Erhebe den Blick

Veranstalter
Evangelische Kirchengemeinde Lieberose und Land Gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung und von Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. (12373;13000;13637)
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12373;13000;13637
Ort
Wanderausstellung
Land
Deutschland

Publikation(en)

Weigelt, Andreas (Hrsg.): Erhebe den Blick. Sowjetische Haftstätten in Deutschland 1945-1955 im Spiegel künstlerischer und literarischer Zeugnisse. Lieberose 2010 276 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Skott, Gedenkstätte Buchenwald

Das Begleitbuch zur gleichnamigen Wanderausstellung von 2010 stellt literarische und künstlerische Werke der Insassen der sowjetischen Gefängnisse und Speziallager dar, kommentiert diese und vervollständigt diese Informationen durch biografische Angaben. Ergänzt wird der Katalogteil von zwei Aufsätzen von Stefanie Endlich und Andreas Weigelt zur Kunst bzw. zur Literatur in der sowjetischen Haft.

Sowjetische Haftstätten und Speziallager in Deutschland entstanden in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. „Sie entwickelten sich in einem Spannungsfeld von Reparationsabsichten und militärischen Sicherheitsinteressen, der Überwindung des Nationalsozialismus und einer fortschreitenden Sowjetisierung in der SBZ.“1 Insgesamt wurden in der Sowjetischen Besatzungszone zehn Speziallager und mehrere Gefängnisse eingerichtet.

In seinem Beitrag bezieht Andreas Weigelt neben literarischen und künstlerischen Zeugnissen aus den Speziallagern und NKWD-Gefängnissen auch Werke aus Gefängnissen der DDR und den sowjetischen Gulags bis 1955 mit ein. Entgegen der üblichen Einschränkung, dass die Werke im Lager entstanden sein müssen, um als Quelle geeignet zu sein, betrachtet Weigelt hier auch Werke, die nach der Entlassung von ehemaligen Insassen geschaffen wurden und den Lageralltag widerspiegeln. Da die intensive Aufarbeitung der Geschichte der Speziallager in der ehemaligen DDR erst in den 1990er-Jahren möglich war, berücksichtigt Weigelt sogar Zeichnungen die erst in den 1990er-Jahren entstanden.

In den sowjetischen Haftstätten in Deutschland war der Besitz von Papier und Bleistift strafbar, so dass nur wenige Insassen überhaupt die Möglichkeit hatten, während der Haft, das tägliche Leben zu dokumentieren. Somit sind im Lager entstandene Kunstwerke sehr selten. Lediglich über Werkstätten, in denen Künstler im Auftrag der Lagerleitung bekannte Kunstwerke kopierten, konnten Malutensilien in das Lagergelände gelangen. Zusätzlich war es kaum möglich, solche im Verborgenen entstandenen Werke bei der Entlassung mitzunehmen, da bei Durchsuchungen Entsprechendes abgenommen wurde. Allein Gedichte konnten im Gedächtnis bewahrt werden und so das Lagergelände verlassen.

Stefanie Endlich betont in ihrem Beitrag zunächst, dass die Kunstwerke aus den Speziallagern bisher lediglich als Ersatz für nicht vorhandene Fotos betrachtet wurden, da in den Kunstwerken „Schlüsselszenen des Lagerlebens widergegeben“(S. 223) seien. Darüber hinaus gäbe es keine Gesamtdarstellung zur Kunst und Literatur aus sowjetischen Haftstätten in Deutschland. Einige Gedenkstätten zeigen im ständigen Ausstellungsbereich Kunstwerke der ehemaligen Insassen und es gibt vereinzelte Lebensbeschreibungen in denen monografisch Gedichte oder Zeichnungen aus den Lagern veröffentlicht wurden. „Eine Fachdiskussion über diese Arbeiten im Dialog von Kunstwissenschaftlern und Historikern kam bisher nicht zustande.“(S. 224) Endlich versucht diese Lücke zu schließen und untersucht hier Zeichnungen aus den sowjetischen Haftstätten als Zeitdokument, in Hinblick auf Form und künstlerische Mittel und bezieht dabei die Biografien der Insassen mit ein. So sind einige der Zeichner vor ihrer Inhaftierung im Propagandaministerium tätig gewesen und haben dort unter anderem antisowjetische und antisemitische Bilder für den Völkischen Beobachter hergestellt.

Die Analyse der Textdokumente hingegen bleibt bei der Einbindung des biografischen Hintergrunds der Schriftsteller an der Oberfläche, obwohl Weigelt die recherchierten Autorenbiografien als notwendige Basis zur Annäherung an das Thema betrachtet (S. 10). Er dokumentiert daher die Herkunft der im Buch und in der Ausstellung verwendeten Gedichte, Lieder und Texte genau. Zusätzlich gibt er eine ausführliche kommentierte Chronologie der veröffentlichten Texte aus sowjetischen Haftstätten von 1949 bis heute wieder. Ziel ist es, mit Hilfe der überschaubaren wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema und Aussagen von ehemaligen Häftlingen die Bedeutung der Gedichte für die Insassen zu erläutern.

