Die legendarische Gründung eines Klosters durch den Wanderbischof Pirmin bildet den Anlass zur Großen Landesausstellung „Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau“ des Badischen Landesmuseums, die vom 20. April bis zum 20. Oktober 2024 im Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg in Konstanz präsentiert wird. Ein Schwerpunkt liegt auf den in das UNESCO-Weltdokumentenerbe aufgenommenen Reichenauer Prachthandschriften des 10. Jahrhunderts. Der Bezug zum Gründungsjahr des Klosters steht in einer Kontinuität mit den Jubiläumsausstellungen von 1925 und 1974. Dabei werden keineswegs alte Geschichten neu aufgewärmt. Ausstellungsprogramm und Gestaltung präsentieren den neuesten Forschungsstand.
Der Ausstellungsort Konstanz führt die Ausstellung in unmittelbare Nähe zum historischen Schauplatz: der Insel Reichenau im Bodensee. Damit wird den Besucher:innen die Gelegenheit eröffnet, nicht nur im Museum das materielle Erbe der Klosterinsel zu betrachten, sondern diese selbst in die Besichtigung einzubinden. Neben den Architekturen der Reichenauer Kirchen befinden sich mit der Reichenauer Schatzkammer im Münster in Mittelzell wesentliche Zeugnisse auf der Reichenau selbst. Ein Kombi-Ticket (online-Buchung) vereinfacht den Eintritt zu den entsprechenden Orten und bietet die Möglichkeit zum kostenfreien Transfer auf die Reichenau. Zur Ausstellung konnten auch eine Neueinrichtung und -präsentation der Reichenauer Schatzkammer realisiert werden.
Im Archäologischen Landesmuseum Konstanz wird die Ausstellung in acht Räumen über zwei Etagen präsentiert. Die Räume eins bis vier eröffnen die Ausstellung im zweiten Obergeschoss, worauf im unteren Geschoss die Räume fünf bis acht anschließen. Die Raumfolge und Geschosse im Badischen Landesmuseum werden zu einem bestimmenden Faktor der Ausstellungsnarration. Schnitt und Dimension der Räume weisen den Themen jeweils unterschiedliche Ausstellungsflächen zu. Der Eingang zur Ausstellung befindet sich im zweiten Obergeschoss. In einem Vorraum wird die Reichenau als Thema der Ausstellung vorgestellt. Hier treffen die Gäste erstmals auf die Person Walahfrid Strabo, der an den Medienstationen immer wieder präsent ist.
Im Obergeschoss (Räume eins bis vier) beginnt die Ausstellung chronologisch mit dem heiligen Pirmin und der Gründung des Klosters Reichenau. Es könnte ein Balanceakt sein, der Gründung des Klosters ausreichende Prominenz einzuräumen, ohne die legendarischen Erzählungen zu historischen Tatsachen aufzuwerten. Der Einstieg in die Ausstellung ist jedoch ausgesprochen gelungen. Die Gründungstätigkeit Pirmins wird in einen historischen Kontext mit der Ausbreitung des Christentums im Bodenseeraum und der dortigen Gründung religiöser Gemeinschaften gestellt. So präsentieren sich die Bilder der Reichenauer Gründung zwischen weiteren Gründerfiguren wie Gallus, Verena oder Fridolin. Neben Artefakten aus der Frühzeit der Gemeinschaften zeigen die zusammengetragenen Skulpturen, Reliquiare und Gemälde die historische Entwicklung der jeweiligen Gründungsbilder und deren Bedeutung in unterschiedlichen Phasen der Geschichte.
Eine Videoprojektion führt schließlich anhand von neuen Rekonstruktionsmodellen in die frühe Architekturgeschichte der Reichenau ein. Raum zwei präsentiert den St. Galler Klosterplan als großformatige Grafik an der Wand. Die Architektur dient als Bindeglied zwischen den normativen Vorstellungen des Klosterlebens und dessen individueller Realisierung am jeweiligen Ort. Die folgenden Räume drei und vier verbinden die Architekturgeschichte der Reichenau mit der aufkommenden Heiligenverehrung und der Liturgie im Kloster. Die Anordnung der Objekte lässt die praktische Verwendung derselben anklingen. Exponate zur Musikgeschichte, inklusive eines nachgebauten Chorgestühls mit integrierten Hörstationen, befinden sich an den Seitenwänden. Die Stirnwand präsentiert demgegenüber Artefakte der Schatzkunst. Es sei darauf hingewiesen, dass die Schatzstücke der Reichenau, wie beispielsweise der Markusschrein, nicht in der Ausstellung, sondern in der Schatzkammer in Reichenau-Mittelzell ausgestellt sind.
