Arsen und Spitzen-Forschung. Paul Ehrlich u. d. Anfänge einer neuen Med.

Arsen und Spitzen-Forschung. Paul Ehrlich u. d. Anfänge einer neuen Med.

Veranstalter
Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité und Historisches Museum Frankfurt in Kooperation mit dem Paul-Ehrlich-Institut, Langen (Hessen), und dem Georg-Speyer-Haus, Frankfurt am Main
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.04.2015 - 27.09.2015

Publikation(en)

Cover
Weining, Kirsten; für das Berliner Medizinhistorische Museum der Charité (Hrsg.): Arsen und Spitzenforschung. Paul Ehrlich und die Anfänge einer neuen Medizin. Berlin 2015 : Selbstverlag, ISBN 978-3-9810220-7-0 64 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henrik Eßler, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Die Zeiten, in denen sich die Medizingeschichte in einer Darstellung von Errungenschaften großer Ärzte erschöpfte, sind spätestens seit den 1980er-Jahren überwunden. Für das 1998 eröffnete Berliner Medizinhistorische Museum der Charité gilt das allemal. Dass sich eine aktuelle Sonderausstellung nun explizit der Vita eines einzelnen Mediziners widmet, mag da durchaus überraschen.1

Zum 100. Mal jährt sich in diesem Jahr der Todestag des gebürtigen Niederschlesiers Paul Ehrlich, der zu den bekanntesten deutschen Wissenschaftlern gehören dürfte. Gefeiert als Entwickler wirksamer Heilmittel gegen Diphtherie und Syphilis, zugleich als Sohn wohlhabender jüdischer Kaufleute antisemitischen Hetzkampagnen ausgesetzt, stand Ehrlich bereits zu Lebzeiten im Licht der Öffentlichkeit. So liefert allein der Lebenslauf dieser Persönlichkeit ausreichend Ansätze, um ein abwechslungsreiches Themenfeld zu versprechen. Tatsächlich folgt das Drehbuch der Ausstellung im Wesentlichen chronologisch dem Werdegang Ehrlichs. Das mag wenig innovativ erscheinen – die grafisch und gestalterisch kenntlich gemachte Einteilung in verschiedene Schaffensphasen bzw. Themenblöcke lässt allerdings Raum für unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. So lässt sich die Ausstellung problemlos auch unabhängig von einer vorgegebenen Leserichtung besuchen. Auf thematische Exkurse verzichtet die Ausstellung jedoch weitgehend. Das kommt zwar einerseits dem Erzählfluss entgegen, begrenzt das Blickfeld aber auch recht eng auf das Individuum.

Um dem entgegen zu treten betont die Erzählung explizit den technik- und wissenschaftshistorischen Kontext der Forschung Ehrlichs: Erst die Verfügbarkeit neuer Teer-, später auch Anilinfarbstoffe ermöglichten ihm etwa die Unterscheidung verschiedener weißer Blutkörperchen und Zelltypen. Bereits während des Medizinstudiums in Straßburg und Breslau wurde die "Theorie und Praxis der histologischen Färbung" zu seinem Forschungsschwerpunkt, zu dem er bei seinem Doktorvater und Förderer Julius Cohnheim promovierte. Welche Bedeutung die richtigen Kontakte für Ehrlich hatten, verdeutlicht die Darstellung nicht nur am Beispiel seiner frühen wissenschaftlichen Sozialisierung. Auch was die späteren Schaffensphasen angeht, sind die Autoren der Ausstellung um Kuratorin Kirsten Weindling sichtlich bemüht, den Netzwerk-Charakter seiner Forschungsaktivitäten darzustellen. Unverkennbar ist hier der Anteil Axel Hüntelmanns, der dem Ausstellungsteam beratend zur Seite stand. So orientiert sich die Erzählung konzeptionell stark an der von ihm verfassten Biographie2 des Protagonisten, die Ehrlich als aktiven Netzwerker, als Knotenpunkt der Erzählstränge darstellt: etwa im Austausch mit politischen und wirtschaftlichen Persönlichkeiten, ebenso in der Zusammenarbeit mit bekannten Forschern wie Robert Koch, Albert Neisser und Emil von Behring. Dass darüber hinaus unzählige Assistent/innen, Laborant/innen und andere Helfer/innen an den Forschungsaktivitäten beteiligt waren, wird zwar keineswegs verschwiegen. Zumindest die explizite Frage, welchen Anteil diese Menschen – in der Wissenschaftsgeschichte längst als "backroom scientists" in den Fokus gerückt3 – an den Entdeckungen hatten, hätte jedoch ihren Weg in die Ausstellung verdient gehabt.

