Allmachtsphantasien. Architektur und Alltag unter deutscher Besatzung

Allmachtsphantasien. Architektur und Alltag unter deutscher Besatzung

Veranstalter
Kulturzentrum Zamek
PLZ
60-101
Ort
Poznań
Land
Poland
Vom - Bis
19.10.2024 - 09.02.2025
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jannik Noeske, Institut für Europäische Urbanistik, Bauhaus-Universität Weimar

In der Vergangenheit waren Ausstellungen zum Städtebau im Nationalsozialismus Anlass für Auseinandersetzungen mit dem Gegenstand und Antreiberinnen einer neuen, öffentlichen Erinnerungskultur. Sie waren aber auch Wegmarken, ja Umbrüche in der Historiografie des NS-Städtebaus. Die Ausstellungen „Von Berlin nach Germania“ (Berlin, 1984/85), „Bauen im Nationalsozialismus, Bayern 1933–1945“ (München, 1993/94), „Das Gelände“ (Nürnberg, 2015) oder etwa „Wien: Die Perle des Reiches“ (Wien, 2015) haben die bestehende Geschichtsschreibung sowie die Perspektiven von Erinnerung und Denkmalpflege des baulichen NS-Erbes entscheidend mitgeprägt.

In den letzten zwei Jahren waren es wiederum zwei Ausstellungen, die bestehende Sichtweisen auf das Vermächtnis von Planen, Bauen und Gestalten im NS herausgefordert haben. Die Schau „Macht Raum Gewalt“ (Berlin, 2023) war das Ergebnis des wahrscheinlich umfangreichsten Forschungsprojektes zum NS-Bauwesen bislang.1 Sie stellte die Ergebnisse einer mehrjährigen, komplexen Forschungsarbeit im Auftrag des damaligen Bundesbauministeriums der Öffentlichkeit vor. Die Ausstellung erklärte mit ihrer thematischen Bandbreite und der bewusst schlichten Gestaltung die Unterordnung des Einzelbaus unter den Städtebau im NS-Bauwesen und setzte auf eine Erzählung der rechtlichen, politischen, technischen und nicht zuletzt der verbrecherischen Praktiken des Planens und Bauens. Dazu kam eine Darstellung der institutionellen und biografischen Vielfalt des Bauwesens im NS. Die gut besuchte Schau blieb nicht ohne Kritik.

Im Jahr darauf näherte sich die Ausstellung „Bauhaus und Nationalsozialismus“ in Weimar der berühmten Kunstschule und ihrer Verklärung als Hort von Demokratie und Fortschritt.2 Die Debatte um Bauhaus und NS hat der Architekturgeschichte schon in den 1990er-Jahren geholfen, ihr vereinfacht normatives Moderneverständnis und den einseitigen Blick auf NS-Architektur als vermeintlich rückschrittlich in Frage zu stellen. Die jüngste Ausstellung hat die differenzierte Sichtweise auf das Bauhaus-Erbe auf Grundlage neuer Forschungen und umfangreicher Quellen- und Objektbestände aktualisiert, fortgeschrieben und erzählerisch aufgewertet.

Auf diesen Forschungs- und Ausstellungsarbeiten konnte nun die Ausstellung „Iluzje Wszechwładzy / Allmachtsphantasien“ in Poznań aufbauen. Sie thematisiert Planen und Bauen in enger Beziehung zur Germanisierungspolitik des NS-Regimes im besetzten Polen – genauer im sogenannten Reichsgau Wartheland. Zudem wirft sie einen Blick auf den Alltag und (fehlende) Handlungs- und Gestaltungsmacht der polnischen Gesellschaft in der Besatzungszeit.

