sébastien; Boucheron, Patrick; Héran, François (Hrsg.): Une histoire de l'immigration en 100 objets Paris 2023 : Selbstverlag, ISBN 9791040111559 321 S., zahlr. Abb. € 26,00
Blanchard, Pascal u.a. (Hrsg.): Olympisme, une histoire du monde. Des premiers Jeux Olympiques d'Athènes 1896 aux Jeux Olympiques et Paralympiques de Paris 2024. Paris 2024 : Selbstverlag, ISBN 9791040115151 575 S., zahlr. Abb. € 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Viktoria Sophie Lühr, École des hautes études en sciences sociales, Paris

Dauerausstellung „Une histoire de l’immigration en 100 objets“

Seit Juni 2023 lädt das Musée national de l’histoire de l’immigration im 12. Arrondissement von Paris mit seiner neuen Dauerausstellung Besucher:innen auf eine Zeitreise durch die Geschichte der Ein- und Auswanderung in die Französische Republik ein. Der Bedarf für ein solches Museum ist 2024 angesichts eines erschütternden Rechtsrucks, erneut ansteigender Fremdenfeindlichkeit und einem drohenden repli sur soi vielleicht sogar noch höher als 2007, als das Museum zum ersten Mal seine Tore öffnete. Tatsächlich haben heute über ein Viertel aller Französ:innen eine im weiteren Sinne transnationale Biographie, und die französische Geschichte und Kultur ist längst nicht so „urfranzösisch“, wie manche Nationalist:innen glauben machen wollen. Nun widmet sich das Museum im Zeichen des Nationalstolzes, so die Generaldirektorin des Palais de la Porte Dorée Constance Rivière, dem Ziel, die Geschichte der pluralistischen französischen Gesellschaft von 2024 zu erforschen und darzustellen, deren Wurzeln bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Der armenische Aktivist Missak Manouchian (1906–1944), die in den USA geborene Tänzerin Josephine Baker (1906–1975) und der tschadisch-französische Rapper MC Solaar (geb. 1969) sind nur einige Namen, die im Rahmen der Dauerausstellung auf fast 2.000 Quadratmetern gewürdigt werden und die die Republik auf ihre eigene Weise geprägt haben.

Nach einem holprigen Start – die offizielle Einweihung des bereits 2007 eröffneten Museums erfolgte erst 2014 durch Präsident François Hollande, nachdem sein Vorgänger Nicolas Sarkozy der Eröffnung ferngeblieben war (so der Hinweis von Sébastien Gökalp im Katalog, S. 21) – nahmen die Kontroversen um das Museum nicht ab. Kritiken der Dauerausstellung „Repères“ fokussierten auf den schwierigen Zugang zu einem ohnehin problematischen Thema und auf den abgelegenen Standort des Museums. Die nach einer dreijährigen Schließung im Sommer 2023 neueröffnete Dauerausstellung scheint jedoch ihre Lektion umgewandelt zu haben: Statt einer eher soziologischen Betrachtung verschiedener Themen zu Einwanderungserfahrung, Integration und Kulturtransfer verfolgt „Une histoire de l’immigration en 100 objets“ nun einen stärker rezipient:innenorientierten, pädagogischen Ansatz. Anhand von elf Schlüsseldaten, einer scheinbar unerschöpflichen Vielfalt von nicht etwa nur 100, sondern mindestens 700 Exponaten und dem Einsatz unterschiedlicher Medien führt das Museum Besucher:innen chronologisch durch die französische Ein- und Auswanderungsgeschichte, die als „untrennbarer Bestandteil der französischen Geschichte“ und als „essenzieller Teil der französischen Identität“ dargestellt wird.1


Abb. 1: Erster Ausstellungsraum zum Schlüsseljahr 1685 mit dem „Code noir“ und der Skulptur „Marchandage“ (Gaëlle Choisne, rechts oben), die mit Ketten, Netzen und Muschelschalen auf den kolonialistischen Menschenhandel anspielt
(Foto: Musée national de lʼhistoire de lʼimmigration, Paris)