Die Bedeutung des Themas Farbe offenbart übrigens bereits der erste Blick in die Ausstellungsräume, wo sich diese in der grafischen Gestaltung der Ausstellungsmöbel wiederfinden lässt. Letztere stellen sich hingegen recht konventionell in Form langer, geschwungener Wandabwicklungen dar. Überhaupt mangelt es der Szenografie ein wenig an optischen Höhepunkten, was allerdings auch in der Thematik selbst begründet liegt. So stellt es zweifellos eine Herausforderung dar, Ehrlichs Arbeiten sichtbar zu machen, die zum überwiegenden Teil auf der Mikroebene des Labors stattfanden. Daran gemessen, ist es Weindling und ihrem Team vorbildlich gelungen, die Schaukästen mit interessanten und authentischen Exponaten zu besetzen, selbst wenn diese nicht auf den ersten Blick ins Auge fallen. Zu sehen sind neben Stücken aus der Sammlung des Medizinhistorischen Museums diverse Arbeitsutensilien Ehrlichs aus dem Fundus des Georg-Speyer-Hauses, aber auch Objekte aus seinem privaten Nachlass im New Yorker Rockefeller Archive Center.

Es liegt auf der Hand, dass eine solche Ausstellung nicht ohne eine gewisse Textlastigkeit auskommt. Diesem Eindruck wirkt jedoch vor allem die geschickte Verteilung der Informationen auf Kurztexte entgegen, in denen Einzelaspekte kompakt dargestellt werden. Das Potenzial multimedialer Elemente wird dagegen selten ausgeschöpft. So ist etwa der Mehrwert von Hörstationen im Eingangsbereich, welche Nachrufe auf Paul Ehrlich präsentieren, eher gering. Lobend erwähnt werden sollten dagegen die gut nachvollziehbaren Erklärungen der oftmals äußerst komplexen medizinischen, biologischen und chemischen Vorgänge. So macht etwa ein kurzer Film anschaulich die berühmte Seitenketten-Theorie verständlich, mit der Ehrlich die Bildung von Antikörpern zur Immunabwehr erklärte.

Bereits 1908 erhielt Paul Ehrlich für diese Arbeit den Nobelpreis für Medizin, zwei Jahre vor seiner bekanntesten Entwicklung: Mit der Arsenverbindung Arsphenamin, bekannt geworden als "Salvarsan", gelang es Ehrlichs Forschungsteam, ein wirksames Mittel zur Behandlung der Syphilis zu entwickeln. Mit diesem vermutlich ersten gezielt wirkenden Chemotherapeutikum war der Forscher tatsächlich seiner lang erhofften "Zauberkugel" auf die Spur gekommen, deren Form ebenfalls Eingang in die grafische Gestaltung der Ausstellung gefunden hat. Zwar erfuhr Ehrlich für seine Leistung in der Folge höchste öffentliche Anerkennung, doch war er zugleich erbitterten Angriffen ausgesetzt – auch aus dem Kollegenkreis. Denn die Handhabung des Mittels, ab 1910 produziert von den Farbwerken Hoechst, war kompliziert. Berichte über drastische Nebenwirkungen und der Vorwurf eines unverhältnismäßig hohen Preises fielen auf Paul Ehrlich persönlich zurück. Insbesondere aus dem Lager der Naturheilkunde wurde er heftig angegriffen, zum Teil mit eindeutig antisemitischem Hintergrund.

