Die Zeitschichten der Zeitgeschichte liegen in Berlin besonders dicht aufeinander. Alle Regime des 20. Jahrhunderts haben in der Stadt ihre Spuren hinterlassen, die sich teilweise wie Sedimente überlagern. Man kann in Berlin eine Archäologie der Zeitgeschichte betreiben. An der Topographie des Terrors und an der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße geben archäologische Fenster den Blick frei auf tiefer liegende Zeitschichten. Man kann sich der Zeitgeschichte Berlins auf topografische Weise zuwenden, indem man die wechselhafte Nutzungsgeschichte historischer Orte beschreibt. Man kann sich den Zeitschichten aber auch fotografisch nähern1, zumal Berlins Status als „Rom der Zeitgeschichte“2 mit dem Zeitalter der Fotografie zusammenfällt.
Genau dies, die visuelle Überlagerung der Zeitschichten, ist der Ansatz von Michael Wesely. Eine große Ausstellung im Berliner Museum für Fotografie widmet sich dem Werk des 1963 geborenen Fotografen, der sich mit extremen Langzeitbelichtungen einen Namen gemacht hat. Im Mittelpunkt der Schau steht die umfangreiche Serie „Doubleday“. Hierfür hat Wesely historische Stadtfotografien Berlins ausgewählt 3, die er mit heutigen Ansichten (von 2023) überlagert. So entstehen „Bilder über Bilder“, wie Niklas Maak seinen Essay im Begleitband betitelt hat. Dabei nimmt Wesely möglichst genau dieselbe Perspektive ein wie in der historischen Vorbild-Aufnahme. Während die älteren Aufnahmen meist schwarzweiß sind, ist die Gegenwart stets farbig gehalten, was die Orientierung zwischen den beiden Zeitebenen erleichtert. In einigen Fällen sind jedoch auch Farbfotos kombiniert. Dann verdeutlichen etwa die früheren Automodelle den historischen Kontrast. Die Ebenen liegen dabei nicht mechanisch aufeinander. Es ist keine rein dokumentarische Arbeit. Vielmehr setzt Wesely künstlerische Akzente, indem er innerhalb eines jeden Bildes mal die historische und mal die heutige Zeitschicht stärker hervorhebt. Und je weiter man sich von den großformatigen Bildern entfernt oder sich ihnen nähert, desto stärker treten einzelne Aspekte hervor. Deshalb wirken die Bilder in der Ausstellung auch viel intensiver und plastischer als im begleitenden Katalog.
Raumansicht eines Teils der Ausstellung im Museum für Fotografie. Leider ist es wegen der Rechte der VG Bild-Kunst hier nicht möglich, die Fotoarbeiten von Michael Wesely direkt und dauerhaft im Internet zu zeigen – ein wiederkehrendes Problem für die geschichtswissenschaftliche Dokumentation und Diskussion solcher Ausstellungen.
(Foto: Hanno Hochmuth)
Drei Zeitebenen, die den Kontrast zur Gegenwart bilden, fallen besonders ins Auge. Das sind erstens Aufnahmen aus dem Kaiserreich, zweitens Bilder aus der unmittelbaren Nachkriegszeit seit 1945 sowie drittens Fotos, die Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR zeigen. In allen Fällen handelt es sich um Perspektiven auf massive städtebauliche Veränderungen, die entweder unmittelbar bevorstanden, sich gerade ereignet hatten oder noch kommen sollten. Die historischen Fotos aus dem Kaiserreich stammen zumeist aus den 1880er-Jahren und zeigen Berlin noch vor dem wilhelminischen Stadtumbau. So sieht man am Lustgarten noch den alten, grazilen Berliner Dom von Karl Friedrich Schinkel, der zur Jahrhundertwende dem neuen, bombastischen Dom weichen musste. Die Fotos aus der frühen Nachkriegszeit dokumentieren das Ausmaß der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, was gerade an Gebäuden deutlich wird, die wie die Krolloper kurze Zeit später abgerissen wurden. Die Bilder aus Ost-Berlin beziehen ihren Kontrastwert schließlich vor allem aus dem zwischenzeitlichen Verschwinden repräsentativer DDR-Bauten wie des 1964–1967 errichteten, 1995/96 abgerissenen Außenministeriums am Werderschen Markt, das auf der heutigen Aufnahme fehlt, während das historische Zeughaus die Konstante bildet.