Ausgangspunkt ist die Beschäftigung mit dem Posener Schloss, einem neo-romanischen Koloss am Rande der historischen Altstadt. Errichtet wurde es 1905–1913 (Entwurf: Franz Schwechten) als Residenz Kaiser Wilhelms II. in der Zeit, als Posen Hauptstadt der gleichnamigen Provinz Preußens war. Der Umbau dieses Schlosses war ein zentrales Bauprojekt im „Warthegau“ ab 1940 – unter massivem Einsatz von Zwangsarbeit (Entwurf des Umbaus: Franz Böhmer und Georg Petrich). Die Neugestaltung des Posener Schlosses diente der (weiteren) Monumentalisierung des Prunkbaus, aber auch der Anpassung seiner Funktion als Verwaltungs- und Repräsentationsort der Besatzungsmacht in Polen.


Abb 1: Außenansicht des Schlosses in der Posener Innenstadt
(Foto: Jannik Noeske, 18.10.2024)

Das Schloss selbst wird seit den 1960er-Jahren als Kulturzentrum (CK Zamek) genutzt. Es ist für sich ein bemerkenswertes bau- und nutzungshistorisches Palimpsest. Die unverkennbar im Nationalsozialismus umgestalteten Räumlichkeiten beherbergen nun die Ausstellung, die fast genau 85 Jahre nach dem Überfall auf Polen eröffnet wurde. Sie besteht aus drei Teilen. Eröffnet wird der Rundgang der rein polnischsprachig beschrifteten Ausstellung – deutsche und englische Übersetzungen sind per QR-Code oder auf ausgedruckten Übersetzungsblättern verfügbar – mit einer Art Trümmerraum. Das ist der Prolog zum einführenden, ersten Teil, ein assoziativer, düsterer Zugang zum nationalsozialistischen Erbe in Polen.


Abb. 2: Blick in den ersten Teil der Ausstellung. Im Hintergrund der einführende Raum mit dem Akt von Fritz Nuss
(Foto: Maciej Kaczyński, CK Zamek)


Abb. 3: Der Ausstellungsteil „Landschaft“ im sogenannten Marmorzimmer
(Foto: Maciej Kaczyński, CK Zamek)

Im ersten Überblicksraum, eher ein „white cube“, werden die Besuchenden durch einen schlecht beleuchteten, auf einer billigen Holzplatte platzierten Akt des Bildhauers Fritz Nuss von 1941 begrüßt – ein erstes Statement. Der Raum erklärt den historischen Kontext der Ausstellung und stellt wichtige Akteure vor. Ausstellungsobjekte sind Reproduktionen historischer Fotografien und anderer Dokumente, die oft nur knapp kommentiert werden. Die längeren Ausstellungstexte sind gut lesbar direkt auf der Wand angebracht. Historische Kunstwerke bereichern den Raum, wie zum Beispiel zwei Gemälde des Neue-Sachlichkeit-Malers Oskar Martin-Amorbach, dessen Kunst hier für den Blick der Besatzungsmacht steht. Seine Werke werden ungerahmt und unrestauriert ausgestellt, befestigt mit billigen Baumarkt-Haken. Diese schlüssige Präsentation wird mit der prominenten Platzierung von Kunstwerken kontrastiert, die unter Bedingungen der Illegalität und großer Gefahr in Lagern und Ghettos entstanden sind. Die Gemälde und Zeichnungen etwa von Martin Bogusz und Sara Gliksman sind sprechende Zeugnisse des Alltags, der von Besatzungsgewalt und Unterdrückung gekennzeichnet war. Kurze historische Filmdokumente werden als Zeugnisse des Blickes der Unterdrückenden vorgestellt.

Der Hauptteil der Ausstellung ist in den Räumen am sogenannten Kaiserflur platziert, die in der NS-Zeit gestaltet wurden. Sie heißen entsprechend der verwendeten Materialien Nussbaum-, Birken- und Marmorzimmer. Die Ausstellung deckt hier drei Teile ab: Mit dem Bezug auf 1.) Stadt, 2.) Wohnung (und Amtsstube) und 3.) Landschaft wird die Umgestaltung der Region – und damit die Germanisierungspolitik des NS-Regimes – als Durchdringung aller Lebensbereiche und als vielfältiger Prozess der Raumproduktion vorgestellt, von denen Architektur und Städtebau nur die sichtbarsten und dauerhaftesten Ausprägungen sind.