Die Dauerausstellung, basierend auf der Arbeit des Historikers Patrick Boucheron und seines wissenschaftlichen Komitees, beeindruckt durch ihre umfassende historische Aufarbeitung der Einwanderungsgeschichte. Ihr besonderer Wert liegt jedoch darin, auch kontroverse Themen anzugehen, die in der französischen Historiographie bislang oft vermieden wurden. So beginnt die Ausstellung – entgegen ihrer Vorgängerin, die sich auf die europäische Einwanderung ab dem 19. Jahrhundert begrenzte – bereits mit der Zäsur von 1685 und der Veröffentlichung des „Code noir“. Dieses Edikt fasste die seit 1642 gängigen Vorschriften zur Regelung der Sklaverei zusammen und eröffnet als erstes Exponat die Präsentation. Hervorzuheben ist auch die Darstellung der „Xenophobie- und Antisemitismuskrise“ infolge des 1889 eingeführten doppelten Geburtsortsprinzips. Durch dieses neue Gesetz erhielt jedes in Frankreich geborene Kind mit einem französischen Elternteil bei der Geburt automatisch die französische Staatsbürgerschaft. Diese Maßnahme zur Behebung des Arbeitskräftemangels führte jedoch zu heftigen gesellschaftlichen Gegenreaktionen, wie dem von Franzosen an italienischen Arbeitskräften verübten Massaker in Aigues-Mortes 1893, die anhand von Zeichnungen und Karikaturen in der Presse sowie einer audiovisuellen Presseanalyse des Forschungsreferenten Romain Duplan eindrucksvoll aufgearbeitet werden.

Darüber hinaus macht die Ausstellung keinen Hehl aus der Mitwirkung von Eingewanderten am mehrfachen (Wieder-)Aufbau und am kulturellen Erbe der Republik. Für die Ära seit der Französischen Revolution, der Ausrufung der Zweiten Republik (1848) und dem Ersten Weltkrieg thematisiert die Ausstellung etwa die Herausbildung einer nationalen Identität und die Geschichte der (Ein-)Bürger(rungs)rechte zwischen Exklusion und Inklusion von Eingewanderten. Außerdem hebt sie deren bedeutsamen Beitrag in der Wirtschaft und im Militär hervor. Spannend ist dabei auch die Darstellung ihrer kulturellen Spuren. So brachten beispielsweise britische Eingewanderte das Jo-Jo nach Frankreich und inspirierten den Comiczeichner Joseph Pinchon (1871–1953) zur Figur der „Bécassine“, angelehnt an das Stereotyp des britischen Dienstmädchens.


Abb. 2: Stiefel von Lazare Ponticelli (1897–2008), Garibaldische Legion, erstes Viertel des 20. Jahrhunderts. Der in Italien geborene Ponticelli war als Kind nach Frankreich gekommen, wurde später französischer Staatsbürger und war 2008 der letzte französische Veteran des Ersten Weltkrieges, als er mit 110 Jahren verstarb.
(Foto: Musée national de lʼhistoire de lʼimmigration, Paris)

Sehr gelungen ist die Verknüpfung von Geschichtsvermittlung und Konfrontation mit der Einwanderungsrealität. Für letztere sorgen einerseits intermediale Zeitzeug:innenberichte, etwa durch vorgelesene Brief- und Zeitungsausschnitte oder auch durch Exponate wie Kleidungsstücke, Pässe und Werkzeuge. Andererseits beruht das Konzept der Ausstellung auf der Einbindung künstlerischer Elemente, die die allgemeine Geschichte mit realen gelebten Erfahrungen und Schicksalen kombinieren. Hierzu zählen beispielsweise die Skulptur „Marchandage“ der Künstlerin Gaëlle Choisne in Erinnerung an die Opfer der Sklaverei (s.o., Abb. 1), die acht Ausschnitte aus dem fiktionalen Einwanderungskino von Regisseur:innen wie Alice Guy-Blaché oder Jean Epstein zwischen 1905 und 1980 oder auch das Musikstudio, das Besucher:innen in einer akustischen Zeitkapsel von den 1990ern bis in die 1930er-Jahre zurückführt. Diese multimediale Gestaltung lockert nicht nur die informationslastige Ausstellung auf, sondern ermöglicht es gleichzeitig, historisch distanzierte Fakten durch individuelle récits zu vermenschlichen.