Stets dokumentiert Wesely den Wandel in einem lakonischen Gestus, ohne jemals anklagend zu wirken. Sein Interesse gilt dabei nicht allein der Architektur und dem Städtebau, sondern zugleich dem urbanen Alltag. Die Bilder zeigen historische Reklameschriftzüge (etwa am Bahnhof Zoo, also in der direkten Nachbarschaft des heutigen Museums für Fotografie) und gegenwärtige Stadtmöbel wie die unvermeidlichen orangenen Mülleimer. Sie bringen auch Pferdefuhrwerke mit Autos zusammen (Jannowitzbrücke, 1906/2023). Besonders zieht es Wesely an Orte des großstädtischen Vergnügens, die oft ungeahnte Kontinuitäten aufweisen. So dokumentiert er, wie Menschen heute im Tiergarten picknicken, wo sich einst die Vergnügungsetablissements in den Zelten befanden. Am beeindruckendsten ist die menschliche Dimension jedoch, wenn sich auf den Fotos die Passanten der Vergangenheit mit denen der Gegenwart mischen – wie 1946 und 2023 auf dem Alexanderplatz. Einzig die Farbigkeit und die Mode verraten, wer hier wann über den großen Platz gelaufen ist. Die Menschen von 1946 hatten andere Sorgen und Hoffnungen, und doch haben sie gelebt und geliebt, wie wir es tun, was einen beim Betrachten ganz demütig vor der Geschichte werden lässt.
Neben der Serie „Doubleday“ zeigt die Ausstellung unter anderem auch Weselys Serie „Human Conditions“. Die Grundlage hierfür bilden großformatige Architekturaufnahmen der Königlich Preußischen Messbildanstalt (1885–1921), die in mehreren Vitrinen im Original gezeigt werden. Das Ziel dieser Institution war es, „ein fotografisches Archiv der deutschen Baudenkmäler zu errichten“, wofür „zehntausende Aufnahmen in höchster technischer Perfektion“ entstanden (Wandtext). Weselys Interesse gilt jedoch auch hier nicht allein der historischen Architektur um 1900, sondern den Menschen, die beiläufig ins Bild geraten sind. Da die 40x40 cm großen Glasplatten lange belichtet wurden, erfassten die Fotos, die auf Silbergelatinepapier abgezogen wurden, zwar jedes architektonische Detail, nicht aber die Bewegungen der Menschen, die wie Geister der Vergangenheit durchs Bild huschen. Der Künstler hat genau diese menschlichen Details vergrößert und ohne Beschriftungen an die Wand gepinnt. In einigen der historischen Vorlagen ist mit kleinen weißen Rahmen markiert, welche Bildelemente Wesely verwendet hat. Sie zeigen Kinder beim Spiel, Bauarbeiter beim Balancieren über Holzbohlen und neugierige Hausbewohner, die ihren Blick aus dem Fenster zurück auf den Fotografen richten. Die Verwaschenheit ihrer Bewegungen zeugt von Vergänglichkeit ihrer Existenz.
Gänzlich verschwinden die Menschen in den Langzeitaufnahmen, die Wesely selber angefertigt hat. So enthält die Ausstellung eine Reihe neuerer Fotografien von politischen Demonstrationszügen durch die Bundeshauptstadt, etwa zu „Black Lives Matter“ (2020) oder zum 1. Mai. Während hier die umgebende Architektur und die begleitenden Polizeiwagen die Konstante bilden und klar konturiert sind, verschmelzen die Demonstranten mit ihren Transparenten zu einem einheitlichen Strom. Geschickt kontrastiert wird dies in der Ausstellung mit einigen kleineren, historischen Demonstrationsfotos aus Berlin von Otto und Georg Haeckel (1911/12), Willy Römer (1919) und Bernard Larsson (1960er-Jahre). Geradezu geschichtsphilosophisch sind schließlich Weselys Langzeitbelichtungen markanter Berliner Baustellen, etwa vom Potsdamer und Leipziger Platz. So verfolgte er in einer zweijährigen (!) Aufnahme von 2006 bis 2008 auch den Rückbau des Palasts der Republik. Stück für Stück verschwindet das DDR-Gebäude von der Bildfläche, während die Sonne ihre immergleiche Bahn beschreibt, die einzig der scheinbaren Ekliptik folgt. In Berlin mögen die Zeitschichten in dichter Folge wechseln, doch manches entzieht sich einfach dem Zugriff der Zeitgeschichte.
Anmerkungen:
1 Diesen Ansatz verfolgten in Berlin 2024 gleich mehrere Fotoausstellungen: so die Ausstellung „Timescapes“ von Michael Ruetz in der Akademie der Künste (https://www.adk.de/de/programm/?we_objectID=66390, 14.08.2024) sowie die Ausstellung „Berlin Revisited“ von Renate von Mangoldt ebenfalls im Museum für Fotografie (https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/museum-fuer-fotografie/ausstellungen/detail/renate-von-mangoldt-berlin-revisited/, 14.08.2024).
2 Hanno Hochmuth, Berlin. Das Rom der Zeitgeschichte, Berlin 2024.
3 Die historischen Fotos, die mit Hilfe von laminierten Blättern in der Ausstellung zumindest als Kleinformate auch separat betrachtet werden können, stammen von folgenden Fotografen (in alphabetischer Reihenfolge): Martin Badekow, Harry Croner, Rolf Goetze, Hein Gorny, Herbert Maschke, Max Missmann, Richard Peter (sen.), Willy Römer, F. Albert Schwartz, Friedrich Seidenstücker, Waldemar Titzenthaler. Wie sich Zeitschichten und Zeitgeschichte in deren Biographien ausgedrückt haben, wird in der Ausstellung nicht thematisiert.