Am 10. März 2024 eröffnete in Amsterdam das National Holocaust Museum (NHM) seine Tore. Die Idee des Museums wurde vor 19 Jahren geboren1; zwischen 2015 und 2019 zeigte das Museum bereits neun Wechselausstellungen. Es zählt administrativ zum jüdischen Kulturviertel in Amsterdam, dem auch das Jüdische Museum, die Portugiesische Synagoge und der historische Ort der Hollandsche Schouwburg angehören. Es befindet sich an der Plantage Middenlaan, in dem durch Park und Grünanlagen geprägten Stadtteil Amsterdams, wo bis 1941 etwa 50 Prozent jüdische Einwohner:innen lebten.2 Das durch das Amsterdamer Architekturbüro Office Winhov in etwa zweieinhalb Jahren Bauzeit neu gestaltete Gebäude befindet sich in einem ehemaligen Lehrerseminar. Ein Neubau im früheren Direktorenhaus zwischen dem Seminar und der damaligen jüdischen Kinderkrippe dient im Erdgeschoss als Eingangsgebäude; in den oberen Stockwerken sind Teile der Dauerausstellung untergebracht.3 Kinderkrippe und Lehrerseminar fungieren als historische Erinnerungsorte4, da mithilfe von Personen aus dem niederländischen Widerstand etwa 600 Kinder über das Lehrerseminar aus dem Gebäude geschmuggelt und gerettet werden konnten. Dieses Narrativ kontrastiert zum ebenfalls neu gestalteten Erinnerungsort der Hollandsche Schouwburg auf der gegenüberliegenden Straßenseite, des ehemaligen Theaters, von dem aus während der NS-Besatzungszeit rund 46.000 Menschen in den Jahren 1942 und 1943 deportiert wurden.
Abb. 1: Außenaufnahme des National Holocaust Museums, Amsterdam: Neubau und Fassade des ehemaligen Lehrerseminars. Im Bildvordergrund verläuft die Straßenbahnlinie auf der Plantage Middenlaan. Der Blickschutz der Waggons ermöglichte es den Helfer:innen während der NS-Besatzungszeit, Kinder aus der Kinderkrippe durch das Lehrerseminar hinauszuschmuggeln.
(National Holocaust Museum, © Thijs Wolzak)
Abb. 2: Ehemaliges Klassenzimmer des Lehrerseminars, in dem Kinder aus der Kinderkrippe untergebracht waren; multimediale Installation zur Geschichte ihrer Rettung
(© National Holocaust Museum)
Das National Holocaust Museum ist das erste übergreifende Museum in den Niederlanden, das den Holocaust, der dort zur Ermordung von etwa 102.000 Jüd:innen und damit im Verhältnis zu den umliegenden besetzten Ländern zu deutlich überproportionalen Opferzahlen geführt hat, in seinem gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang dokumentiert. An neueste historische Erkenntnisse anschließend, fungiert die Institution als Geschichtsmuseum und Erinnerungsort, dient aber zugleich auch der kritischen Reflexion der niederländischen Gesellschaft in der Gegenwart.
Die Dauerausstellung „Die Niederlande und die Shoah“ zeigt über 2.500 Objekte, Fotografien, Filme, Höraufnahmen und schriftliche Dokumente – darunter viele, die der Öffentlichkeit erstmals zugänglich gemacht werden. Die Ausstellung ist in zwölf Kapitel gegliedert, die sich auf acht Räume im ersten und zweiten Stock verteilen: Zerstörte Leben, Vorspiel, Besatzung, Totale Isolation, Täter, Das Morden beginnt, Verborgen, Kein Weg zurück, In der Falle, Mord, Kriegsende, Aus dem Schatten heraus. Auch wenn die Ausstellung überwiegend der historischen Chronologie folgt, erlaubt sie es den Besucher:innen, von der vorgesehenen Reihenfolge abzuweichen, gerade im kleinteiligeren ersten Stock, wo sich die letzten fünf Kapitel in sechs Räumen befinden. Schon der Ausstellungstitel verdeutlicht, dass das Museum zwischen den Worten „Holocaust“ und „Shoah“ hin- und herwechselt, um einerseits an das öffentliche Bewusstsein in den Niederlanden anzuschließen, andererseits den Mord an den niederländischen Jüd:innen besonders herauszustellen. Die Ausstellung konzentriert sich auf die Geschichte des Holocausts in den Niederlanden. Die historische Gesamtsituation wird nur kurz im zweiten und sechsten Kapitel dargestellt. Auffällig ist dabei die angenehme Dichte des Museums. Auch wenn es sicher nicht möglich ist, in einem zwei- bis dreistündigen Besuch alle Details zu rezipieren (gerade die umfangreichen audiovisuellen Materialien), sollte eine normale Besuchszeit dazu reichen, alle zwölf Kapitel der Dauerausstellung gebührend wahrzunehmen, ohne wie so oft bei historiographisch gelungenen Ausstellungen in der Mitte zu ermüden.