Weigelt will mit diesem Buch und der Ausstellung der künstlerischen und literarischen Zeugnisse eine Basis für zukünftige Forschungen zusammenstellen. Da es aus den Lagern und Gefängnissen nur in den seltensten Fällen Fotografien gibt, soll diese künstlerische und literarische Dokumentation als Grundlage für eine Annäherung an die Lebensbedingungen in den sowjetischen Haftstätten dienen. Die Zeichnungen, Gedichte und Lieder sollen somit als Quellen befragt und als Ergänzung zu den sowjetischen Akten betrachtet werden. Nach Weigelt rücken diese Arbeiten „das biografische und seelische Innenleben der Verhafteten in den Mittelpunkt und eröffnen eine Sicht auf die sowjetische Haft in Deutschland und ihre Vorgeschichte, wie sie historische Dokumente kaum wiedergeben“ (S. 16).

Die Wanderausstellung „Erhebe den Blick“ ist dementsprechend nach Kategorien aus der Gefängnis- und Lagerwirklichkeit der Insassen gegliedert. Sie besteht aus 20 Einheiten die sich jeweils einem Sachverhalt aus den sowjetischen Haftstätten widmen. Nach der Einführung folgen die Themen: vor der Verhaftung, Verhaftung, Gefängnis, Verhöre, Transporte, Lager, Hunger, Leid, Widerstand, Tod, Bewacher, Alltag, Kulturelle Selbstbeschäftigung, Glauben, Familie/Liebe, Konflikte, Deportationen, Flucht, Waldheim und Entlassungen. Zu jedem Bereich wurden künstlerische Selbstzeugnisse, wie Zeichnungen, Gedichte und Lieder ausgewählt. Zum Vorgang „Transporte“ sind beispielsweise fünf Zeichnungen und zwei Gedichte ausgestellt, die die Wege zu und zwischen Haftstätten dokumentieren. Bereichert wird sowohl die Ausstellung als auch das Buch durch kurze prägnante Hintergrundinformationen zum historischen Kontext des Dargestellten sowie kurzen biografischen Angaben zu den Verfassern. Im Buch ist zusätzlich das Thema „Alltag der Häftlinge“ aufgenommen, das in der Ausstellung nicht zu sehen ist.

Analog zur Aufbewahrung von Grafiken in Archiven oder Depots in großformatigen Mappen, werden in der Wanderausstellung die Zeichnungen und Gedichte in eben solchen Mappen präsentiert. Aufgrund der besonderen Situation der Gefangenschaft, besteht der Großteil der Exponate aus kleinformatigen Zeichnungen. Vereinzelt finden sich farbige Tuschezeichnungen, die nach 1955 entstanden sind sowie kleinere Skulpturen und Kunsthandwerkobjekte. Der Besucher kann, indem er die Mappen öffnet, sich so Stück für Stück den 20 Themen nähern. Der Vorteil einer solch reduzierten Ausstellungsgestaltung ist die Flexibilität. Die Wanderausstellung kann mit diesem überschaubaren baulichen und finanziellen Aufwand bereits bestehende Ausstellungen zu Speziallagern oder Gefängnissen zeitweilig inhaltlich ergänzen. So wird diese Wanderausstellung 2011 die ständige Ausstellung der Gedenkstätte Bautzen bereichern.

Andreas Weigelt hat mit diesem Buch zum ersten Mal künstlerische und literarische Zeugnisse verschiedener Autoren aus dem Umfeld der sowjetischen Gefangenschaft in Deutschland zusammengetragen und damit eine Basis für zukünftige Untersuchungen geschaffen. Der Katalogteil hält sich an die Gliederung der Ausstellung, so dass es eine Ordnung der Werke nach Inhalten gibt. Leider steht somit die Betrachtung der Kunstwerke als Ersatz für fehlende Fotos aus den Lagern weiterhin im Vordergrund und eine künstlerische Bewertung des Materials findet nur in Ansätzen statt. Dennoch ist die Erfassung und Ordnung des literarischen und künstlerischen Materials aus sowjetischen Haftstätten in Deutschland zwischen 1945 und 1955 sowie die zahlreichen Abbildungen ein Verdienst des Buches.

Anmerkung:
1 Bodo Ritscher u.a. (Hrsg.), Das sowjetische Speziallager Nr. 2 1945-1950. Katalog zur ständigen historischen Ausstellung, Göttingen 1999, S. 15.

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