Abb. 1: Ausstellungsimpression, Büsten-Reliquiar des Heiligen Bischofs Zeno von Verona aus dem Marienmünster in Radolfzell Bodenseeraum, um 1480 (?) Radolfzell am Bodensee, Katholische Kirchengemeinde
(© Badisches Landesmuseum, Foto: ARTIS – Uli Deck)
Nach dem Abgang im Treppenhaus führt der folgende Raum in die Handschriften und Buchmalerei ein. Dem gangartigen Raumcharakter folgend, werden anhand von Schreibtafeln, Tintenhörnern und weiteren Exponaten die einzelnen Arbeitsschritte der Handschriftenproduktion erläutert. Damit dient der Raum gleichzeitig der inhaltlichen Vorbereitung für den folgenden Raum sechs, in dem zweigeteilt die Reichenauer Prachthandschriften und weitere Zeugnisse der Reichenauer Schrift- und Wissenschaftskultur präsentiert werden. Es ist ein nicht zu unterschätzender Erfolg der Ausstellungsmacher:innen, fünf der zehn Reichenauer Welterbe-Handschriften aus europaweiten Sammlungsorten zusammenzutragen. Ergänzt um das Einzelblatt mit der Miniatur Papst Gregors von der Hand des „Gregormeisters“, stellt sich damit eine sehenswerte Dichte an Zeugnissen der Buchmalerei des späten 10. Jahrhunderts ein. Nicht alle Handschriften sind permanent in der Ausstellung präsent. Über die Monate der Ausstellung findet eine Rotation der Exponate statt. Auch innerhalb der Handschriften werden, teilweise nach wenigen Wochen, wechselnde Doppelseiten aufgeschlagen. Der Zeitplan der Rotationen wird allerdings nicht bekanntgegeben. Eine Ausleihe der Münchener Welterbe-Handschriften war nicht möglich. Das Aachener Liuthar-Evangeliar beschließt somit die Präsentation der Reichenauer Buchmalerei. Deren weitere Entwicklung im 11. Jahrhundert wird nicht ausführlicher thematisiert.
Unabhängig von konservatorischen Notwendigkeiten zeigt sich die Herausforderung, die das Exponat Codex/Buch in der Präsentationspraxis darstellt. Mehrseitige Bildprogramme, wie der Dedikationszyklus des Hornbacher Sakramentars, verbleiben in der momenthaften Einzelansicht einer Doppelseite. Als Ersatz werden weitere Seiten über eine Medienstation, die Reichenau-App oder die Publikationen sichtbar gemacht.
An die Prachthandschriften anschließend werden im folgenden Raum das literarische Schaffen Walahfrid Strabos und, räumlich abgesetzt, das Reichenauer Verbrüderungsbuch als weitere Zeugnisse Reichenauer Schriftlichkeit erfahrbar. Die eigenständige Präsentation des Verbrüderungsbuches betont seine Bedeutung als historisches Zeugnis der Reichenau und der damaligen Gesellschaft insgesamt. Über eine Tonspur werden eingetragene Namen aus dem Buch vorgelesen, was eine stimmungsvolle Begegnung mit dem Ausstellungsstück erzeugt.
Nach dem Fokus auf die unterschiedlichen Formen Reichenauer Schriftkultur wird im letzten Raum acht der Blick auf die historische Entwicklung des Klosters gelenkt. Behandelt werden die Themen „Reichenauer Äbte im Dienste der Kaiser“, „Vernetzung“, „Reichsfürsten als Auftraggeber“, „Das Kloster herrscht und fälscht“ sowie „Langer Abschied. Das Ende des Klosters“. In der Zusammenstellung unterschiedlicher Exponate greift dieser Raum wieder die historische Breite auf, in der die Gründung der Reichenau zu Beginn der Ausstellung kontextualisiert wurde. Die enge Taktung der Themen und Exponate, die eine erkennbare Beschleunigung der Narration bewirkt, zeigt einen Kompromiss zwischen verfügbarem Raum und erzählerischer Breite.
Das Programm der Ausstellung ist aber nicht auf die Museumsräume begrenzt. Hierzu lädt die örtliche Nähe zur Reichenau ein. Für die narrative Verknüpfung beider Ausstellungsbereiche ist die Reichenau-App unverzichtbar, die als Audioguide die Ausstellungsorte miteinander verbindet und eine interaktive Vermittlung der Inhalte übernimmt. Gleichzeitig bietet die App viel mehr als einen einfachen Audioguide. Enthalten sind sämtliche Ausstellungstexte, Erklärvideos zu einzelnen Themen und Exponaten oder Bildergalerien, die zu einem längeren Betrachten der Reichenauer Buchmalereien einladen. Auf der Insel Reichenau werden zudem thematisch gegliederte Touren angeboten. Auch Beiträgen zum heutigen Leben auf der Insel wird hierbei Raum gegeben.