Wenn man in den ersten Raum hineintritt, könnten erfahrene Besucher:innen von Holocaust-Museen für einen Augenblick denken, das National Holocaust Museum wähle eine veraltete Repräsentationstechnik von Empathie und Schock, die vor 20 bis 30 Jahren in solchen Museen üblich war. Zum Beispiel beginnt die 1993 eröffnete Dauerausstellung des United States Holocaust Memorial Museums in Washington, DC mit schockierenden Bildern der Zustände der Lager in Ohrdruf und Dachau, um den Blick der amerikanischen Befreier:innen und deren Schock zu simulieren.5 In Amsterdam sieht man ein großes Schwarz-Weiß-Fotoposter – vor einer Wand mit kleineren farbigen Bildern von weltweiten Zerstörungen zu Kriegsende – einer Straße in einem Waldgebiet, deren eine Seite voll mit teilweise entblößten Leichen ist. Auf der Straße läuft ein Junge in Richtung der Betrachter:innen. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, was dieses neue Museum und seine Dauerausstellung auszeichnet: Die Verbrechen werden mit konkreten Geschichten der niederländischen Jüd:innen verbunden. Das Bild vom Konzentrationslager Bergen-Belsen zeigt den siebenjährigen Sieg Maandag aus Amsterdam. Letztlich erfuhr Siegs Mutter durch die Veröffentlichung des Fotos im US-Magazin „LIFE“, dass ihr Sohn noch am Leben war. Es geht hier also nicht um bloßen Schock oder die Simulation einer Perspektive der Befreier:innen, sondern um eine genuin jüdische Perspektive. Sie schließt Sieg Maandags weitere Biographie ein (1937–2013), zu der seine Karriere als Künstler und seine traumatischen Erfahrungen des Holocausts gehören.6 In den Vordergrund stellt die Ausstellung somit die Individualität und Handlungsfähigkeit von Jüd:innen, die nicht nur durch das Verbrechen an ihnen definiert werden.
Abb. 3: Foto mit Sieg Maandag, Konzentrationslager Bergen-Belsen unmittelbar nach der Befreiung 1945, im Kapitel „Zerstörte Leben“. Das Großbild in der Mitte stammt vom britischen Fotografen George Rodger (1908–1995).
(© National Holocaust Museum)
Das Museum verwendet eine Vielzahl von Darstellungstechniken, wobei der Schwerpunkt auf der Kombination von Museumsobjekten und dem Erzählen liegt. Hierzu gehören Objektvitrinen, ein Audioguide, der in jedes Kapitel mit einem Überblick einführt, historische Kontextualisierung und konkrete Einzelgeschichten, digitale Vertiefungsstationen sowie kleine Bildschirme mit kurzen Ausschnitten aus Zeitzeugeninterviews mit Überlebenden, die in der Ausstellung verteilt sind. Die Texte sind durchgängig auf Niederländisch und Englisch verfügbar. Besonders eindrücklich sind 19 sogenannte Vergissmeinnicht-Installationen, in denen jeweils ein Objekt und eine Fotografie mit Begleittext sowie ausführlichem Audiotext inszeniert werden. Zum Beispiel sieht man einen Armreif der sechsjährigen Esther Mendes da Costa, deren Eltern 1940 einen gescheiterten Selbstmordversuch unternahmen, den die Tochter anders als die Eltern nicht überlebte. Der Vater tötete sich später selbst, die Mutter hingegen blieb am Leben, was aufmerksame Besucher:innen im letzten Raum mit Esthers Geschichte verbinden können, wenn ein Dokument zeigt, wie ihre Mutter, Elisa Mendes da Costa-Vet, kurz vor ihrem Tode im April 1982 in ihrem letzten Brief eindrücklich darum bittet, sterben zu dürfen.
