Profitopolis oder der Zustand der Stadt

Veranstalter
Werkbundarchiv – Museum der Dinge
PLZ
10117
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.05.2024 - 28.02.2025
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Brünenberg, Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, Erkner

Nicht zum ersten Mal in der Geschichte des Werkbundarchivs – Museums der Dinge gibt es einen Standortwechsel: 2002 verlor die Institution ihre seit 1986 genutzten Ausstellungsräume im Martin-Gropius-Bau und suchte mehrere Jahre nach einem neuen Ort; 2007 konnte das Museum in der Oranienburger Straße in Berlin-Kreuzberg neu eröffnen. 2022 hat nun ein Luxemburger Immobilienfonds die dortige Nutzung gekündigt. Die Ausstellung „Profitopolis oder der Zustand der Stadt“ nimmt diesen Umstand zum Anlass, den jetzigen Interimsstandort an der Leipziger Straße zu eröffnen. Das Kurator:innen-Team rekurriert auf die kapitalismuskritische Ausstellung „Profitopolis“ der frühen 1970er-Jahre. Thematisiert werden aktuelle stadtpolitische Themen wie Umweltschutz, Bodenspekulation und Verkehrspolitik. Die Objektschau befindet sich im ca. 130 m² großen Raum für Wechselausstellungen des ansonsten noch in Renovierung befindlichen Museums der Dinge. Eine breite Fensterfront zur Straße verbindet das Museum mit seinem städtischen Umfeld. Am 8. November 2024 soll die neue Dauerausstellung eröffnen. Längerfristig ist der Umzug in einen Neubau an die Karl-Marx-Allee geplant – dabei gibt es aber noch viele offene Fragen.


Abb. 1: Neben dem Eingang zum Raum für Wechselausstellungen befindet sich bislang ein abgesperrter Bereich, der die Renovierungsarbeiten sichtbar macht.
(Foto: Stefanie Brünenberg)

In Reaktion auf die Kritik am (nachkriegs-)modernen Städtebau entwickelten Josef Lehmbrock und Wend Fischer, beide Mitglieder im Deutschen Werkbund, im Winter 1971/72 eine „Ausstellung über den miserablen Zustand unserer Städte und über die Notwendigkeit, diesen Zustand zu ändern, damit der Mensch wieder menschenwürdig in seiner Stadt leben kann“.1 In deutlicher Referenz zu Alexander Mitscherlichs Buch „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ von 1965 (den kleinen Band aus der „edition suhrkamp“ kann man im Museumsshop erwerben) zeigten die Ausstellungstafeln den Verlust an Urbanität und Lebendigkeit des gebauten Raumes sowohl in den Wohnvierteln als auch in den Stadtzentren. Als verantwortlich für diese Entwicklung wurde allerdings nicht die Architektur gesehen – wie Alexander Mitscherlich, Jane Jacobs und andere Protagonist:innen der Stadtkritik dieser Zeit es vermuteten –, sondern kritisiert wurden vor allem die „ökonomischen Interessen“. Lehmbrock fasste es 1975 noch einmal zusammen: „Nicht die Bedürfnisse der Bürger, sondern das Geld entscheidet darüber, was wo gebaut wird.“2 Entsprechend erhielt die Ausstellung den Titel „PROFITOPOLI$“ – mit einem Dollarzeichen am Ende. Einige der damaligen Ausstellungstafeln widmeten sich auch konkreten Gestaltungsvorschlägen für eine menschengerechtere Stadt mit neuen Wohnvierteln aus Terrassenhäusern und Flachbauten, umgeben von Stadtautobahnen. Die Ausstellung wurde ausgehend von München in über 140 Städten gezeigt (auch im Ausland), der Katalog innerhalb eines Jahres drei Mal neu aufgelegt.3 An diese große Resonanz anschließen konnte die Folgeausstellung acht Jahre später nicht: Deutlich weniger anklagend zeigten die Ausstellungstafeln unter dem Titel „Von PROFITOPOLI$ zur Stadt der Menschen“ nun comichafte Zeichnungen, die sich eher den Details der Planung widmeten und damit stärker die Perspektive der Bewohner:innen einnahmen.4


Abb. 2: Ein Teil der Ausstellung im Museum der Dinge zeigt die Genese und Kontextualisierung der „Profitopolis“-Ausstellungen von Josef Lehmbrock und Wend Fischer aus den 1970er-Jahren.
(Foto: JF / Werkbundarchiv – Museum der Dinge)

