Zwei Männer in einer Straßenbahn, auf Hebräisch erzählt der Ältere dem Jüngeren, wie er vor vielen Jahrzehnten in einer eben solchen in Wien von einem Gestapo-Beamten verhaftet worden war. Die Sequenz zieht den Besuchenden mitten hinein in die Ausstellung „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“. Sie ist vom 18. September 2024 bis zum 16. März 2025 im Jüdischen Museum Wien und im Anschluss, vom 9. April 2025 bis 1. März 2026, im Jüdischen Museum München zu sehen. Kuratiert von Sabine Apostolo und Gabriele Kohlbauer-Fritz ist sie „eine sinnlich erfahrbare Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichen Versuchen, Unbewältigbares zu bewältigen“.1
Abb. 1: Filmstill „Back to the Fatherland“
(© GreenKat Productions)
Die Dritte Generation fragt, sucht, recherchiert, geht auf Reisen, durchkämmt Archive, stöbert auf Dachböden und durchforstet Fotoalben, um Lücken in der Familiengeschichte zu schließen – so der Topos. Doch gleich der erste Raum macht deutlich, dass es jene „Dritte Generation“ des Ausstellungstitels zumindest nicht als homogene Gruppe gibt. Wie die Überlebenden selbst, so haben auch ihre Nachkommen ganz unterschiedliche Hintergründe, Erfahrungen sowie Wege, damit umzugehen. Diese Vielfalt spiegelt die Ausstellung gleich zu Beginn: Vor dem Einstiegsvideo ist auf der einen Seite ein Ausschnitt aus „The Third Generation Cabaret“ der israelischen Künstlerin Nitsan Bernstein zu sehen. Genau gegenüber führt die Tapete „Patterns“ des kanadischen Künstlers Jonathan Rotsztain vor Augen, wie stark die Schrecken des familiären Gedächtnisses ins Unterbewusste der Kinder und Enkelkinder eindrangen.
Abb. 2: Jonathan Rotsztain, Patterns: Auf den ersten Blick handelt es sich um eine bunte Kindertapete; der zweite Blick offenbart Schreckensszenarien der Verfolgung, Angst und Gefangenschaft.
(© Jonathan Rotsztain)
Die Gestaltung der Ausstellung durch das Wiener Büro koerdtutech greift das „Nicht-Wissen, dieses Fast-Wissen, dieses Wissen-Wollen“2 der Dritten Generation auf, in dem hinter den Exponaten großflächig dünne Stoffe mit Bildern, Schrift und Fotografien gespannt sind. Doch sind sie unterhalb der Oberfläche, verbleiben schemenhafte, fragmentarische Andeutungen. Auch der Weg zum nächsten Raum ist unklar, geprägt durch Enge und Unsicherheit. Vorbei an der „Schreckenstapete“ führt er in den Raum „Vererbtes Trauma“: Hier erklingen fast unmerklich leise sanfte Wiegenlieder, die auf Jiddisch und Romanes von Auschwitz erzählen. Die Wände sind weiß, sowohl die Schrift als auch die Schwarz-Weiß-Fotografien treten in einen deutlichen Kontrast. Die Texttafeln stehen hier wie unfertig an die Wand gelehnt auf dem Boden, zeigen einen Bruch und: dass das Vergangene noch längst nicht Geschichte ist.
Abb. 3: Blick in den Raum „Vererbtes Trauma“. In den Schwarz-Weiß-Fotografien von verschneiten Weinbergen bei Wien (links im Bild) von Dan Glaubach erkennen Überlebende und ihre Nachkommen laut der Psychologin Irit Felsen den Appell in Konzentrationslagern. Dies zeigt, wie gegenwärtig die Bilder der Verfolgung bis heute sind und dass Traumata transgenerational vererbt werden können.