Abb. 4: Vergissmeinnicht-Installation „Abschied von Esther“, Armreif von Esther Mendes da Costa, im Kapitel „Totale Isolation“. Im Hintergrund sind in chronologischer Folge antijüdische Verordnungen aufgelistet.
(© National Holocaust Museum)
Direkt daneben findet sich das Vergissmeinnicht „Jacobs Geschenk“, ein Haarpflegeset, das Leny Velleman von ihrem Vater bekommen hatte. Die Nachbarn der deportierten Familie nahmen es an sich und gaben es später nur deshalb zurück, weil Leny mit einem hier ausgestellten Familienfoto beweisen konnte, dass ihr das Set zuvor gehört hatte. Immer wieder gibt es Objekte, die unterschiedliche Verhaltensweisen im Anblick der NS-Besatzungszeit zeigen und zugleich die Vielfalt und Individualität ausdrücken, mit der die Verfolgten auf die existentielle Bedrohung ihres Lebens reagiert haben. Generell ist auffällig, wie viele herausragende Erinnerungsobjekte die Ausstellung versammelt. Dies wird gerade in den Kapiteln „Kein Weg zurück“ und „Mord“ deutlich. Ersteres ist durch besonders herausgestellte Einzelobjekte geprägt, die fast ausschließlich Menschen gehörten, die im Holocaust ermordet wurden. Hierbei war der Glaube daran, dass es eine Zukunft geben werde, existentiell weitaus bedeutsamer als der Akt der Deportationen. Viele Objekte wurden Nachbarn und Freunden zur sicheren Aufbewahrung gegeben, zum Beispiel der Werkzeugkoffer des Diamantenschmieds Elias Spitz. Besucher:innen können sich fragen, ob solche Akte in der Hoffnung auf Rückkehr stattfanden oder in der Absicht, etwas Wertvolles zu bewahren. Dem Museum gelingt es, die existentielle Würde des Einzelnen zu schützen, statt die biographischen Geschichten auf Beispiele reiner Vernichtung zu reduzieren.
Abb. 5: Raumansicht zum Kapitel „Kein Weg zurück“
(National Holocaust Museum, © Mike Bink)
Abb. 6: Raumansicht zum Kapitel „Mord“. Modell des Vernichtungslagers Sobibor im Bildvordergrund; Vitrinen u.a. zu Sobibor und Auschwitz im Bildhintergrund
(© National Holocaust Museum)
Im Kapitel „Mord“ geht es nicht um die Bilder, die die Täter geschaffen haben. Ein Modell des Vernichtungslagers Sobibor, entworfen vom Überlebenden Jules Schelvis (1921–2016), erzählt die Vernichtungsprozesse vielmehr aus der Erinnerung eines Verfolgten. Noch grundlegender ist dies in den fünf den Raum dominierenden Objektvitrinen, mit archäologischen Funden und Gegenständen, die den Ermordeten gehörten – aus den für die Verfolgung und Vernichtung der niederländischen Jüd:innen zentralen Orten Sobibor, Auschwitz, Bergen-Belsen und Theresienstadt sowie aus Zentraleuropa, auf die Todesmärsche verweisend. Viele Gegenstände haben das Potential, die Besucher:innen anzuregen, über die Bedeutung dieser Objekte bezüglich der Erinnerung an die Ermordeten nachzudenken, zum Beispiel das Vergissmeinnicht „Siems Geschenk“, ein Ring mit den verschlungenen Signaturen S und R sowie ein handgeschriebenes Gedicht von Siem Vos an seine Frau Roza. Beide waren in Auschwitz-Birkenau in unterschiedlichen Baracken, und Siem gelang es, dieses Geschenk an Rozas 28. Geburtstag zu ihr zu schmuggeln. Nur Roza überlebte. Es werden im Museum also nicht die Lagerstrukturen wieder erschaffen, sondern die Besucher:innen können die Bedeutung von Erinnerung an die Ermordeten miterleben. Zugleich verdeutlicht die Ausstellung immer wieder das Trauma der Überlebenden, allerdings bewusst aus einer historischen Distanz, um die Illusion eines immersiven Mit-Leidens zu vermeiden.
