In dem von ihm und Norbert Frei herausgegebenen Sammelband „Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945“ forderte Martin Sabrow 2012 von der Geschichtswissenschaft, „über die sich oft lautlos und hinterrücks verändernden Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Gesprächs über die Vergangenheit nachzudenken, die dem Zeitzeugen nach 1945 seinen beispiellosen Aufstieg beschert haben“.1 Seitdem ist in der Forschung viel passiert2, und auch Museen und Gedenkstätten nehmen sich des Themas explizit an.3 Die Wanderausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ macht diesen Aushandlungsprozess nun einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Am bevorstehenden Ende der Ära des autobiografischen Zeugnisablegens über die NS-Verbrechen stellt die Ausstellung weniger die offene Zukunft der Zeitzeugenschaft in den Mittelpunkt, sondern mehr deren Gewordensein. Sie fragt, wer wann sprechen wollte und sprechen durfte, wer gehört wurde, und zu welchen Bedingungen.
Das Kooperationsprojekt zwischen dem Jüdischen Museum Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg unter Leitung von Anika Reichwald war von Beginn an als Wanderausstellung konzipiert. Im November 2019 in Hohenems eröffnet, wurde die Schau danach bereits in Flossenbürg, im NS-Dokumentationszentrum München, im Jüdischen Museum Augsburg Schwaben, in der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum sowie im Haus der Geschichte Österreich in Wien gezeigt. Bis zum 24. August präsentiert sie nun das Zentrum Erinnerungskultur an der Universität Regensburg. Vom 19. September 2024 bis zum 4. Mai 2025 wird sie im Historischen Museum Frankfurt am Main zu sehen sein.
Der Beginn der Ausstellung in der Regensburger Universitätsbibliothek – an einem Transitort zwischen Bücherregalen, Seminarräumen und einem Café mitten im universitären Alltag platziert – zieht Besuchende wie zufällig Vorbeikommende mitten hinein in die Thematik: Eine Lampe, ein Tisch, ein Mikrofon, alles steht bereit für ein Zeitzeugeninterview. Ein Sessel lädt ein, sich zu setzen und das Gespräch zu eröffnen. Mit Hilfe von Videosequenzen, aufgenommen unmittelbar vor den Interviews, sind die Gesprächspartnerinnen und -partner an die Wand projiziert: stumm darauf wartend, gefragt, zur Zeitzeugin, zum Zeitzeugen zu werden.
Abb. 1: „Ende der Zeitzeugenschaft?“ Einstieg in die Ausstellung in der Universitätsbibliothek Regensburg
(© KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Foto: Thomas Dashuber)
Die Ausstellung gliedert sich grob in drei Abschnitte: erstens eine Analyse von Videointerviews, zweitens ein chronologischer Gang durch die Geschichte der Zeitzeugenschaft für die NS-Verfolgung seit 1944 sowie drittens ein Modul, das an jedem Ort mit Bezug auf die eigene Sammlung individuell gestaltet wird.
Mit der Präsentation von Videointerviews entspricht die erste Ebene auf den ersten Blick der gewohnten Präsentation von Zeitzeugenschaft in Ausstellungen. Die gewählten Momente durchbrechen jedoch die Routine: Sie zeigen das, was sonst weggeschnitten wird, etwa, wie ein Kameramann bei einem Dreh in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg einen Zeitzeugen abrupt unterbricht, weil er die Linse des Objektivs reinigen muss. Der Zeitzeuge steht, wartet, friert. Hier tritt die „Gemachtheit“ der Interviews deutlich zu Tage.