Hervorzuheben ist zudem der Podcast „Mönchsgeflüster“, ebenfalls (aber nicht nur) über die App abrufbar und von Marvin Gedigk (Badisches Landesmuseum) gehostet. Mit einer neuen Folge pro Woche führt der Podcast bereits seit November 2023 auf die Landesausstellung und die dort behandelten Themen hin. Mit wechselnden Gästen werden die unterschiedlichsten Themen aus einer disziplinenübergreifenden Beschäftigung mit der Klosterinsel Reichenau vorgestellt. So werden archäologische und räumliche Belange von Klosterinseln diskutiert, genauso wie Fragen nach gleichgeschlechtlicher Liebe in Klöstern oder die herausragenden Zeugnisse in den Bereichen der wissenschaftlichen Schriftlichkeit, Musik oder Buchmalerei aus der Geschichte der Reichenau. Daneben werden Herausforderungen der Ausstellungsvorbereitung und -durchführung erläutert, aber auch über die Darstellung mittelalterlicher Klöster in Romanen und Videospielen diskutiert. Insgesamt stellt der Podcast „Mönchsgeflüster“ eine große Bereicherung für das Ausstellungskonzept dar, das nicht nur die Reichweite, sondern auch die Rezeption der Ausstellung und ihrer Inhalte ungleich erhöht.
Abb. 2: Ausstellungsimpression Klosterinseln in Europa
(© Badisches Landesmuseum, Foto: ARTIS – Uli Deck)
Einen vergleichbaren Beitrag bietet eine Sammlung von Kurzgeschichten zur Reichenauer Geschichte von namhaften Autor:innen unter der Projektleitung von Tanja Kinkel. Das Buch „Reichenau ‒ Insel der Geheimnisse: Historische Geschichten aus 1300 Jahren Kloster Reichenau. Kurzgeschichten über die legendäre Klosterinsel im Bodensee“ ist für 18 Euro zu erwerben. Ergänzt wird das literarische Angebot durch das Hörspiel „Inselspaziergang mit Hermann“ von Tanja Kinkel, das wiederum über die App angeboten wird.
Zudem sind ein umfangreicher Begleitband als Katalog und ein Tagungsband mit wissenschaftlichen Beiträgen im Verlag Schnell & Steiner erschienen. Der Begleitband enthält gegliedert in sechs thematische Bereiche („Rahmenbedingungen“, „Innere und äußere Entwicklung“, „Netzwerke und himmlischer Beistand“, „Kunstwerke der Klosterinsel“, „Schrift und Wissen“, „Nachwirkungen“) Aufsätze, die die Themenbereiche der Ausstellung vertiefen. Die Ausführlichkeit und das durchgängig hohe Niveau der Beiträge gehen über einen klassischen Ausstellungskatalog weit hinaus. Dennoch ist das Themenspektrum abwechslungsreich und die Texte sind kurzweilig zu lesen, sodass nicht nur Wissenschaftler:innen Freude an der Lektüre haben werden. Zwischen den Beiträgen werden einzelne Exponate in eigenständigen Kurztexten vorgestellt. Der Begleitband hilft auf diese Weise auch, die Exponate der unterschiedlichen Ausstellungsorte in einer „Gesamtschau“ der Reichenauer (Kunst-)Geschichte zusammenzuführen. Hochwertige Farbabbildungen stellen einen wesentlichen Bestandteil großer Ausstellungspublikationen dar. Auch in diesem Begleitband sind Anzahl und Qualität der Abbildungen bemerkenswert. Letztlich bietet der Begleitband eine eigene Ausstellung, mit eigenem Narrativ und einer umfänglichen Präsentation der Exponate.
Die Leistung der Mitarbeiter:innen des Badischen Landesmuseums unter der Leitung von Olaf Siart ist beachtlich. Dies betrifft einerseits den organisatorischen und logistischen Aufwand bei der Akquise der Leihgaben und der Herausforderung, die Ausstellung an einem dritten Ort, in Konstanz, zu realisieren. Hier zeigen sich aber auch die Schwierigkeiten, die Themen und Narrationen der Ausstellung mit der verfügbaren Ausstellungsfläche zusammenzubringen. Groß ist ferner die Vielfalt an Zugängen, die die Ausstellung einem möglichst breiten Publikum eröffnen kann. Der Ansatz, mit einem Podcast bereits vor Eröffnung der Ausstellung auf diese hinzuarbeiten, ist beispielhaft und könnte Vorbild für zukünftige Projekte sein. Über literarische Geschichten Zugänge zur Geschichte anzubieten, erscheint ebenfalls als gelungenes Projekt einer diversifizierten Ansprache.
Gleichzeitig eröffnet sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem umfassenden Begleitprogramm und der Ausstellung selbst. Welche Funktion kommt der Begegnung mit dem historischen Original zu, wenn Reproduktionen und Digitalisate eine vielfältigere und detailliertere Auseinandersetzung ermöglichen? Der Ausstellung bleibt zunächst eine auratische Wirkung, gesteigert durch den Ausweis des UNESCO-Welterbes. Aufgabe kommender Ausstellungen wird es sein, die wissenschaftliche Relevanz und die Faszination der Auseinandersetzung mit dem Original herauszustellen und gleichzeitig die Chancen verschiedener anderer Medien und Kommunikationswege, die hier aufgezeigt wurden, zu nutzen.