Abb. 4: Ausstellungsteil zu „Stadt“ im sogenannten Nussbaumzimmer. Alltagsgegenstände bilden einen wichtigen Teil der Ausstellung. Erlasse und Verbote gehörten für die polnische Bevölkerung zum Alltag.
(Foto: Maciej Kaczyński, CK Zamek)

Der letzte Teil der Ausstellung ist eine Installation der polnischen Künstlerin Iza Tarasewicz. Sie kommentiert damit das Kaminzimmer, das für Adolf Hitler als Arbeitszimmer vorgesehen war, der es allerdings nie nutzte. Das Kunstwerk ist mit „Gelbe Kohle“ überschrieben. Tarasewicz, die häufig ortsspezifische und raumgreifende, fast monumentale Installationen fertigt, wählt eine gleichnamige Kurzgeschichte des Schriftstellers Zygmunt Krzyżanowski als Ausgangspunkt für eine räumliche Erzählung über Erinnerung und Zorn als „Energiequellen“ einer neuen Gesellschaft, in der ein als „Gelbe Kohle“ bezeichnetes Material wie „Galle über die von der Gesellschaft errichteten Dämme“3 tritt.

Die Installation besteht aus kubischen oder fließenden Tonformen, die mittels Baupigmenten schmutzig-geld eingefärbt sind. Komposition und Materialwahl referieren auf die Gewinnung von Baumaterialien, Topographie und Stadtarchitektur. Die eingangs ausgestellten Ziegelsteine sind ebenso abgebildet wie schmutzige Goldbarren – oder schlammige Böden, die für die kollektive Erfahrung des Zweiten Weltkriegs stehen sollen.


Abb. 5: Die Installation „Żółty węgiel“ (Gelbe Kohle) der polnischen Künstlerin Iza Tarasewicz
(Foto: Maciej Kaczyński, CK Zamek)

Die Ausstellungsmacherin von „Allmachtsphantasien“ ist die Kunsthistorikerin und Kuratorin Aleksandra Paradowska (Akademie der Bildenden Künste, Poznań). Ihr ist es gelungen, eine beeindruckende Sammlung historischer Dokumente, Fotografien, Pläne und Objekte der Alltags- und Architekturgeschichte zusammenzutragen. Sie erzählt Planen und Bauen nicht nur als Mittel der nationalsozialistischen Machtdurchsetzung im besetzten Polen, in denen nur die Deutschen Subjekte ihrer eigenen (schrecklichen) Geschichte sind, sondern vermag ein differenziertes, relationales Bild von Machtabhängigkeiten, Entscheidungshierarchien und Uneindeutigkeiten zu zeichnen.

Einblicke in den städtischen und administrativen Alltag erlauben, Unterdrückung nicht nur als staatliche Politik, sondern als Alltagshandeln verständlich zu machen. Architektur ist dabei nicht steingewordene Ideologie, sondern Mittel der Machtdurchsetzung und Raumproduktion, also das gezielte Herstellen sozialer Räume in Stadt und Landschaft genau wie im Privaten. Zu den Quellen dieser Städtebaugeschichte gehören somit nicht nur Repräsentationen von Herrschaftswissen (Pläne, Schriftgut, Publikationen, Ausstellungen, Bauten). Als aufschlussreich erweisen sich auch klandestine Kunstwerke, Einrichtungsgegenstände und zeitgenössische Erinnerungen, die eine Gegenperspektive zu etablierten architekturhistorischen Sehgewohnheiten infrage stellen.