Abb. 2: „Eine gemachte Sache – das Zeitzeugeninterview“: Ausstellungssequenz zum „Making-of“ von Videointerviews
(© KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Foto: Thomas Dashuber)
Für die Präsentation weiterer Interviews an kleineren Medienstationen hat sich das kuratorische Team diesen Interviews quellenkritisch genähert und Erzählstrukturen wie „Moral“, „Fragmente“ oder „Distanzierung“ herausgearbeitet. Die klare Analyse und zugleich sensible Annäherung an die Vielfalt des Materials zeigt einen Weg auf, wie die gleichen Videos künftig anders ausgestellt werden können. Unter der Überschrift „Profi“ verdeutlicht ein Interview, 2013 aufgenommen in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, dass sich Zeitzeugen mitunter historisches Fachwissen aneignen – mit dem sie ihre eigenen, meist kindlichen Erinnerungen fundieren. Dies zeigt das Gespräch mit Max Glauben (14. Januar 1928, Warschau – 28. April 2022, Dallas), der als Kind im Warschauer Ghetto überlebte. Als Beispiel für „Überwältigung“ dient ein Ausschnitt aus einem Interview der USC Shoah Foundation, in dem der langjährige Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde in Regensburg von der Erschießung eines Freundes während der Deportation nach Auschwitz-Birkenau im August 1943 berichtet. Dem befragten Otto Schwerdt (3. Januar 1923, Braunschweig – 30.12.2007, Regensburg), fällt das Sprechen hierüber im Interview sichtbar schwer. Eine generelle Stärke ist der modulare Ansatz der Präsentation: Die Ausstellungsorte können die Monitore mit Videos aus dem eigenen Bestand bestücken. In Regensburg erkennen insbesondere Lehrkräfte den Zeitzeugen Schwerdt, der seit den 1990er-Jahren für Gespräche mit Schulklassen bereitstand.
Leicht abgesetzt stehen die Medienstationen zu den Topoi „Zumutung“, „Zeitabstände“ und „Auftrag“. Hier verdeutlicht ein Interview mit Aleksander Laks (1927–2015), 2006 aufgenommen in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, den Wunsch vieler Überlebender, denjenigen eine Stimme zu geben, die nicht mehr sprechen konnten: Der Vater des damals 16-Jährigen wurde im KZ Flossenbürg ermordet. Durch die Präsentation der Interviews anhand der herausgearbeiteten Erzählstrukturen gerät der zeitliche wie räumliche Kontext ihrer Entstehung allerdings in den Hintergrund. Für eine fundierte quellenkritische Einbindung der Videos in die Ausstellung müsste der zeithistorische Zusammenhang ihrer Aufnahme ebenso deutlich werden wie die Zeitgebundenheit in der Art und Motivation des Fragens.
Abb. 3: „Erinnerungen – Erzählungen – Erwartungen“: Die drei Medienstationen zu den Leitbegriffen „Zumutung“, „Zeitabstände“ und „Auftrag“ stehen leicht versetzt. So verweisen sie auf den gesellschaftspolitischen Kontext der Interviews, der im Raum dahinter vertieft wird.
(© KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Foto: Thomas Dashuber)
Diese zeitgeschichtliche Einordnung leistet die zweite Ebene der Ausstellung, die ebenfalls größtenteils überzeugt: Ein kulturhistorischer Abriss bettet die Berichte der Überlebenden in ihre jeweilige Entstehungssituation ein. Der Fokus liegt dabei auf der Bundesrepublik Deutschland, ohne den internationalen Kontext aus dem Blick zu verlieren. In Regensburg in einem separaten Raum in U-Form gestellt, durchlaufen die Ausstellungsgäste die Entwicklung chronologisch: „Überlebt, berichtet, verstummt“ (1944 bis 1945), „Zeit ohne Zeug:innen?“ (1950 bis 1959), „Täter:innen, Opfer, Zeug:innen“ (1960 bis 1969), „Neue Perspektiven, andere Erinnerungen“ (1970 bis 1989) sowie „Konkurrierende Erinnerungskulturen und medialer Massenkonsum“ (1990 bis heute). Die Einführungstexte ermöglichen Personen ohne vertiefte Vorkenntnisse einen hervorragenden Überblick; gleichzeitig schafft es die Ausstellung, insbesondere auf Ebene der Exponate, auch für Fachleute überraschende Perspektiven zu eröffnen.
Abb. 4: „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Zeitzeugenschaft“: Der chronologische Teil ist in einem eigenen Raum in U-Form zu sehen.
(© KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Foto: Thomas Dashuber)
Im ersten Abschnitt dieses Segments thematisiert die Ausstellung die in der Forschung lange Zeit vernachlässigten, durchaus zahlreichen Initiativen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Anhand einer Anleitung für Zeitzeugengespräche sowie einer Fotografie aus Łódź wird die Arbeit der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission vorgestellt, die im Nachkriegspolen über 3.000 Berichte von Überlebenden sammelte. Ein Blick auf das weitere Wirken der Survivor Scholars – etwa Joseph Wulf, der ab 1952 in West-Berlin zahlreiche Dokumentationen zum Holocaust vorlegte – hätte hier nicht nur Einblick gewährt in die Ablehnung, auf die Historiker wie er innerhalb der bundesdeutschen (akademischen) Geschichtswissenschaft stießen, sondern hätte auch die im Katalog anklingende Dichotomie zwischen Geschichtswissenschaft und Zeitzeugenschaft differenzieren können.
