Reif für die Insel. Tourismus auf Sylt, Hiddensee und Mallorca

Reif für die Insel. Tourismus auf Sylt, Hiddensee und Mallorca

Veranstalter
LWL-Industriemuseum - Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur, Schiffshebewerk Henrichenburg
Ort
Waltrop
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.05.2016 - 19.03.2017

Publikation(en)

Cover
LWL-Industriemuseum; Siebeneicker, Arnulf; Wagener, Mathias (Hrsg.): Reif für die Insel. Tourismus auf Sylt, Hiddensee und Mallorca. Essen 2016 : Klartext Verlag, ISBN 978-3-8375-1668-5 455 S., zahlr. Abb. € 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Minner, Historisches Seminar, Universität Siegen

Was würde in der grauen Winterzeit mehr locken als Aussichten auf den nächsten Strandurlaub? Das LWL-Industriemuseum, Standort Schiffshebewerk Henrichenburg, greift die Urlaubssehnsucht auf und geht dabei unter anderem der Entwicklung des heute völlig selbstverständlich erscheinenden Reiseurlaubs nach. Es verknüpft den Sehnsuchtsort Insel mit demjenigen des Museums als Ort der Entdeckung. Dass sich ein Industriemuseum, das sich der Sozialgeschichte der Arbeit verschrieben hat, auch mit dem Urlaub als Gegenpart zur Arbeit beschäftigt, erscheint mehr als legitim – zumal sich der Tourismus im 20. Jahrhundert selbst zu einem starken Gewerbezweig entwickelte.

Mit der Ausstellung „Reif für die Insel“ rückt das Museum den Tourismus der vergangenen rund 150 Jahre und seine jeweiligen Folgen für die beispielhaft ausgewählten Inseln Sylt, Hiddensee und Mallorca in den Fokus. Wirkt in dieser Auswahl die spanische Ferieninsel zunächst vielleicht etwas eigentümlich, so begründen die Ausstellungsmacher ihre Entscheidung überzeugend mit dem großen Interesse der Deutschen gerade an dieser Destination seit den 1970er-Jahren. Zudem ermöglichen die drei Beispiele als „Lieblingsinseln“ der Deutschen nicht nur einen Längsschnitt, sondern besonders für die Zeit der deutschen Teilung auch eine vergleichende Perspektive: Urlaub in Bundesrepublik und DDR sowie im Ausland. Während die Betrachtung der beiden deutschen Inseln Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt und einen Schwerpunkt bis in die 1970er-Jahre hat (inklusive Schlaglichtern auf die Gegenwart), ist der zeitliche Korridor für Mallorca weiter nach hinten verschoben. Dieser konzentriert sich – neben Vorläufer-Exkursen in die Zeit ab etwa 1900 – auf die Jahre ab 1971, da nun dank der Düsenjets die Expansion zu einem Massentourismus per Flugzeug erst möglich und erschwinglich wurde.1


Abb. 1: Ausstellungssegment „Mallorca im Zeitalter des Massentourismus. 1970 bis heute“
(© LWL-Industriemuseum / Annette Hudemann)

Die Ausstellung ist in vier Bereiche gegliedert: einen kurzen einführenden Teil, der aufzeigt, dass schichtenübergreifende Urlaubsansprüche erst mit der fortschreitenden Industrialisierung überhaupt als Thema, genauer gesagt als Streitpunkt in Tarifverhandlungen, aufkamen und sich erst im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts etablierten. Die folgenden drei Teile sind jeweils einer der Inseln gewidmet. Es wechseln fotohinterlegte Textwände (die Texte sind kurz und gut verständlich) mit Objektvitrinen, Inselreliefs und Inszenierungen. Über die Größe der Inseln sowie die Entwicklung von Einwohner- und Gästezahlen zwischen dem 19. Jahrhundert und heute informieren Überblickstabellen am Eingang zur jeweiligen Abteilung.