(© Foto: Tobias de St. Julien)
Der dritte und größte Raum macht deutlich, dass nicht nur die Kunst Möglichkeiten bietet, sich mit der Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Die Gestaltung greift hier zwar wieder das Schemenhafte des ersten Raums auf, entspricht in seiner Anmutung aber am stärksten einer kulturhistorischen Ausstellung: mit Bilderrahmen, Vitrinen, Objekten. Hier zeigt sich, wie stark Erinnerung und materielle Kultur verwoben sind. Hier wird das Thema der Ausstellung mit der Institution, die sie zeigt, verknüpft: dem Museum, das Objekte sammelt, bewahrt und erforscht. Nachkommen entscheiden sich, dem Museum ihre Familienarchive anzuvertrauen. Gleichzeitig führen Objekte und ihre Geschichten Familien zusammen, etwa, wenn es der Provenienzforschung gelingt, weit verstreute Verwandte ausfindig zu machen. Entsprechend erstaunt, dass die Zweite und Dritte Generation zwar ein eigenes Forschungsfeld sind, die aktuelle Ausstellung in Wien aber die erste ist, die das Thema explizit im musealen Raum verhandelt.3
Abb. 4: Blick in die Ausstellung „Die Dritte Generation“. In der Gestaltung der Ausstellung werden die verschwommene Erinnerungen visualisiert. Links im Bild ist das Archiv der Familie Löwit zu sehen, das diese letztes Jahr dem Jüdischen Museum Wien schenkte. Vorne sind zwei Silberleuchter zu erkennen, die die Münchner Jüdin Olga Maier im Jahr 1938 abgeben musste. 80 Jahre später gelang es der Provenienzforschung des Bayerischen Nationalmuseums in München, die Nachkommen zu ermitteln und die Familie zusammenzuführen.
(© Foto: Tobias de St. Julien)
Der dritte Raum verbindet die Schau auch mit ihren Ausstellungsorten: Die hier gezeigten Objekte stammen teils aus den Beständen der Jüdischen Museen Wien und München oder thematisieren die Geschichte von Personen, die mit den beiden Städten in Verbindung stehen. Das Deutschbuch der aktuellen Volontärin des Jüdischen Museums München, Yuval Schneider, in dritter Generation in Israel geboren, liegt in einer der Vitrinen. Geschickt wird der Satzungsauftrag der Museen – die jeweilige jüdische Geschichte des Ortes auszustellen – mit der globalen Dimension des Themas in Einklang gebracht. Doch bleibt eine Ausstellung solchen Umfangs gezwungenermaßen an der Oberfläche: Spannend wäre es gewesen, die familiären Narrative noch stärker in Zeit und Ort zu verankern. Denn es ist durchaus abhängig von den jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontexten, was wie erzählt, was nur angedeutet, was schnell vergessen oder bewusst verschwiegen wird. Ein Blick auf die Erfahrung der Familien, die die Nachkriegsjahrzehnte im Ostblock verbrachten bzw. heute weiterhin im mittleren und östlichen Europa leben, würde eine eigene, ganz andere Ausstellung ergeben.
Dieses Variable, Fluide und Fragmentarische der Erinnerung ist Thema der zwei anschließenden Räume „Spuren sichern und festhalten“ sowie „Erinnerungsreisen“. Sie treffen sich in der Erzählung „Plunder“ und den Bildern des Hauses in der Małachowski-Straße 12 im oberschlesischen Sosnowiec von Menachem Kaiser, der dort das vermeintliche Geburtshaus seines Großvaters fotografierte. Während er eine immer engere emotionale Bindung an das Gebäude entwickelte, stellte sich heraus, dass es lediglich Immobilienbesitz, und nicht das Haus war, in dem sein Opa aufwuchs. Schließlich entdeckte Kaiser, dass die Straßennummerierung geändert worden war und der Familie ein ganz anderes Haus in der Straße gehört hatte.