Damit verknüpft die Ausstellung – mit ihrer hervorragenden Ausstellungsgestaltung und -grafik (Wojciech Luchowsk, Piotr Kacprzak) – die historiografischen Innovationen der eingangs genannten Ausstellungen und verbindet sie geschickt zu einer eigenen Erzählung: Es ist nicht mehr die repräsentative Herrschaftsarchitektur, die im Zentrum der Baugeschichtsschreibung steht. Vielmehr treten auch Infrastrukturen, Arbeits- und Zwangslager, Umbauten, die Inbesitznahme von Gebäuden und die Verknüpfung von Stadtraum und alltäglicher Gewalt in den Blick. Auch das räumliche Besatzungsregime wird thematisiert: über Straßenschilder, Zutrittsverbote und die bewusste Vernachlässigung von Quartieren bis hin zu ihrer Zerstörung, die als „Altstadtgesundung“ euphemistisch aufgewertet wurde.

Dieser Ansatz, Städtebau in seiner Varianz zu zeigen, war schon das erklärte Anliegen der Berliner Ausstellung von 2023 gewesen. Und wie bei der Schau in Weimar vermögen es Paradowska und ihr Team, eine Vielfalt von Quellen, Kunstwerken und anderen Ausstellungsobjekten miteinander in Beziehung zu setzen und zum Sprechen zu bringen. In ihrer assoziativen Wirkung zeichnen sie ein anderes Bild von Besatzung und „Germanisierung“ als den einseitigen Prozess der deutschen Machtdurchsetzung. Dabei helfen die für die Architekturgeschichte ungewohnten Quellen wie Trümmerteile oder Ego-Dokumente (Tagebucheinträge, Briefe, Erinnerungen von Zeitzeug:innen). In Erinnerung bleibt etwa ein polnisch-deutsches „Wörterbuch“ für deutsche Bauernfamilien – das suggeriert, dass man polnische Zwangsarbeiter:innen nur im Befehlston anschnauzen sollte. Diese Objekte werden zu einer neuen Erzählung über die Besatzungszeit zwischen 1939 und 1945 verdichtet.

Ein Besuch lohnt sich sehr. Man lernt viel über Architektur und Alltag im damaligen Reichsgau Wartheland, aber auch über Polen und NS-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Die Ausstellung kann vielleicht einen Anstoß von außen geben, sich in Deutschland – wie zuletzt gefordert4 – stärker mit den innereuropäischen Kolonialbestrebungen Preußens und deren Fortwirken in der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu beschäftigen. Ein Katalog ist in Vorbereitung und erscheint voraussichtlich im Februar 2025.

Anmerkungen:
1 Ausstellungskatalog: Unabhängige Historikerkommission, Macht Raum Gewalt. Planen und Bauen im Nationalsozialismus, Berlin, Akademie der Künste 2023; siehe auch Annika Wienert, Ausstellungsrezension zu: Macht Raum Gewalt. Planen und Bauen im Nationalsozialismus, 19.04.2023–16.07.2023, Akademie der Künste, in: H-Soz-Kult, 24.06.2023, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-135148 (31.01.2025).
2 Ausstellungskatalog: Anke Blümm / Elizabeth Otto / Patrick Rößler (Hrsg.), Bauhaus und Nationalsozialismus, München 2024; siehe auch Daniel Schuch, Ausstellungsrezension zu: Bauhaus und Nationalsozialismus. Eine Ausstellung in drei Teilen, 09.05.2024–15.09.2024, Neues Museum Weimar, Bauhaus-Museum Weimar, Schiller-Museum Weimar, in: H-Soz-Kult, 29.06.2024, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/reex-144047 (31.01.2025).
3 So im dort ausliegenden, deutschsprachigen Begleittext zur Ausstellung.
4 Agnieszka Putelska / Felix Ackermann, Der andere Kolonialismus. Geschichte preußisch-deutscher Landnahme in Polen, in: Le Monde diplomatique, 9.1.2025, S. 14–15.

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