Als zentrale Fragen haben sich die Ausstellungsmacher den Aspekten gewidmet, wie die Inseln als Urlaubsorte „entdeckt“ wurden, wer wann aus welchen Gründen dorthin fuhr und welche Folgen dies für die Zielorte zeitigte. Die Ausstellung will kurzweilig und vielfältig ein umfassendes Besucherpublikum ansprechen; sie richtet sich nicht an Experten. Etwas vereinfachend werden dabei gängige Topoi der drei Inseln aufgegriffen und reproduziert (aber nur sehr bedingt relativiert oder differenziert): Sylt als Insel der Schönen, Reichen und Medienmacher; Hiddensee als Insel für Individualisten, Naturliebhaber und Aussteiger bzw. auch der Urlaubszuweisungen des FDGB in der Zeit der DDR; Mallorca als Ort der Prominenten, vor allem aber des Massentourismus, an dem die Deutschen eine beachtliche Rolle übernommen haben.

Zum Wiedererkennen Sylts locken bekannte Hotels wie das Miramar und die legendäre Sylt-Gitarre der Firma Cyan Guitars aus der Zusammenarbeit mit der Rockband „Die Ärzte“. Dem Glitter der teuren bis mondänen Destination entsprechen übergroße Prosecco-Flaschen sowie Bilder prominenter Besucher und Residenten wie Axel Springer, Rudolf Augstein, Henri Nannen, Berthold Beitz und Gunter Sachs. Der Topos Hiddensee als Refugium für Künstler und Aussteiger gerade aus dem Berliner Raum wird veranschaulicht mit Fotos und Büchern von Schriftstellern wie Gerhart Hauptmann, Thomas Mann und Max Kruse („Urmel“), des Filmstars Asta Nielsen sowie des 2014 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romanautors Lutz Seiler („Kruso“).


Abb. 2: Prominente Urlauber und Residenten auf Hiddensee: Gerhart Hauptmann, Familie Mann, Asta Nielsen (hier mit Joachim Ringelnatz)
(Foto: Katrin Minner)

In der Mallorca-Abteilung dominieren – von kurzen Exkursen zu den Anfängen als Kulturreiseziel abgesehen – Ausstellungsstücke zum Massentourismus im Spektrum von „Sonne, Strand, Sex und Suff“ wie Sangria-Eimer vom Ballermann, Benimmbroschüre, Hotel-Aschenbecher mit einer „Robado“(= geklaut)-Beschriftung auf der Unterseite, Uniformmütze der Lokalpolizei, ausladende Badetücher an Balkongittern und verschiedene Flugzeugmodelle. Stellvertretend für Stars und Sternchen finden sich Autogrammkarten von Prominenten aus Medien, Showbusiness und Sport. Versuche, dem früheren Ruf als „Putzfraueninsel“ mit Bettenburgen und dem Ballermann-Tourismus einen Qualitätstourismus gegenüberzusetzen (zum Beispiel mit dem Logo-Entwurf von Joan Miró, der seit 1956 auf Mallorca lebte), blieben demgegenüber wenig erfolgreich. Dabei bezieht die Ausstellung nicht unbedingt Position gegen den Massentourismus, sondern stellt über ein Videointerview mit einem Experten auch Vorteile eines örtlich komprimierten Massentourismus zur Diskussion (etwa hinsichtlich des Wasserverbrauchs und der Häufigkeit von Begegnungen und Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung). Plausibel ist auch die Überlegung, dass dieses Phänomen für eine Demokratisierung des Reisens stehe.


Abb. 3: „Balearisierung“ des Strandurlaubs
(Foto: Katrin Minner)


Abb. 4: Vergleichsbilder mit klarer Botschaft
(Foto: Katrin Minner)