Abb. 3: Blick auf die Auswahl an Künstler:innen und Alben, die im schallisolierten Musikstudio angehört werden können. Die hier nur angeschnittenen Stücke, die in thematischen Playlists zu Swing, Exil oder auch Protest organisiert sind, können Besucher:innen auch im Nachgang der Besichtigung auf verschiedenen Musikplattformen nachhören (siehe https://whatthefrance.lnk.to/musiqueetmigrations, 05.08.2024).
(Foto: Musée national de lʼhistoire de lʼimmigration, Paris)


Abb. 4: Übergang in das Schlüsseljahr 1973 und in die Politisierung der Einwanderung. Der Aufsteller zeigt den kommunistischen Streitspruch „Französische Arbeiter, eingewanderte Arbeiter, vereinigt euch!“. An der Wand finden sich politische Plakate, die zum Kampf gegen Rassismus, für Chancengleichheit und Solidarität zwischen französischen und eingewanderten Arbeitskräften auffordern.
(Foto: Musée national de lʼhistoire de lʼimmigration, Paris)

Einen Bruch erfährt die Ausstellung mit dem Übergang vom Zweiten Weltkrieg in die Nachkriegszeit, mit der Aufarbeitung des Algerienkriegs, der Dekolonisierung und der Politisierung von Einwanderung. Während die vorherigen Schlüsseldaten mit vielfältigen dreidimensionalen Artefakten belegt waren, finden sich um die Zäsuren von 1962, 1973 und 1983 vor allem Fotografien, Briefe, Zeitungsseiten, Pamphlete und politische Poster, die von Fluchtmigration, Exil und dem Kampf um Anerkennung erzählen. Inmitten einer Wand zum „Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus“ sowie einer Wand, die den Aufstieg der Neuen Rechten mit Jean-Marie Le Pen kommentiert – prominent ist die Titelseite der Zeitung „Libération“ vom 18. Juni 1984 mit dem Titel „Percé de Le Pen, effondrement du PC. LE CHOC“ („Durchbruch von Le Pen, Zusammenbruch der KP. DER SCHOCK“) –, lädt eine Multimedia-Ecke Besucher:innen zum Verweilen ein. Bei den gemütlichen Sitzbänken zeigen Videoausschnitte auf 1950er-Jahre-Fernsehgeräten den Einfluss von Migrant:innen auf die Comicszene und Musik, auf das Kino, Radio und Theater sowie auf das Engagement von Einwander:innenverbänden. Genauso wie die Namen von Enki Bilal (Comiczeichner, geb. 1951 in Jugoslawien) oder Mehdi Charef (Film- und Theaterautor, geb. 1952 in Algerien) bereits synonym für die französische Kulturproduktion geworden sind, genauso „normalisiert“ die Ausstellung hier die kulturelle Diversität der französischen Kulturszene.


Abb. 5: Interaktive Sitzecke zur Bedeutung von Eingewanderten für die französische Kulturlandschaft; im Hintergrund Plakate zu gesellschaftspolitischen Entwicklungen der 1980er-Jahre
(Foto: Musée national de lʼhistoire de lʼimmigration, Paris)

Mit der Internationalisierung und der Öffnung Richtung Europäische Union – Schlüsseldatum 1995, dem Jahr des Inkrafttretens des Schengener Übereinkommens, das seitdem den freien Personen- und Warenverkehr im Schengen-Raum ermöglicht – leitet ein langer Flur schließlich über in die Gegenwart. Für die Jahre 2015 bis 2022 steht hier die Fluchtmigration aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus der Ukraine im Vordergrund. Die Narration der Ausstellung folgt eindrucksvoll dem tatsächlichen Wandel im gesellschaftspolitischen Einwanderungsdiskurs, der vom sozioökonomischen Pro und Contra zu einer humanistischen Solidaritätsdebatte führt. Untermalt wird das nicht nur durch Artefakte aus der tatsächlichen Seenotrettung, sondern auch durch Erfahrungsberichte von Eingewanderten sowie durch zum Nachdenken anregende Kunstwerke wie die interaktive Skulptur „Pourquoi j’accueille“ (2023) von Dana Diminescu und Filipe Vilas-Boas oder die „Machine à rêve“ (2008) von Kader Attia. Die Ausstellung endet mit einer statistischen Übersicht zur kulturellen Diversität Frankreichs – darunter eine etwas fragwürdige Darstellung von gemischtkulturellen Paaren, aufgeteilt nach unterschiedlichen Kulturräumen –, jedoch nicht ohne die gegenwärtigen Herausforderungen für Eingewanderte und deren Nachkommen zu thematisieren: Neben Diskriminierungserfahrungen werden etwa die Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Identität (Erinnerungskultur) und die Fremdwahrnehmung (als „ewige Andere“) vorgebracht. So wird sichergestellt, dass Besucher:innen – unabhängig von ihrer eigenen Herkunft – die Ausstellung nicht nur um einige Informationen reicher verlassen, sondern durch den Perspektivenwechsel auch zu einer nachhaltigen Reflexion über das Thema angeregt werden.

