Radikal modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre

Radikal modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre

Veranstalter
Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.05.2015 - 26.10.2015

Publikation(en)

Cover
Köhler, Thomas; Müller, Ursula (Hrsg.): Radikal modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre. Tübingen 2015 : Wasmuth & Zohlen Verlag UG, ISBN 978-3-8030-0792-6 (Buchhandelsausg.) 208 S., 245 meist farb. Abb. € 29,80 (Museumsausg.)/€ 39,80 (Buchhandelsausg.)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carla Aßmann, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die Ausstellung „Radikal modern. Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre“, mit der die Berlinische Galerie nach beinahe einjähriger Sanierung am 29. Mai 2015 wiedereröffnet wurde, trifft offensichtlich einen Nerv. Zum einen erfährt die Teilstadt West-Berlin seit einiger Zeit ein steigendes Interesse, das sich neben der im Juni beendeten Ausstellung im Ephraim-Palais1 sowohl in wissenschaftlichen Publikationen2 als auch etwa in Kinofilmen3 manifestiert. Zum anderen werden gesellschaftliche Fragen derzeit zunehmend wieder anhand stadtpolitischer Themen verhandelt. So hat in Berlin nach dem Volksentscheid gegen eine Bebauung des ehemaligen Flughafens Tempelhof bereits das nächste Volksbegehren für eine Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus (angestrebter „Mietenvolksentscheid“) die erste Hürde genommen. Auch andere Großstädte bewegt das Thema Wohnen wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Ein Blick auf die 1960er-Jahre verspricht da anregend zu sein. Schließlich wurde in jener Zeit nicht nur versucht – sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR –, der neuen Gesellschaft städtebaulich ein Gesicht zu verleihen; im Westen entstand während dieses Jahrzehnts zudem Protest in der Bevölkerung gegen die herrschende Baupolitik. Kein Wunder also, dass die von der Sammlungsleiterin des Museums, Ursula Müller, kuratierte Ausstellung auf ein reges Interesse der Presse stößt. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Ein doppelter Anspruch leitet die Schau über das Planen und Bauen in der geteilten Stadt: Sie will vor Augen führen, dass sich die Baukulturen beider Systeme trotz der seit dem 13. August 1961 physisch materialisierten Trennung gerade in diesem Jahrzehnt einander annäherten (Einführung von Ursula Müller im Katalog, S. 18). Gleichzeitig beabsichtigen die Ausstellungsmacher/innen, einen Beitrag zur Neubewertung der Architektur der 1960er-Jahre zu leisten, die „nach wie vor als inhuman und hässlich diffamiert“ werde (Vorwort von Thomas Köhler im Katalog, S. 15).

„Radikal modern“ gliedert sich in sechs thematische Schwerpunkte, in die ein Prolog einführt. Als Epilog dienen aktuelle künstlerische Auseinandersetzungen mit dem baulichen Erbe der Nachkriegsmoderne. Der Prolog-Raum wird dominiert von zwei großformatigen Luftaufnahmen. Sie zeigen das Gebiet des Leipziger und des Mehringplatzes Mitte der 1950er-Jahre. Von Trümmern befreit, stehen einige erhalten gebliebene Gebäude verloren auf weiten Freiflächen – die Aufnahmen visualisieren Berlin als die Tabula rasa, von der moderne Architekten immer schon geträumt hatten. An den Wänden verweisen einige Fotos von Ikonen der Klassischen Moderne auf den architekturhistorischen Kontext sowie Straßenszenen mit der soeben errichteten Mauer auf den politischen Rahmen des Planens und Bauens im Berlin der 1960er-Jahre. Einreichungen für den städtebaulichen Wettbewerb „Hauptstadt Berlin“ aus den Jahren 1957/58 (der im Westen ausgeschrieben wurde, aber sich auf Areale im Ostteil ausdehnte) sind mit solchen des „Ideenwettbewerbs zur sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der Hauptstadt der DDR“ von 1958/59 kontrastiert. Dies leitet in die Planungseuphorie des folgenden Jahrzehnts über.