Ebenfalls reflektiert werden in der Ausstellung die negativen Seiten des Tourismus: Landschaftsveränderungen durch Bebauungen (beeindruckend die Ansichtenvergleiche im Mallorca-Teil von Gemälden vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1920er-Jahre aus der Sammlung des Consell de Mallorca und Fotografien der gleichen Blickwinkel in der Gegenwart von Jaume Gual), für Insulaner unbezahlbar werdende Bodenpreise, Einflüsse auf Flora und Fauna (Einschleppung von Pflanzen und Tieren nach Sylt, die ursprünglich nicht auf der Insel existierten und das natürliche Gleichgewicht ins Wanken gebracht haben, zum Beispiel durch den 1927 fertiggestellten Hindenburgdamm), gesellschaftliche Verödung durch nur wenige Wochen im Jahr bewohnte Siedlungen bis hin zum Problem der wenig integrierten Parallelgesellschaften deutscher Residenten, die sich auf Mallorca schon seit den 1920er-Jahren entwickelten. Dunkle Seiten der Tourismusgeschichte thematisieren die Exkurse zu den Jahren 1933–1945 mit ihren Folgen für jüdische Urlauber und Regimepropaganda. Möglichen Verklärungen eines paradiesischen Insellebens erliegt die Ausstellung nicht. (Das Thema der Arbeitsbedingungen des Personals im Tourismus allerdings scheint höchstens gelegentlich im Katalogband durch.) Wunderbar ironisch zeigen sich die Entwürfe für Plakat, Flyer und Einband des Ausstellungskatalogs, die das Revierverhalten deutscher Urlauber karikieren.


Abb. 5: Einbandmotiv des Ausstellungskatalogs
(© LWL-Industriemuseum, Illustration: Vera Brüggemann)

Die Ausstellung arbeitet weniger thesenhaft, sondern nähert sich kaleidoskopisch dem Thema an. Sie berücksichtigt dabei verschiedene Schwerpunkte: Geschichte (Entdeckung als Urlaubsort und Ausbau einer touristischen Infrastruktur), Architektur, Verkehr, Geographie, Natur und Umwelt, ausgewählte Hotels, Mythen und Images im historischen Wandel, bekannte Urlauber (Künstler, Prominente, Stars und Sternchen). Demgemäß kann die Auswahl der Objekte verschiedene Interessen der Besucher ansprechen (und bei vielen sicher auch eigene Reise-Erlebnisse wachrufen): Erinnerungsporzellan und andere Souvenirs, Autoaufkleber, Bilder von Prominenten und Künstlern mit Beziehungen zur jeweiligen Insel, Gemälde, Fotos, Objekte aus Hotels, Schilder, Modelle von Verkehrsmitteln, angespültes Strandgut, Literatur zu den drei Inseln. Echte Hingucker sind meist die ausgewählten Werbemittel in Form von Broschüren und Plakaten, etwa die Cover von Reisekatalogen der TUI-Firmen aus mehreren Jahrzehnten.


Abb. 6: Ausstellungssegment „Sylt wird entdeckt. 1855–1945“. Porzellan als Souvenir
(Foto: Katrin Minner)


Abb. 7: Tischinstallation mit AV-Station
(© LWL-Industriemuseum / Annette Hudemann)

Drei Tischinstallationen in der jeweiligen Inselform mit der entsprechenden Kartierung darauf machen die geographischen Gegebenheiten besonders deutlich. Schaulust wecken als bunte Tupfer die Inszenierungen mit Bademode, die pro Abteilung verschiedene Zeitabschnitte (zwischen dem Kaiserreich und den 1980er-Jahren) abdecken und den Modegeschmack der jeweiligen Zeit widerspiegeln. Auch die Präsentation eines einfachen Dach-Gästezimmers auf Hiddensee macht erlebbar, wie die Ressourcen auf der Insel (die eine Gesamtfläche von weniger als 20 Quadratkilometern hat) für eine beschränkte Zahl von Urlaubern aktiviert wurden.


Abb. 8: Strandmode zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den 1920er-Jahren
(Foto: Katrin Minner)


Abb. 9: Ausstattung eines Gästezimmers auf Hiddensee aus den 1920er-Jahren: Eine Familie richtete alle Zimmer im Dachgeschoss für die Unterbringung zahlender Gäste ein. Jeder verfügbare Platz wurde genutzt. Auch zu DDR-Zeiten blieben die Möbel in Gebrauch.
(Foto: Katrin Minner)

Angenehm zurückhaltend ist der Einsatz multimedialer Präsentationsformen. Drei Videostationen lassen eine übersichtliche Anzahl von Experten zu Wort kommen. Diese schildern ihren Blickwinkel auf die jeweilige Insel und entsprechende gegenwärtige Herausforderungen, aber auch den Reiz der Insel. Zum entspannten Schauen reizen nicht zuletzt die Flugzeugsitzreihen im einführenden Bereich, die mit Filmausschnitten zum Strandurlaub bespielt werden.