Die Ausstellung verfolgt das Ziel, eine menschliche Geschichte der französischen Einwanderung zu schreiben, und das gelingt ihr sehr gut. Der pädagogische Ansatz vermittelt die Informationen eingängig und ist auf ein diverses Publikum zwischen Jung und Alt angepasst, was sich durchaus im Querschnitt der Besucher:innen widerspiegelt. Vielgestaltige Exponate lockern die umfangreiche Geschichtsausstellung auf und machen die Informationen interaktiv erfahrbar. Für Kinder zwischen acht und zwölf Jahren gibt es außerdem ein zwölfseitiges Begleitheft, das gekoppelt mit einem Audioguide (via App) und etwa 20 Stationen in einfacher Sprache spielerisch durch die Ausstellung führt.2 Die Ordnung nach bestimmten Zäsuren erlaubt gleichzeitig einen guten Überblick zur Entwicklung der Einwanderungsgeschichte und leitet Besucher:innen subtil durch die Aufarbeitung der Geschichte aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Blickwinkeln. So geht die historische Aufarbeitung in eine Darstellung der politischen Diskurse seit den 1980er-Jahren über, bevor sie ab 1995 vor allem in aktuellen Fragen zur Gegenwart und Zukunft einer nun kollektiv gedachten Einwanderung endet. Während die Werbung für die Ausstellung durchaus provokant angelegt war – etwa mit einem Plakat, das Ludwig XIV. zeigt, zusammen mit dem Satz „Verrückt, all diese Fremden, die die französische Geschichte geprägt haben“3 – und auch die Ausstellung selbst eine klare politische Botschaft vermittelt, ist die Narration vor allem darauf konzentriert, Empathie und Perspektivenwechsel anzuregen.

Ein Manko der Ausstellung bleibt nur die Sprache: Während die Präsentationstexte der Epochen und Ereignisse durchweg auf Französisch und Englisch angeboten werden, sind Französischkenntnisse zumindest für die Lektüre der Hinweise zu einzelnen Exponaten und anderen Informationen (etwa die o.g. Statistiken) von Vorteil, da diese Erläuterungen nicht übersetzt sind. Auch die App des Palais de la Porte Dorée, die ein Ausstellungsbegleitangebot für Kinder sowie historische und literarische Audiotexte zusätzlich zur physischen Ausstellung anbietet, ist allein auf Französisch verfügbar. Dieser vorrangigen Ausrichtung auf ein frankophones Publikum wirkt die Ausstellung lediglich durch das Angebot von Beiheften in einfacher (französischer) Sprache oder von verschiedensprachigen Gruppenführungen (Englisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch) entgegen.

Sonderausstellung „Olympisme, une histoire du monde“

Seit dem 26. April und noch bis zum 8. September 2024 präsentiert die Sonderausstellung „Olympisme, une histoire du monde“ im Musée national de l’histoire de l’immigration in Paris aus gegebenem Anlass die Geschichte der Olympischen Spiele. Wenngleich die Integration dieser Thematik in einem auf Einwanderung spezialisierten Museum zunächst paradox anmutet, stellt sich diese in ihrer konkreten Umsetzung als gelungene Ergänzung heraus. Ebenso wissenschaftlich fundiert wie die Dauerausstellung – der Begleitband zur Sonderausstellung ist das Resultat eines umfangreichen wissenschaftlichen Programms seit 2019 und von fünf internationalen Kolloquien – widmet sich diese Präsentation weit mehr als einer simplen Chronologie der Ereignisse. Gegliedert in fünf Schlüsselphasen – die Geburt der modernen Olympiade (1896–1916), die Ära der Nationalismen (1920–1945), der Kalte Krieg und die Dekolonisierung (1945–1975), die Multipolarisierung der Welt (1975–2000) und das 21. Olympische Jahrhundert (2000–2024) –, fasst sie die zunehmende Internationalisierung der Spiele, ihre soziopolitischen Meilensteine und ihre größten Kontroversen prägnant zusammen.