Beim ersten Schwerpunkt „Auferstanden aus Ruinen“ funktioniert das Konzept der Sichtbarmachung von Ähnlichkeiten zwischen Ost und West besonders gut. Das mag daran liegen, dass hier mit drei Gebäuden der thematische Aufbau sehr übersichtlich bleibt: Reichstag und Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Westen sowie das Staatsratsgebäude mit dem so genannten Liebknecht-Portal des abgerissenen Stadtschlosses im Osten zeigen, wie moderne Architektur mit überkommener Bausubstanz verbunden wurde, und regen zum Nachdenken darüber an, welche Funktion historische Gebäude in unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen einnehmen.

Im anschließenden Ausstellungsraum bilden die Titel „Stadt-Räume / Stadt-Träume“ und „Techno-Geometrien“ zwei Pole eines Kontinuums, das eine Vielzahl von Exponaten umfasst. Die beiden neuen repräsentativen Zentren der Teilstädte, der Breitscheid- und der Alexanderplatz, lassen sich noch relativ leicht als in Beton gegossene Träume konkurrierender Gesellschaften im Aufbruch identifizieren. Schwieriger wird die Zuordnung beim Thema Verkehr, das die systemübergreifende Begeisterung der Stadtplaner für die steigende Motorisierung dokumentiert. Mit Stadtautobahn und Verkehrsschneisen drückten die technikbegeisterten Sechziger Berlin ein neues Raster auf, doch erhob sich im Westen bald eine Kritik, die die Dominanz des Autos mit Satire und Kampfschriften zum modernen städtischen Alptraum erklärte. Die „rollenden Gehsteige“, die Georg Kohlmaier und Barna von Sartory 1969 stattdessen für West-Berlin entwarfen – ein straßenüberspannendes Röhrennetz –, muten hingegen an wie aus einem Science-Fiction-Film.

Überhaupt erscheint die Ordnung der Ausstellung in Schwerpunktthemen nebensächlich, denn aufmerksamen Besucher/innen erschließen sich Beziehungen und Kontinuitäten vielfach aus den Exponaten selbst heraus. Glücklicherweise ist die Strukturierung im Hauptteil, der neben den genannten Segmenten noch den Abschnitt „Bau:Kunst“ umfasst, auch nicht aufdringlich. So kann man sich vom Scheibenhochhaus mit Flachbau des Europa-Centers als Schaufenster des kapitalistischen freien Westens zum Fernsehturm als Ikone sozialistischer Zentrumsplanung bewegen und gelangt auf diese Weise vielleicht zum Haus des Lehrers am Alexanderplatz, das in seiner Gestaltung dem Einkaufszentrum im Westteil gar nicht so unähnlich ist.

Zum Verarbeiten der Eindrücke bietet sich eine Pause in einer Original-Sitzgruppe des Flughafens Tegel an (sechs wabenförmig angeordnete gelbe Plastiksessel aus dem Archiv des Architekturbüros gmp, um 1974). Von dort aus fällt der Blick auf den Entwurf eines „Großhügelhauses“ des DDR-Architekten Josef Kaiser, der den Bau von Stalinstadt (später Eisenhüttenstadt) und des zweiten Bauabschnitts der Karl-Marx-Allee leitete. Die Collage des Architekten und Grafikers Dieter Urbach von 1971, die auch das Titelplakat der Ausstellung ziert, verleiht dem monumentalen Gebäude eine Leichtigkeit, die sich zunächst nur schwer mit Vorstellungen vom Bauen in der DDR in Einklang bringen lässt. Urbachs Werke wurden in der Berlinischen Galerie jüngst wiederentdeckt; nun tragen einige von ihnen in „Radikal modern“ zur Erweiterung der Perspektive bei. Auch auf dem Cover des Katalogs ist eine von Urbachs Montagen zu sehen – dort ein Entwurfsbild von 1967 für die Wohnbebauung am Leninplatz (dem heutigen Platz der Vereinten Nationen).