Die Ausstellung zeichnet veränderte Motivationen und Träger der Inselbesuche nach: von der Erholung in der Kur über künstlerische Inspiration bis hin zu Unterhaltung und Konsum, vom exklusiv bürgerlichen Freizeitvergnügen zum für jeden erschwinglichen Massenphänomen. Für alle Ausstellungsbesucher, die mehr wissen wollen, bietet der umfangreiche und opulent bebilderte Ausstellungskatalog Vertiefungen durch kurze Überblicke und leicht verständliche Texte, die dem Aufbau der Ausstellung als Gliederung des Bandes folgen. Die Varianz der angeschnittenen Themen (und Autoren) ist hier ähnlich groß wie in der Ausstellung. Der Katalog besticht durch die Qualität der mehr als 400 Abbildungen, auf denen das häufig hochwertige Design von (frühen) Werbeplakaten und Reiseführerbroschüren gut zur Geltung kommt. Die Werbung hat wiederum viel Aussagekraft darüber, was Reiseveranstalter und Insulaner für die Sehnsüchte und Bedürfnisse der Besucher hielten – oder welche Wünsche sie erzeugen wollten.

Das Ausstellungsteam stützt sich insbesondere auf die einschlägige historische Tourismusforschung von Cord Pagenstecher, Rüdiger Hachtmann und Hasso Spode, hat bei den konkreten Beispielen allerdings auch spanische Mallorca-Experten herangezogen.2 Die Ausstellung oszilliert zwischen Sehnsuchts- und Schattenseiten, geprägt von Erholung, Naturerlebnis und künstlerischem Anreiz auf der einen, Unwirtlichkeit, Umweltschäden und Landschaftsveränderungen auf der anderen Seite. Zwar vermittelt die Ausstellung keine „großen Linien“ der Geschichtswissenschaft (was auch nicht Absicht oder Anspruch der Ausstellungsmacher ist), doch nicht nur die Freunde der drei Inseln kommen hier in vieler Hinsicht auf ihre Kosten. Eine Fotoausstellung im historischen Lastkahn „Ostara“ flankiert die Hauptausstellung, ist aber in den Wintermonaten geschlossen: „Inseln in Sicht. Fotografien von Sylt, Hiddensee und Mallorca“ (wieder anzusehen vom 7. März bis 12. November 2017).

Anmerkungen:
1 Siehe neuerdings auch Sina Fabian, Massentourismus und Individualität. Pauschalurlaube westdeutscher Reisender in Spanien während der 1970er- und 1980er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 13 (2016), S. 61-85, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2016/id=5329> (04.01.2017).
2 Ergänzend sei hier auf eine jüngst im deutschsprachigen Raum zum mallorquinischen Tourismus vorgelegte umfangreiche Dissertation verwiesen, deren Verdienst es ist, den gern kolportierten Gegensatz von vorindustrieller und vortouristischer Zurückgebliebenheit versus „Entdeckung“ des touristischen Potentials mit Wirtschaftsförderung und Massentourismus kritisch unter die Lupe zu nehmen, den Wandel der Insel-Bilder und ihrer ökonomischen Bedeutung in der jeweiligen Zeit zu kontextualisieren und als Rezeptionsgeschichte anzulegen: Ekkehard Schönherr, Infrastrukturen des Glücks. Eine Bild-, Raum- und Infrastrukturgeschichte Mallorcas im 19. und 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Tourismus, phil. Diss. Universität Erfurt 2014, <https://www.db-thueringen.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbt_derivate_00036218/schoenherr.pdf> (04.01.2017).