Abb. 7: Vergissmeinnicht-Installation „Siems Geschenk“. Ring von Siem Vos für seine Frau Roza im Ausstellungskapitel „Mord“
(National Holocaust Museum, © Mike Bink)
Ähnlich wie die 2021 eröffneten neuen Holocaust Galleries des Imperial War Museums London7 setzt das National Holocaust Museum auf helle Farben und Licht, womit es sich dem klassischen Design anderer Holocaust-Ausstellungen, die auf Schwarz- und Grautönen basieren, widersetzt. Annemiek Gringold, die Chefkuratorin des Museums, betont „einen respektvollen Umgang mit den einzelnen Objekten und den damit verbundenen persönlichen Geschichten“.8 Im Unterschied zur Ausstellung in London werden in Amsterdam jedoch alle Einzelgeschichten vor dem Hintergrund der Ereignisse und Strukturen des Holocausts erzählt. Ohne den Holocaust gäbe es solche Geschichten mit ihren unterschiedlichen Facetten nicht. Dies fällt gerade im Kapitel „Vorspiel“ auf, das relativ kurz jüdisches Leben vor der Besatzung darstellt, aber vollständig von der Ideologie des Nationalsozialismus geprägt ist – und von dem, was kommen wird.
Abb. 8: Raumansicht zum Kapitel „Täter“. Die sechs Monitore in der linken Bildhälfte zeigen Projektionen zu den Fragen „Wer befiehlt?“, „Wer organisiert?“, „Wer führt die Befehle aus?“, „Wer kollaboriert?“, „Wer profitiert?“ und „Wer mordet?“.
(© National Holocaust Museum)
Die Perspektive der Täter taucht im Museum verschiedentlich auf, wird aber nicht dominant. Die Art der hier gezeigten Installation im kurzen Abschnitt „Täter“ mag als Spiegel gelesen werden, der innehaltende Besucher:innen zum Nachdenken bringen kann, in welche Kategorie man womöglich selbst gehört hätte. Ähnlich wie in der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin (2020)9 ist die Ausstellung in Amsterdam an den Wänden durch eine endlose Reihung von NS-Vorschriften zur Einschränkung des jüdischen Lebens geprägt (hier vornehmlich im oberen Stockwerk ab dem dritten Kapitel). Gringold notiert hierzu: „Die meisten nichtjüdischen Menschen in den Niederlanden arrangierten sich nach und nach mit der neuen Situation; an ihren gewohnten Tagesabläufen änderte sich nur wenig.“10 Wie auch in Berlin läuft man durch die Inszenierung der Vorschriften, ohne jede einzelne wahrzunehmen, was dennoch die Erfahrung eines strukturell-emotionalen Unbehagens erzeugt.11
Abb. 9: Tapete aus antijüdischen Maßnahmen und Bände mit Verordnungen im Kapitel „Besatzung“
(National Holocaust Museum, © Thijs Wolzak)
Das Museum zieht in seinen Kommentaren immer wieder explizite Linien zur Gegenwart. So erklärt zum Beginn des Kapitels „Besatzung“ ein Experte, wie die Ideologie des Nationalsozialismus demokratische Prinzipien aushöhlte – eine historische Situation, die Besucher:innen einfach auf die Gegenwart übertragen können. Die Ausstellung präsentiert aber auch immer wieder komplexe Geschichten, wie im ersten Raum des letzten Kapitels die Situation jüdischer Waisenkinder: Sollten sie nach dem Krieg zu ihren jüdischen Verwandten zurückkehren, sofern diese noch lebten, oder bei ihren nichtjüdischen Adoptivfamilien bleiben? Wer die Hintergrunddarstellung im Audioguide hört, versteht die nahezu unmögliche Aufgabe, das Wohl der Kinder mit dem Trauma der jüdischen Gemeinschaft in Einklang zu bringen. Die Schwierigkeiten der Reintegration von Überlebenden in die niederländische Gesellschaft werden somit anschaulich gemacht. Eine Medienstation stellt dann explizite Beispiele von Antisemitismus in den heutigen Niederlanden zur Diskussion, bis zur Frage, ob die Parole „From the river to the sea, Palestine will be free“ als antisemitisch zu verstehen sei. Diese Frage wird den Besucher:innen direkt mit Verweis auf aktuelle Diskussionen darüber in der niederländischen Gesellschaft gestellt, ohne eine Antwort vorzugeben. An einigen Stellen wirkt die Dauerausstellung allerdings auch leicht überdidaktisiert und scheint Besucher:innen moralisch zu instruieren, wie sie sich zu verhalten haben.