Abb. 6: Postkarte zur Kategorie „Schwimmen“ bei den Olympischen Spielen in Paris 1924
(Dessin signé Stanley-Charles Rooles dit H.L. Roowy, 1924; © Groupe de recherche Achac)


Abb. 7: Ausstellungssegment zu den Olympischen Spielen in Paris 1900, die in Verbindung mit der dortigen Weltausstellung stattfanden und noch stark in deren Schatten standen
(© Palais de la Porte Dorée – Paris 2024; Foto: Anne Volery)

Angelehnt an den Stil der Dauerausstellung beeindruckt auch die Sonderausstellung mit einer Vielzahl und Vielgestalt der Exponate, von Fotografien und Zeitungsausschnitten über Sportgeräte und -kleidung bis hin zu Plakaten und anderen Werbeartikeln. Von Beginn an rückt sie dabei kritische Fragen wie die Inklusion von Frauen, BIPoC oder Menschen mit Behinderung im Blick, deren Entwicklung sie parallel zur Erweiterung der teilnehmenden Staaten und Kontinente sowie der Ergänzung (oder auch Vernachlässigung) bestimmter sportlicher Disziplinen verfolgt. Gleichzeitig behält sie die wichtigen Weltereignisse im Blick, die am Eingang in die jeweilige Schlüsselphase gegen die Geschichte der Spiele gespiegelt werden. So gelingt es der Sonderausstellung, durch die Brille der Olympischen Spiele „eine andere Geschichte der Welt“ zu erzählen (Einleitung zum Begleitband, S. 7). Dabei wird das Sportereignis als Resonanzkörper verstanden, in dem die Echos bedeutender Auseinandersetzungen, Träume und politischer Konflikte widerhallen. Es begleitet somit gesellschaftliche, feministische, antirassistische und antikoloniale Bewegungen und reflektiert Zäsuren wie die Entstehung von Nationalismen, diverse Kriege, den Kampf gegen Rassismus und Ausgrenzung, aber auch gegenwärtige Herausforderungen wie die Corona-Pandemie oder die Bedrohung durch den Klimawandel.


Abb. 8: Die Ausstellung feiert die australische Leichtathletin Cathy Freeman als „Stimme der Ureinwohner:innen“. Autogramm, Olympische Spiele Sydney 2000. Freeman gewann Gold im 400-Meter-Lauf.
(© Groupe de recherche Achac)


Abb. 9: Ausstellungssegment zu den Olympischen Spielen Sydney 2000, mit Cathy Freeman rechts im Bild
(© Palais de la Porte Dorée – Paris 2024; Foto: Anne Volery)

Trotz des Fokus auf nationale Diskurse des vierjährig wiederkehrenden Sportereignisses im internationalen Kontakt der teilnehmenden Länder kommt die Leitfrage von Einwanderung und kultureller Diversität in der Ausstellung nicht zu kurz. Gezeigt wird beispielsweise der Sonderfall des staatenlosen Schwimmers für die USA Johnny Weissmuller (später bekannt als „Tarzan“-Darsteller), der 1924 ohne gültige Ausweisdokumente an der Pariser Olympiade teilnahm und fünf Goldmedaillen gewann. Der US-amerikanische Athlet Jesse Owens erhält ebenfalls einen prominenten Platz: Er widerlegte mit seinen vier Goldmedaillen nicht nur die rassistischen Theorien des NS-Regimes bei den Berliner Spielen von 1936, sondern sah sich aufgrund der anhaltenden „Rassentrennung“ auch in seinem eigenen Land mit einer Sondersituation als Nationalheld ohne Bürgerrechte konfrontiert. Tatsächlich erhielt er keine politische Anerkennung durch den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der mit Blick auf seine laufende Wiederwahlkampagne einen Empfang im Weißen Haus verweigerte (siehe den Beitrag von Claude Boli im Begleitband, S. 188).