Die Ausstellungen von Lehmbrock und Fischer bildeten die großen Spannungsfelder in der modernen und postmodernen Städtebaugeschichte ab. In dieser Tradition sieht sich nun auch der erste Einblick in die neuen Ausstellungsräume des Werkbundarchivs: Der Titel „Profitopolis oder der Zustand der Städte“ liest sich wie ein dritter Teil der Reihe, und das Titelmotiv der Ausstellung zeigt ein Luftbild der Düsseldorfer Innenstadt, das bei Lehmbrock und Fischer 1972 als Sinnbild der „autogerechten“ Stadt diente. Man kann die aktuelle Ausstellung in vier Bereiche einteilen: eine Kontextualisierung der früheren Ausstellungen, eine historische Erläuterung zur diesbezüglichen Rolle des Werkbundes, eine Wand mit der Aufforderung zur Partizipation (orientiert an den ursprünglichen Ausstellungen) und schließlich das zentrale Ausstellungsmöbel, das sich dem „Zustand der Städte“ widmet.

Die Informationen zu den Profitopolis-Ausstellungen der 1970er-Jahre sind essenziell für das Verständnis der Tradition, in die sich der Werkbund einordnet. Mithilfe von einschlägigen Büchern, die wie Bilder an der Wand hängen, Videopräsentationen aus den früheren Ausstellungen und Zeitungsartikeln wird auf die noch heute sichtbare Aktualität der damaligen Themen hingewiesen: Bürgerbeteiligung, Verkehrswende, bezahlbarer Wohnraum und Umweltschutz waren und sind zentrale Fragen der Stadtplanung.

Die Wand zur Geschichte des Werkbundes dient hingegen eher einer Selbstdarstellung der Ausstellungsinitiatorin, des Werkbundarchivs. Dargelegt werden hier die Städtebaugeschichte sowie die Grundlagen der Wohnungsbaupolitik seit Gründung des Werkbundes 1907 bis zum Masterplan für Berlin, dem „Planwerk Innenstadt“ von 1999. Es wechseln sich in den komplexen Zusammenhängen der deutschen Geschichte und Architekturgeschichte vielleicht etwas verkürzte, dafür kurzweilige und keinesfalls überfordernde Begleittexte mit bekannten Bildern der Architektur des 20. Jahrhunderts ab: Die Werkbundausstellung in Köln 1914 wird unter anderem durch Bruno Tauts Glashaus repräsentiert, ein Titelblatt der Zeitschrift „Die Form“ von 1926 steht für den diskursiven Charakter des Werkbundes, es werden Berliner Wohnsiedlungen der 1920er-Jahre gezeigt, aber auch die Vereinnahmung des „Deutschen Werkbundes“ während der NS-Herrschaft. Mit dem Wechsel in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg liegt der Fokus noch stärker auf Berlin: Materialien zur Ausstellung „Berlin plant“ (1946), kuratiert von Hans Scharoun, hängen neben Bildern von der ehemaligen Stalinallee im Osten und von den Gebäuden der „Interbau“ (1957) im Westen. Ebenfalls für Ost und West folgen die Großwohnsiedlungen der 1960er- und 1970er-Jahre. Eine aktuelle Denkmal-Plakette, ein Museumsshop-Souvenir aus dem Humboldt Forum und der Stadtentwicklungsplan des Planwerks Innenstadt führen die wenig kommentierte Geschichtserzählung in die Gegenwart.


Abb. 3: „Unser Lebensraum braucht Schutz. Denkmalschutz.“ Das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 trug in West- wie Osteuropa zu einem veränderten Umgang mit historischer Bausubstanz bei. Nach der deutschen Einheit wurden in Berlin verstärkt historische Stadträume rekonstruiert.
(Foto: JF / Werkbundarchiv – Museum der Dinge)

Wie schon die Ausstellung 1971/72 die Bürger:innen zur Beteiligung aufforderte, können die Besucher:innen heute wiederum ihre „konstruktive[n] Vorschläge“ zur Verbesserung der Städte äußern. Die im Rahmen dieser Aufgabe beschrifteten und bemalten gelben Zettel werden auf ein die ganze Wand füllendes grobkörniges Schwarz-Weiß-Foto angebracht und geraten so selbst zu Ausstellungsstücken.