Folgt man dem Statement der Institution des jüdischen Kulturviertels zum aktuellen Krieg in Israel und Gaza12, wird der gesellschaftskritische Anspruch des Museums deutlich. Man will ein differenziertes Bild schaffen, das einfaches Schwarz-Weiß- bzw. Gut-Böse-Denken überwindet und eine gerechtere Gesellschaft in den Niederlanden ermöglicht. Die Einführungstafel des Museums endet mit dem Satz „To recognise signs of present-day injustice and consider what you can do to create a more just, democratic and open society.“ Die Dauerausstellung hat definitiv das Potential, differenzierte Gedanken anzuregen, auch wenn damit zugleich die Gefahr besteht, dass die Geschichte des Holocausts in den Niederlanden dazu genutzt wird, „Gerechtigkeit“ für die Verfolgten und die Ermordeten des Holocaust allzu eindeutig zu definieren und damit eine solche Differenzierung wieder aufzuheben.
Etwas überraschend für das ansonsten sehr durchdachte Ausstellungskonzept ist der Umstand, dass viele Texttafeln so angebracht sind, dass sie für Besucher:innen unterschiedlicher Größe nur schwer zu lesen sind, womit die Ausstellung nicht wirklich inklusiv und barrierefrei funktioniert. Die architektonischen Einschränkungen durch den Umbau eines existierenden Gebäudes führen auch zu einigen Problemen in der Ausstellungsführung. Zum Beispiel wird die Mehrzahl der Besucher:innen direkt zur Treppe oder zum Fahrstuhl am Beginn der Dauerausstellung geleitet, wodurch die auf der rechten Seite des Eingangsraumes befindliche Einführungstafel zum Museum schlichtweg übersehen werden dürfte.
Das Erdgeschoss fungiert neben dem Eingangsbereich mit Buchverkauf, einem Café und einem Saal für Wechselausstellungen als Erinnerung an den historischen Ort der Kinderkrippe und erzählt die konkrete Geschichte der Rettung der Kinder. Auch die schräg gegenüber dem Museum liegende Hollandsche Schouwburg kann den Besuch des National Holocaust Museums als Erinnerungsort weiter ergänzen.13 Die dortige Ausstellung wird geprägt durch einen multimedialen, in die Geschichte des Gebäudes einführenden Film sowie Zeugnisse der Überlebenden und Ermordeten. Unterschiedliche Stimmen aus Interviews, Briefen und Tagebüchern können sich die Besucher:innen mit einem Audioguide erschließen; jede der 39 Geschichten wird durch eine illuminierte Glaskugel mit dem Bild und Namen des oder der Deportierten aktiviert.
Abb. 10: Hollandsche Schouwburg, Dauerausstellung, Porträts mit abrufbaren biographischen Zeugnissen
(National Holocaust Museum & Joods Cultureel Kwartier, © Thijs Wolzak)
Die Ausstellung wird durch einen informativen Katalog ergänzt, der das National Holocaust Museum und die Hollandsche Schouwburg mit Beiträgen unterschiedlicher Expert:innen zur Ausstellung, den historischen Orten, dem Kontext und der Erinnerungsgeschichte des Holocausts in den Niederlanden sowie dem pädagogischen Programm des Museums vorstellt. Darüber hinaus werden im zweiten Teil gut 30 ausgewählte Objekte der Ausstellung großformatig abgebildet und erklärt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es dem National Holocaust Museum im Großen und Ganzen gelingt, einerseits den Holocaust in den Niederlanden mit all seinen Facetten darzustellen, andererseits vornehmlich die Geschichten, Stimmen und Schicksale der niederländischen Jüd:innen sowie die Bedeutung des Erinnerns an die Verfolgten und Ermordeten zu zeigen (jedoch weit weniger die Ideologie der Täter:innen). Hierdurch wird der Holocaust in den Niederlanden für die Besucher:innen jenseits vereinfachter mimetischer Formen, die vorgeben, Wirklichkeit direkt abzubilden, als historische Erfahrung strukturell und dennoch konkret sichtbar.