Inhaltlich leitet Kaisers riesiger, nicht verwirklichter Terrassenbau bereits in den letzten Raum der Ausstellung weiter, der die Themen „Serielle Vielfalt“ sowie „Großsiedlung und Widerstände“ beherbergt. Auch die meisten der dortigen Ausstellungsstücke bezeugen das Bemühen beiderseits der Mauer, auf die Wohnungsfrage eine zukunftsweisende Antwort zu finden. Vielleicht nicht ganz redlich, aber dafür umso unterhaltsamer ist eine Zusammenstellung von 43 Bildausschnitten gerasterter Fassaden überall in Berlin. Mithilfe eines ausliegenden Blatts mit den Fotos auf der Vorderseite und den zugehörigen Legenden auf der Rückseite kann man sich hier eigenständig an der Zuordnung nach Ost und West versuchen.

Dieser zuweilen etwas unbekümmerte Umgang mit dem historischen Material – verbunden mit der weitgehenden, aber nicht ganz konsequent durchzuhaltenden Beschränkung auf die 1960er-Jahre – brachte der Ausstellung den Vorwurf mangelnder analytischer Tiefe, ja einer retrospektiven Verklärung ein.4 Das wiegt besonders schwer, weil die Kritiker die von der Kuratorin und dem wissenschaftlichen Beirat herausgestellten Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West allein einer Oberflächlichkeit der Betrachtung zuschreiben. Solche Kritiken unterstellen jedoch eine Trennung von Form und Inhalt, deren Überwindung ein explizites Ziel moderner Architektur war. Überhaupt schlagen sich gerade in den negativen Rezensionen vor allem die eigenen Einstellungen der Autor/innen zur Architektur der 1960er-Jahre nieder – was die Relevanz der Ausstellung und ihres Konzepts noch unterstreicht. So bemängelte Bernhard Schulz im ehemaligen Leitmedium der Frontstadt West-Berlin, dem „Tagesspiegel“, eine ungenügende Berücksichtigung der Mauer, während eine Autorin der „jungen Welt“ als eine Art Ausgleich für den Umgang mit der DDR-Moderne vom Abriss des Bierpinsels und des Europa-Centers träumte.5

Einige Gelegenheiten, die Parallelen zwischen Ost- und West-Berlin auch einem nicht fachlich vorgebildeten Publikum zu verdeutlichen, lässt „Radikal modern“ sich jedoch auch entgehen. Beim Thema „Serielle Vielfalt“ sind etwa in einem Schaukasten Projekte zur Industrialisierung des Bauens in der DDR ausgestellt, darunter Entwürfe von 1965 für die futuristische fliegende Häuserfabrik „Autoimme“, die „ein 13geschossiges Hochhaus in acht Tagen schlüsselfertig“ errichten sollte. Im selben Raum wird auch das Märkische Viertel vorgestellt. Doch findet sich kein Hinweis darauf, dass der West-Berliner Senat mit diesem Vorhaben ebenfalls die industrielle Vorfertigung von Gebäuden forcieren wollte und dort neue Bausysteme erprobte. Solche losen Enden liegen sicher auch darin begründet, dass die Ausstellung überwiegend aus dem eigenen Bestand der Berlinischen Galerie erstellt wurde und verständlicherweise nicht alle Fragen abdecken kann.