Abb. 4: In Anlehnung an den Fragebogen der Ausstellung von 1971/72 werden die Besucher:innen der aktuellen Präsentation hier gebeten, sich zu beteiligen. Mehrere Fragen gilt es zu beantworten, etwa: „Fühlen Sie sich wohl in Ihrer Stadt? Oder müsste man vieles ändern, damit Sie sich wohlfühlen?“
(Foto: Stefanie Brünenberg)

Zentrales Element und eigentliches Ausstellungsthema ist der „kritische Stadtspaziergang zwischen Kottbusser Tor und Spittelmarkt“: Zwischen zwei Architekturmodellen spannen sich Objekte zu den stadtpolitischen Themen „Abriss und Neubau“, „Auto und Asphalt“, „Pfützen und Pflanzen“ sowie „Boden und Profit“ auf. Stilisiert soll hier der Weg vom alten zum neuen Standort des Museums nachgegangen werden. Gerahmt werden die Themen durch zwei Architekturmodelle der Künstlerin Tracey Snelling vom Neuen Kreuzberger Zentrum (NKZ) am Kottbusser Tor und den Hochhäusern an der Leipziger Straße. Die Ausstellungsfläche bewirkt, dass die Teilthemen sich partiell überschneiden. So steht der Absperrpoller, der wohl eigentlich zum Thema „Auto und Asphalt“ gehört, an einer neuralgischen Stelle neben dem „Boden und Profit“-Block. Dadurch entstehen neue gedankliche Zusammenhänge der Objekte – wobei die wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Seite des Themas, die sich mit Exponaten nur begrenzt darstellen lässt, allerdings etwas zu kurz kommt. Die Ausstellungsstücke sind sehr heterogen: Ein Kurzfilm „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ (2023) von „ufo ufo“ (urban fragment observatory) wird neben einem Zimmermannshammer der „Instandbesetzer“ aus den 1980er-Jahren abgespielt, daneben wiederum finden sich die vergrößerte Reproduktion eines Zeitungsartikels zum Abriss der Ost-Berliner Großgaststätte Ahornblatt (im Jahr 2000, trotz Denkmalschutz) und eine Warnweste der „Deutsche Wohnen enteignen“-Aktivist:innen. Es wechseln sich also historische Zeugnisse mit aktuellen Verweisen, Alltagsgegenstände mit Kunstobjekten ab. Außer den beeindruckend detaillierten, bunten und leuchtenden Architekturmodellen soll an dieser Stelle noch das „Pfützenarchiv“ von Mirja Busch hervorgehoben werden: Die interdisziplinäre Künstlerin und künstlerische Forscherin5 präsentiert hier ihr in Flaschen gesammeltes Pfützenwasser, für dessen Archivierung sie ein Kategorisierungssystem entwickelt hat, um dem „menschengemachten Phänomen“ Pfütze näherzukommen.


Abb. 5: Blick auf Berliner Beispiele aus dem seit 2010 entstandenen, in verschiedenen europäischen Städten zusammengetragenen „Pfützenarchiv“ der Künstlerin Mirja Busch (rechts im Bild). Es verweist darauf, dass ein erheblicher Teil der Berliner Grundfläche versiegelt ist. Entsiegelung und der Ausbau von Grünflächen hätten demgegenüber klare ökologische Vorteile.
(Foto: JF / Werkbundarchiv – Museum der Dinge)

Fehlender Umweltschutz, zu wenig bezahlbarer Wohnraum, keine Gerechtigkeit unter den Verkehrsteilnehmer:innen – das sind alles brandaktuelle Themen der Stadtpolitik. Damit steht die Schau in einer direkten und offensichtlichen Tradition zu den Profitopolis-Ausstellungen der 1970er-Jahre. Gleichzeitig schwingen die Umstände, die zur jetzigen Ausstellung führten – der durch Investoren erzwungene Umzug des Werkbundarchivs in eine weitere temporäre Unterkunft bis zur Entscheidung des Senats über die Neubebauung an der Karl-Marx-Allee – bei allen Exponaten mit. Man kann den Kurator:innen Florentine Nadolni, Alexander Renz und Lotte Thaa nur dazu gratulieren, ihre Ideen und Objekte in diesem Ausstellungsraum untergebracht zu haben, ohne dabei einem der Themen besonderen Vorrang zu geben.