Abb. 5: In 36 Selbstporträts stellt der Künstler Rafael Goldchain reale und imaginierte Mitglieder seiner Familie nach, die teils bereits in den 1920er-Jahren aus Polen emigrierten, teils dort blieben und von den Deutschen ermordet wurden.
(© Foto: Tobias de St. Julien)
Im vorerst letzten Raum der Ausstellung, einer zum Erdgeschoss geöffneten Passage, wird in großformatigen Fotos die Serie „I Am My Family“ des Künstlers Rafael Goldchain gezeigt. Insbesondere in den Raum davor, „Erinnerung als Auftrag“, sind Objekte eingebettet, die an den Völkermord an den Sinti und Roma sowie an die Opfer der Euthanasie erinnern. Ebenfalls immer wieder eingewoben, jedoch nicht herausgehoben, sind Stimmen der Zweiten oder Dritten Generation, die bereits größere Bekanntheit erlangten: Ausschnitte aus den Filmen „Die papierene Brücke“ von Ruth Beckermann oder „Die Wohnung“ von Arnon Goldfinger, die Graphic Novel „Maus“ von Art Spiegelman oder Papierketten, die Katja Petrowskaja aus der Druckfahne von „Vielleicht Esther“ faltete. Jene „großen Namen“ überschatten die anderen Objekte nicht; vielmehr machen sie die Thematik der Ausstellung anschlussfähig für ein breiteres Publikum, da das eine oder andere wiedererkannt, jedoch in einem neuen Kontext präsentiert wird. Neben der Filmklappe vom Dreh von Jonathan Safran Foers „Alles ist erleuchtet“ stehen die „Memory Jars“ seiner Mutter. Hier zeigt sich erneut, dass die Ausstellung keine klaren Abgrenzungen zwischen den Generationen zieht, nicht das Schema bedient, die erste Generation habe nicht erzählt, die zweite nicht gefragt, sondern vielmehr bewusst springt, um diese schematische Einteilung zu hinterfragen. Eben diesen Verbindungslinien zwischen den Generationen geht die Literaturwissenschaftlerin Marianne Windsperger in ihrem Katalogbeitrag nach. Am Beispiel von Esther und Jonathan Safran Foer zeigt sie die innerfamiliären Dynamiken und Praktiken des Sammelns, Weiter- und Zurückgebens, aber auch die – unter anderem sprachlichen – Bruchlinien.
Der hervorragend gestaltete deutsch- und englischsprachige Katalog erschien im Verlag Hentrich & Hentrich. Über 300 Seiten dick, bietet er aufgrund seiner offenen Fadenheftung dennoch einen hohen Lesekomfort. Im hinteren Teil werden die Exponate auf weißem Hochglanzpapier durch sehr gut aufgelöste Bilder, Zitate sowie Texte, verfasst von einem Ausstellungsteam aus Wien und München, vollumfänglich vorgestellt. Leider macht dieser Katalogteil die Anordnung der Exponate innerhalb der Ausstellung nur bedingt nachvollziehbar, sodass sich mancher Zusammenhang ausschließlich vor Ort in der Ausstellung erschließt.