Abb. 10: Der US-amerikanische Athlet Jesse Owens bei den Olympischen Spielen von Berlin 1936. Er gewann Gold im Weitsprung, im 100- und 200-Meter-Lauf sowie mit der Staffel über 4 x 100 Meter.
(kolorierte Postkarte, 1936; © CASDEN)

Durch eine Fülle von Fotos, Zeitungsausschnitten und Werbeartikeln nimmt die Sonderausstellung Besucher:innen auf eine Reise durch die Geschichte der Olympischen Spiele. Besonders gelungen ist die Verknüpfung der Sportgeschichte mit dem Zeitgeschehen. Sei es das Zeichen gegen „Rassentrennung“ der afroamerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos in Mexiko 19684 oder die „Kozakiewicz-Geste“, benannt nach dem polnischen Sieger im Stabhochsprung der russischen Sommerspiele von 1980, Władysław Kozakiewicz (der 1985 dann in die Bundesrepublik Deutschland emigrierte): Die Ausstellung vermag es, wichtige Momente der Sport- und Zeitgeschichte eindrucksvoll einzufangen. So werden die Spiele gleichzeitig zum Spiegel für die soziopolitische Beschaffenheit der austragenden Gesellschaften sowie der internationalen Diskurse über Gleichstellung, Repräsentation und Teilhabe unterschiedlicher sozialer Gruppen nicht nur bei der Olympiade, sondern auch in der Weltgemeinschaft. Schade ist lediglich, dass der kritischen Aufarbeitung dieser Ereignisse wenig Raum geboten wird. Erst der sehr gelungene Begleitband ermöglicht eine tiefere Auseinandersetzung mit den dargestellten Spannungen, Diskursen und Zäsuren.

Die Veranstalter:innen haben nicht nur den passenden Zeitpunkt für diese Sonderausstellung gewählt, sondern im Musée national de l’histoire de l’immigration zugleich den perfekten Partner gefunden, um das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. So ist nicht nur der Stil der Dauerausstellung komplementär mit dem Material der Sonderausstellung. Letztere bietet außerdem eine hervorragende Ergänzung zum Leitthema des Museums, indem die Olympia-Geschichte zusätzlich den Fokus auf gesellschaftliche Diversität und Inklusion (sowie deren Grenzen) im internationalen Kontext legt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Kurz vor Beginn der Olympischen Spiele von Paris zog gerade die Sonderausstellung besonders viele Besucher:innen an, die hier weit mehr als eine oberflächliche Neugier bedienen konnten. Kleine Wermutstropfen bleiben lediglich der etwas zu enge Raum und die relativ kurze Zeit für die Sonderausstellung, die zudem weniger Interaktivität ermöglicht als die Dauerausstellung. Sie richtet sich dadurch eher an ein erwachsenes Publikum; für Kinder könnte sie etwas zu informationsgeladen und zu wenig pädagogisch sein. Eine schöne Anregung ist jedoch der „Parcours enfants“, der junge Besucher:innen zwischen acht und zwölf Jahren auf eine informative Schnitzeljagd durch die Ausstellung leitet.

Anmerkungen:
1 Palais de la Porte Dorée, Ouverture du nouveau musée. Le 17 juin 2023 (dossier de presse), Juni 2023, S. 9. Zur Geschichte des Gebäudes und seiner verschiedenen Nutzungen bis 2020 siehe Gwendolin Lübbecke, Die „Cité nationale de l’histoire de l’immigration“ im Palais de la Porte Dorée. Transformationen eines Kolonialpalastes von der „Exposition coloniale“ 1931 bis heute, Stuttgart 2020; rezensiert von Andreas Ludwig, in: H-Soz-Kult, 11.06.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-95852 (05.08.2024).
2 Siehe https://www.palais-portedoree.fr/famille-et-jeune-public (05.08.2024).
3 Siehe auch Le HuffPost avec AFP, Cette campagne du musée de l’immigration avec Louis XIV rappelle qu’„un Français sur trois est immigré“, in: Huffington Post, 14.06.2023, https://www.huffingtonpost.fr/culture/article/cette-campagne-du-musee-de-l-immigration-avec-louis-xiv-rappelle-qu-un-francais-sur-trois-est-immigre_219222.html (05.08.2024).
4 Siehe https://www.youtube.com/watch?v=0biCuBy4yVg (05.08.2024).

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