In den 1960er-Jahren dominierte die juristische Aufarbeitung; Überlebende kamen im Jerusalemer Eichmann-Prozess sowie in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen zu Wort. Daneben zeigt eine Vitrine die Präsenz der Erinnerungen eines anderen Personenkreises und die (einstige) Weite des Zeitzeugen-Begriffs: Hier liegen die Autobiografien von Baldur von Schirach (1967), Albert Speer (1969) und Karl Dönitz (1968/75). Besonders Speer konnte das öffentliche Bild seiner Rolle im Nationalsozialismus lange selbst prägen und erreichte mit seinen „Erinnerungen“ international eine Millionenauflage.
Einen Wendepunkt der deutschen Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die 1979 in der Bundesrepublik ausgestrahlte fiktionale US-amerikanische Serie „Holocaust – die Geschichte der Familie Weiss“, verdeutlicht die Ausstellung anhand von Zuschriften, die den Sender nach der Ausstrahlung erreichten. Diese geben einen guten Einblick in die Befindlichkeiten der damaligen Zeit.4
Abb. 5: „Neue Perspektiven, andere Erinnerungen“: Die veränderte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die sich in den Reaktionen auf die Ausstrahlung der US-amerikanischen Serie „Holocaust“ zeigt, wird in der Ausstellung anhand der damaligen Presseberichte sowie mit Zuschriften an den Westdeutschen Rundfunk (WDR) thematisiert.
(© KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Foto: Thomas Dashuber)
Bereits ein erster Blick in den Raum zeigt den tiefgreifenden Medienwandel: Dominieren an den Tischen anfangs zweidimensionale Objekte wie Briefe, Fotos und Zeichnungen, ergänzt durch Audioaufnahmen, werden Filmausschnitte von Jahrzehnt zu Jahrzehnt häufiger. Eine Betacam-Videokassette des Holocaust Survivors Film Project des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies von 1979 steht für die erste systematische Sammlung von Videointerviews mit Überlebenden. Im letzten Abschnitt, durch die U-Form des Rundgangs genau gegenüber dem spärlich bestückten Teil zu den 1950er-Jahren, zeugen zahlreiche Bücher mit persönlichen Erinnerungen vom „Memory Boom“. Dessen Schattenseiten werden mit Publikationen zu gefälschten bzw. imaginierten Überlebendenbiografien wie derjenigen von Bruno Dössekker alias Binjamin Wilkomirski sichtbar („Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948“, 1995).
Die dritte Ausstellungsebene ist ein Modul, das an jedem Präsentationsort variiert und aus der jeweiligen Sammlung oder Institutionsgeschichte eine eigene Perspektive auf Zeitzeugenschaft wirft: Das Centrum Judaicum brachte Stimmen von Jüdinnen und Juden zu Wort, die nicht in den klassischen Kanon der Erinnerung passen, etwa da sie in der Roten Armee oder als Partisaninnen und Partisanen gekämpft haben und sich als Siegerinnen und Sieger über den Faschismus verstehen, nicht als seine Opfer. Durch die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg erhielten Zeuginnen und Zeugen eine Stimme, die als Homosexuelle, „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden. Das NS-Dokumentationszentrum München stellte zwei Virtual-Reality-Projekte vor, die zukünftig ein Gespräch mit Überlebenden simulieren sollen. Mit diesen unterschiedlichen Schwerpunkten befragen sich die beteiligten Gedächtnisinstitutionen selbst, benennen Leerstellen in ihren Sammlungen und übernehmen selbstkritisch Verantwortung für die eigene Rolle in Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Zeitzeugenschaft. Der „Blick hinter die Kulissen“ spiegelt sich auch im umfassenden Begleitprogramm, das das Zentrum Erinnerungskultur in Regensburg konzipiert hat.