Während die anderen Ausstellungsteile klassisch an den Wänden befestigt sind, ist in der Mitte des Raumes ein zentrales Element aufgebaut, das aus Lagerregalen besteht, bei denen die Regalböden in unterschiedlichen Höhen so übereinandergestapelt sind, dass der Eindruck eines stilisierten städtebaulichen Modells entsteht. In Kombination mit den auf Wellpappe aufgezogenen Beschriftungen und Reproduktionen nimmt die Optik der Regale im weitesten Sinne die sonstige Renovierungssituation des Museums auf, wirkt dabei aber keinesfalls improvisiert, sondern sehr durchdacht.


Abb. 6: Das zentrale Ausstellungselement aus Lagerregalen; im Vordergrund links das Modell der Hochhäuser an der Leipziger Straße 40 von Tracey Snelling (2024). In den Fensternischen des Modells sind hinterleuchtete Fotos und einige Miniatur-Filme zu sehen.
(Foto: Stefanie Brünenberg)

Die Ausstellungstafeln sind sowohl in Deutsch und Englisch als auch in Leichter Sprache beschriftet. Zusammen mit der Mitmachwand wird die Ausstellung so zu einem integrativen und partizipativen Erlebnis. Umso bedauerlicher ist es, dass einige Objekte ganz ohne oder nur mit sehr wenigen Erklärungen präsentiert werden: Zwischen den Kunstwerken liegen einfache Haushaltsschwämme (wohl als Verweis auf das Konzept der „Schwammstadt“), man kann sie nicht ohne weiteres zuordnen; zu den Fotos und dem Planmaterial der Otto-Suhr-Siedlung aus den 1950er-Jahren fehlt ebenso eine vertiefende Information. Die Menge und Heterogenität an präsentiertem Material wirkt so zwar anregend, aber auch etwas unübersichtlich. Zudem stellt sich die Frage nach der Zielgruppe: Die historischen Überblicke wie auch die stadtpolitischen Themenblöcke bieten viel Interpretations- und Diskussionsraum für Expert:innen, aber ob ein interessiertes Laienpublikum oder gar zufällige Besucher:innen mit wenig Vorkenntnissen und Bedarf an Leichter Sprache ohne eine entsprechende Führung die Zusammenhänge nachvollziehen können, mag bezweifelt werden. Immerhin wird die Ausstellung von zahlreichen Veranstaltungen wie Stadtspaziergängen und hochkarätig besetzten Gesprächsrunden begleitet.6

Bleibt zum Schluss noch einmal der Bezug zu den ursprünglichen Profitopolis-Ausstellungen: Ein Kritikpunkt vor allem an den Gestaltungsvorschlägen für eine „menschenwürdige“ Stadt in der ersten Ausstellung von 1971/72 war deren große Nähe zu städtebaulichen Konzepten der 1960er-Jahre. In der hier vorgestellten aktuellen Ausstellung werden keine Ideen für eine andere – bessere? – Entwicklung oder gar Utopie der Stadt präsentiert. Es handelt sich letztlich doch um eine Ausstellung zur Geschichte des Städtebaus, die bis in die Gegenwart reicht, aber nur wenig in die Zukunft blickt. Dies gehört allerdings zur Charakteristik eines Archivs. So wird hier ein sehr spannender Einblick gewährt, der ab November in der Dauerausstellung vielleicht vertieft wird. Die „Frankfurter Küche“ der 1920er-Jahre ist schon jetzt in einem separaten Raum wieder zu sehen.

Anmerkungen:
1 Die Neue Sammlung, Staatliches Museum für Angewandte Kunst, München (Hrsg.), Profitopolis: oder Der Mensch braucht eine andere Stadt, München 1971.
2 Josef Lehmbrock, Anmerkungen eines Architekten. Städtebau – eine politische Aufgabe, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25 (1975), Heft 28, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/archiv/529874/anmerkungen-eines-architekten-staedtebau-eine-politische-aufgabe/ (01.08.2024), Zitat S. 3.
3 Vgl. Werner Durth / Paul Sigel, Baukultur. Spiegel gesellschaftlichen Wandels, Berlin 2009, S. 570.
4 Markus Eisen, PROFITOPOLI$ – Zwei Ausstellungen in München 1971 und 1979, in: Winfried Nerdinger (Hrsg.), 100 Jahre Deutscher Werkbund. 1907–2007, München 2007, S. 299–300.
5 Website der Künstlerin: https://www.mirjabusch.com/about/ (01.08.2024).
6 Termine und weitere Angaben finden sich auf der Website der Ausstellung: https://museumderdinge.de/ausstellungen/profitopolis/ (01.08.2024).