Anmerkungen:
1 Zur Genese des Museums und den komplexen Entscheidungsprozessen, an welchem Ort und unter welcher Obhut ein National Holocaust Museum in Amsterdam entstehen sollte und konnte, siehe die Begleitpublikation zur Museumseröffnung von Marc Noyons, Chai – Leven – Life. Gesprekken met wegbereiders van het / Conversations with Trailblazers of the Nationaal Holocaustmuseum in Amsterdam, Zutphen 2024. Hier wird zum Beispiel die ursprüngliche Sorge geäußert, dass Schulklassen nicht mehr das Jüdische Historische Museum besuchen würden, sondern ausschließlich ein neues Holocaust-Museum (S. 61).
2 Peter Tammes, Surviving the Holocaust. Socio-Demographic Differences Among Amsterdam Jews, in European Journal of Population 33 (2017), S. 293–318, https://doi.org/10.1007/s10680-016-9403-3 (05.10.2024).
3 Esther Göbel, Fresh Light on a Fraught History. Architecture, Stratification and Articulacy, in: Annemiek Gringold / Asjer Waterman (Hrsg.), The National Holocaust Museum and the Hollandsche Schouwburg. Observe, Reflect, Act, Zwolle 2024, S. 36–47. Siehe auch Kerstin Schweighöfer, Sieben Gulden fünfzig für jeden aufgespürten Juden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.03.2024, S. 9; Hubertus Adam, Die Shoah fand mitten im städtischen Alltag statt, in: Neue Zürcher Zeitung, 16.04.2024, S. 31, https://www.nzz.ch/feuilleton/in-amsterdam-wurde-das-nationaal-holocaustmuseum-eroeffnet-ld.1826376 (05.10.2024).
4 Astrid Sy, It Happened Here. Searching on a Thin Line, in: Gringold / Waterman, National Holocaust Museum, S. 68–77.
5 Edward T. Linenthal, Preserving Memory. The Struggle to Create America’s Holocaust Museum, New York 2001, hier S. 193–198.
6 Siehe auch Dawn Skorczewski / Karen Maandag, Sieg Maandag: Life and Art in the Aftermath of Bergen-Belsen, in: American Imago 80 (2023), S. 1-22, https://doi.org/10.1353/aim.2023.0000 (05.10.2024).
7 Vgl. auch meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 27.05.2023, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-135141 (05.10.2024).
8 Annemiek Gringold, The National Holocaust Museum in Amsterdam / Das nationale Holocaust-Museum in Amsterdam, in: Gedenkstättenrundbrief 214 (Juli 2024), S. 4–21, hier S. 16, https://www.gedenkstaettenforum.de/fileadmin/user_upload/Aktivitaeten/Rundbrief/Rundbriefe_PDF/einzelne_Artikel/214/01_Gringold_NHMAmsterdam.pdf (05.10.2024).
9 Vgl. Jüdisches Museum Berlin, Ausstellungsbegleitband, Berlin 2020, S. 118–131, und die Rezension von Yael Kupferberg, in: H-Soz-Kult, 07.11.2020, http://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-130870 (05.10.2024).
10 Gringold, The National Holocaust Museum in Amsterdam, S. 11.
11 Vgl. zur strukturellen Erfahrungshaftigkeit Stephan Jaeger, The Second World War in the Twenty-First-Century Museum. From Memory, Narrative, and Experience to Experientiality, Berlin 2020, S. 47–60, https://doi.org/10.1515/9783110664416 (05.10.2024).
12 Joods Cultureel Kwartier, Statement regarding the War in Israel and Gaza, o.D., https://jck.nl/en/press/news/statement-regarding-the-war-in-israel-and-gaza (05.10.2024).
13 Website: https://jck.nl/en/location/hollandsche-schouwburg (05.10.2024).