Der 400-seitige, ansprechend gestaltete Katalog ist vor kurzem im Wallstein Verlag erschienen. Die Herausforderung, die zahlreichen Multimedia-Inhalte in Papierform zu übertragen, meistert er mit sorgsam ausgewählten Filmstills, die durch Untertitel das Gesagte lesbar machen. Dem klassischen Katalogteil vorangestellt sind wissenschaftliche und essayistische Beiträge. Wie die Ausstellung bieten auch diese keine eindeutigen Antworten auf die vielfältigen Fragen, sondern brechen, in der für das Jüdische Museum Hohenems typischen Art und Weise, Erzählstränge auf und beleuchten Narrative von mehreren Seiten.
Gleich die ersten inhaltlichen Beiträge fügen dem Fragezeichen am Ende des Ausstellungstitels zwei weitere hinzu: Ko-Kurator Julius Scharnetzky argumentiert anhand dreier früher Zeugnisse aus Flossenbürg überzeugend, dass als „Berufsverbrecher“, „Asoziale“ oder Homosexuelle Verfolgte in der Nachkriegszeit nicht nur nicht gehört wurden, sonst meist weiterer Verfolgung ausgesetzt waren. Bis heute fehlen ihre Stimmen in den Sammlungen. Aus dieser Perspektive steht das Ende der Zeitzeugenschaft nicht unmittelbar bevor, sondern setzte direkt nach dem Krieg ein.
Der Historiker Daniel Schuch geht in seinen Überlegungen zur Transformation der Zeugenschaft von den frühen Audiointerviews des US-amerikanischen Psychologen David P. Boder aus.5 Anhand der Figur des „moralischen Zeugen“ zeigt er, wie sich diese universalisiert und auf andere Genozide übertragen hat. So könne von „einem ‚Ende‘ der Zeugenschaft [...] also auch jenseits der unsterblichen Avatare von Zeug*innen des Holocaust keine Rede sein“ (S. 70).
Einen schonungslosen Einblick in die Produktionsbedingungen, denen sich die Überlebenden aussetzen, die zukünftigen Generationen als VR-Zeitzeuginnen und -zeugen gegenübertreten, bietet der Medienhistoriker Axel Doßmann. Er verdeutlicht zudem die Kluft zwischen der breiten medialen Debatte um diese neuen Formate und dem spärlichen Einsatz in der Realität sowie die Tatsache, dass sowohl Gedenkstätten als auch Schulen gerade ganz andere „Baustellen“ haben.
Auf eine davon wird die kommende Station der Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt am Main hinweisen: Die Hunderttausenden bereits vorhandenen Interviews für die Zukunft zu bewahren, ist wohl eine der akutesten Herausforderungen. Deswegen wird in Frankfurt neben einem partizipativ im Stadtlabor entwickelten Modul eine Digitalisierungswerkstatt eingerichtet.6 Interviews, die auf Datenträgern wie Videokassetten und Disketten oder in veralteten Computerprogrammen gespeichert sind, sollen dort nachhaltig gesichert werden.
Anmerkungen:
1 Martin Sabrow, Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten, in: Norbert Frei / Martin Sabrow (Hrsg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 13–32, hier S. 32.
2 Als Überblick siehe Steffi de Jong, Zeitzeugin/Zeitzeuge, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 24.06.2022, https://docupedia.de/zg/Jong_zeitzeuge_v1_de_2022 (09.07.2024).
3 Als frühes Beispiel vgl. das Themenheft „Museum und Zeitzeugenschaft“, WerkstattGeschichte 62 (2013), https://werkstattgeschichte.de/alle_ausgaben/museum-und-zeitzeugenschaft/ (09.07.2024).
4 Umfangreiches Material zur Entstehung und Rezeption der Serie bietet die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB). Sie veröffentlicht auch die Beiträge einer Begleitforschung, die die BpB damals gemeinsam mit dem Westdeutschen Rundfunk rund um die Erstausstrahlung durchführte, in: Die Serie „Holocaust“, 31.01.2023, https://www.bpb.de/themen/holocaust/517864/die-serie-holocaust/ (09.07.2024).
5 Siehe auch seine einschlägige Dissertation: Daniel Schuch, Transformationen der Zeugenschaft. Von David P. Boders frühen Audiointerviews zur Wiederbefragung als Holocaust Testimony, Göttingen 2021; rezensiert von Linde Apel, in: H-Soz-Kult, 22.04.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97498 (09.07.2024).
6 Siehe https://historisches-museum-frankfurt.de/de/stadtlabor/zeitzeugenschaft (09.07.2024).