Der Essayteil ist vielmehr eine Vertiefung zu einzelnen Exponaten als eine Einführung in oder Zusammenfassung der Ausstellungsthematik. Katja Petrowskaja gibt beispielsweise Einblick in die Entstehung ihrer Papierketten, Noa Arad Yairi schreibt über ihren Gemäldezyklus „October 2023“. Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Agnese schildert Forschung zu sowie Kunst und Literatur der Zweiten Generation seit Helen Epsteins Publikation „Children of the Holocaust“4 von 1979, die „die Existenz einer ganzen Generation sichtbar gemacht hat“ (S. 84). Gabriele Kohlbauer-Fritz, Kuratorin der Ausstellung und Sammlungsleiterin am Jüdischen Museum Wien, geht in ihrem Text der Geschichte Jüdischer Museen nach. Am Beispiel der Sammlung Max Berger aus dem Wiener Bestand zeigt sie, dass sich Erinnerung nicht nur an einzelne Objekte bindet, sondern Sammlungen, das Sammeln und die Sammelnden selbst unmittelbar geprägt sind durch den Holocaust. Deutlich wird hier das Potenzial der Zusammenarbeit von Museen mit den Familien der Überlebenden. Zur Ausstellungseröffnung waren „zahlreiche Gäste anwesend, darunter viele Angehörige der Zweiten und Dritten Generation, die selbst tiefgreifende Erfahrungen mit den Nachwirkungen der Schoa gemacht haben“.5 In den USA ist diese Zusammenarbeit bereits institutionalisierter: Das Holocaust Museum LA bietet beispielsweise kontinuierlich Gesprächsrunden für die Zweite und Dritte Generation an.6
Aus der Provenienz der in der Ausstellung gezeigten Exponate formuliert sich ein Auftrag an die Museen: Die meisten Objekte stammen aus Privatbesitz, sind (noch) nicht Teil musealer Sammlungen. Dies steht im Kontrast zur Botschaft der Ausstellung: wie wichtig Objekte für das Festhalten der Geschichte, wie stark Erinnerung und materielle Kultur verknüpft sind. Umso mehr ist zu hoffen, dass es nicht bei dieser einen Ausstellung bleibt, sondern diese in einer klaren Strategie mündet, wie Museen zusätzlich zu den historischen Objekten der NS-Verfolgung auch jene persönlichen und künstlerischen Aushandlungsprozesse der Nachgeborenen sammeln können.
Das Ende der sehenswerten Ausstellung bildet ein weiterer Raum, der durch das Treppenhaus abgetrennt, jedoch gestalterisch klar mit der Ausstellung verbunden ist. Mit schwarzer Schrift und dunklen Bildern zeigt er die Gegenwärtigkeit des Holocaust im Gedächtnis der Nachfolgegenerationen sowie die Erschütterungen durch und seit dem 7. Oktober: die generationsübergreifende Traumatisierung und Re-Traumatisierung von Jüdinnen und Juden weltweit durch den Terrorangriff der Hamas. Hier stehen die Texttafeln, analog zum Raum „Vererbtes Trauma“, wieder auf dem Fußboden, brechen die Erzählung, zeigen die Präsenz des Traumas in unserer Gegenwart auf.
Abb. 6: Im räumlich separierten, aber gestalterisch und inhaltlich mit der Ausstellung verknüpften Raum zum 7. Oktober hängen Gemälde des Zyklus „October 2023“ der israelischen Künstlerin Noa Arad Yairi. Zudem ist ein Ausschnitt aus dem Film „Unser Kampf. Eine Familie. Drei Generationen. Neun Kriege“ zu sehen.
(© Foto: Tobias de St. Julien)
Anmerkungen:
1 Jutta Fleckenstein / Barbara Staudinger, Vorwort, in: Sabine Apostolo / Gabriele Kohlbauer-Fritz / Agnes Meisinger (Hrsg.), Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis. Berlin 2024, S. 10.
2 David Slucki, Der Holocaust und die Dritte Generation aus globaler Perspektive, in: Apostolo u.a., Die Dritte Generation, S. 65.
3 Fleckenstein / Staudinger, Vorwort, S. 11.
4 Helen Epstein, Children of the Holocaust. Conversation with Sons and Daughters of Survivers, New York 1979.
5 Wien Holding News, Jüdisches Museum Wien eröffnet „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“, 18. September 2024, https://www.wienholding.at/Presse/Presseaussendungen/Juedisches-Museum-Wien-eroeffnet-Die-Dritte-Generation-Der-Holocaust-im-familiaeren-Gedaechtnis (03.11.2024).
6 Holocaust Museum LA, Get involved, 2G, https://www.holocaustmuseumla.org/2g, 3G, https://www.holocaustmuseumla.org/3g (03.11.2024).