Ein größeres Problem ist die insgesamt sehr dürftige Kontextualisierung der Exponate. Die äußerst knapp gehaltenen Bezeichnungen sind nicht darauf angelegt, auch für Besucher/innen ohne breite Kenntnisse der Berliner Baugeschichte die Orientierung zwischen den Modellen, Fotos und Zeichnungen zu erleichtern (zumal nicht immer gleich klar ist, welche Pläne realisiert wurden und welche letztlich Entwürfe blieben). Verwirrung kam zum Beispiel gleich im ersten Raum auf, weil nichts darauf hinweist, dass der „Hauptstadtwettbewerb“ 1957/58 kein deutsch-deutsches Gemeinschaftsprojekt war. Zudem werden die wenigen Zeilen, die jeweils für die Einführung in die Themenschwerpunkte zur Verfügung stehen, statt zur präzisen Information eher für Allgemeinplätze verwendet – etwa die Aussage, dass die Gedächtniskirche „ein beeindruckendes Zeugnis für den Aufbauwillen nach dem Krieg“ darstelle.

Wer durch die Ausstellung ein Interesse am Planen und Bauen in der geteilten Stadt entdeckt, sollte zur Vertiefung den Kauf des ansprechend gestalteten Katalogs erwägen. Dieser ist nicht nur wegen der vielen Abbildungen empfehlenswert; auch einige der Artikel sind für eine erste Beschäftigung mit dem Thema gut geeignet. Unbedingt ratsam ist es außerdem, genügend Zeit für den Ausstellungsbesuch einzuplanen, denn am Ende gibt es noch einen Medienraum mit zeitgenössischen Filmdokumenten. Eine für die Ausstellung entwickelte App erlaubt es Smartphone-Besitzer/innen zudem, sich von einigen der vorgestellten Projekte selbstständig ein Bild im Stadtraum zu machen.

Anmerkungen:
1 Stiftung Stadtmuseum Berlin, Ephraim-Palais, West:Berlin. Eine Insel auf der Suche nach Festland, 14. November 2014 bis 28. Juni 2015, <http://www.west.berlin> (23.07.2015).
2 Z.B. Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 11 (2014), H. 2: West-Berlin, hrsg. von Stefanie Eisenhuth, Hanno Hochmuth und Martin Sabrow, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2014> (23.07.2015).
3 Die Handlung des Films „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk“ des Regisseurs Oskar Roehler (2015) spielt im West-Berlin der 1980er-Jahre (<http://www.eslebederpunk.x-verleih.de> [23.07.2015]); semidokumentarisch widmen sich Jörg A. Hoppe, Klaus Maeck und Heiko Lange in „B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979–1989“ (ebenfalls 2015) der legendären Underground-Kulturszene der Teilstadt (<http://www.b-movie-der-film.de> [23.07.2015]).
4 Siehe etwa Michael Mönninger, Brikett-Ästhetik der gebauten Stapelware, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.2015, <http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/ausstellung-radikal-modern-in-berlin-13624427.html> (23.07.2015); Eike Stedefeldt, Kreuzberger Notizen. Kunstfehler beim Hingucken, in: junge Welt, 12.06.2015, <https://www.jungewelt.de/2015/06-12/004.php?sstr=kreuzberger|notizen> (23.07.2015). Dasselbe („Mangel an Methode“) warf Ronald Berg in der „taz“ auch dem die Ausstellung begleitenden Symposium „Verflechtungen“ vor, einer von der Berlinischen Galerie, der Technischen Universität Berlin (Fachgebiet Kunstgeschichte) und dem Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) gemeinsam organisierten Tagung, die am 26.06.2015 stattfand: Ronald Berg, Bauen entlang der Utopie, in: tageszeitung, 01.07.2015, <http://www.taz.de/!5208210/> (23.07.2015).
5 Bernhard Schulz, Rücken an Rücken, in: Tagesspiegel, 09.06.2015, <http://www.tagesspiegel.de/kultur/ost-und-west-berlin-in-den-60er-jahren-ruecken-an-ruecken/11886520.html> (23.07.2015); Maxi Wunder, Unten und oben hell, in: junge Welt, 10.06.2015, <https://www.jungewelt.de/2015/06-10/016.php> (23.07.2015).