Bemerkenswert sachlich geht die Ausstellung auf diese Phase im Lebenslauf Ehrlichs ein. So wirkt hier weder die Darstellung der gesellschaftlichen Bedeutung des Mittels im Kampf gegen die "Volksseuche" Syphilis überzogen, noch wird jegliche zeitgenössische Kritik als unberechtigte Hetze abgetan. Ohne seinen Tod wenige Jahre darauf eindeutig als Folge des "Salvarsanstreits" zu interpretieren, eröffnet die Erzählung hier eine emotionale Komponente. Durch namhafte Geldgeber längst zu einem respektablen Wohlstand gekommen, lässt sich auch in seinem späten Wirken der ständige Wunsch nach wissenschaftlicher Anerkennung nachvollziehen. Im Gegenzug stellt die Ausstellung durchaus streitbare Seiten der Persönlichkeit Ehrlichs dar, wie seine Unterzeichnung des "Aufrufs an die Kulturwelt" im Ersten Weltkrieg, der international für Empörung sorgte. Etwas unklar bleibt die Thematisierung von "Versuchen am Menschen", in denen insbesondere Albert Neissers Syphilisexperimente an Prostituierten um 1900 Erwähnung finden. Die Frage nach konkreten Zusammenhängen zur Forschung Ehrlichs bleibt leider unbeantwortet. Überhaupt nicht problematisiert wird dagegen die exzessive Nutzung von Tierversuchen in fast allen Forschungsbereichen Ehrlichs, obwohl sich diese in diversen Exponaten und Fotografien in der Ausstellung widerspiegelt.

Der Titel "Arsen und Spitzenforschung" nimmt letztlich vorweg, was die Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung erwartet: Trotz der gelungenen Kontextualisierung steht hier die Würdigung einer individuellen Lebensleistung im Mittelpunkt. Man mag dieses Narrativ für unzeitgemäß halten – die ungebrochene Konjunktur biographischer Ansätze in der Wissenschaftsgeschichte spricht eher dagegen.4 Zumal gerade die in der Debatte um die wissenschaftliche Biographik geforderte "Verwebung"5 des Individuums mit seiner Umwelt ausreichend zur Geltung gebracht wird. Ohne Zweifel gelingt es den Ausstellungsmacher/innen auch dem Untertitel gerecht zu werden. So wird vor allem der Übergang zu einer "neuen Medizin" nachvollziehbar, die sich zunehmend auf eine biochemische Ebene verlagert. Die Herausforderung, das Forschen im Labor zu veranschaulichen, ist dabei vergleichsweise gut bewältigt worden. Der Kurzführer zur Ausstellung bietet keine weitergehenden Erläuterungen, er fasst jedoch übersichtlich die wesentlichen Thementexte und Exponate zusammen – angesichts der Fülle von Informationen eine sehr angenehme Möglichkeit, sich auch außerhalb des Museums mit dem Thema zu beschäftigen.

Das Fazit fällt insgesamt zwiespältig aus: Besucherinnen und Besuchern ohne Grundlagenkenntnisse dürfte es eher schwer fallen, einen Zugang zu den recht kleinteiligen Arbeitszusammenhängen zu finden: Wer sich jedoch ohnehin in der Medizin- oder Wissenschaftsgeschichte zuhause fühlt, wird sich zweifellos für die vielfältige Exponatauswahl, aber auch die detailreiche Bebilderung und Erläuterung begeistern können.

Anmerkungen:
1 Die letzte prononciert biographische Ausstellung des Museums mit dem Titel "James D. Watson – Genomforscher und Schriftsteller", 12.10.2004–20.02.2005, liegt bereits zehn Jahre zurück.
2 Axel Hüntelmann, Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke, Göttingen 2011.
3 Vgl. grundlegend Steven Shapin, The Invisible Technician, in: American Scientist 77 (1989), S. 554–563 sowie Klaus Hentschel (Hrsg.), Unsichtbare Hände. Zur Rolle von Laborassistenten, Mechanikern, Zeichnern u. a. Amanuenses in der physikalischen Forschungs- und Entwicklungsarbeit, Berlin 2008.
4 Um nur exemplarisch einige jüngere Veröffentlichungen zu nennen, etwa Stefan Müller-Doohm, Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin 2014; Andreas Peglau, Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Gießen 2013 oder Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014.
5 Vgl. Simon Karstens, Die Summe aller Wahrheiten und Lügen. Ein Erfahrungsbericht zur geschichtswissenschaftlichen Biographie, in: BIOS, 24 (2011), Heft 1, S. 78–97, hier S. 85.

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