Barock – Nur schöner Schein?

Barock – Nur schöner Schein?

Veranstalter
Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim
Ort
Mannheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.09.2016 - 19.02.2017

Publikation(en)

Cover
Wieczorek, Alfred; Lind, Christoph; Coburger, Uta (Hrsg.): Barock – Nur schöner Schein?. . Mannheim 2016 : Schnell & Steiner, ISBN 978-3-7954-3111-2 232 S. 34,95 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Louis Delpech, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Was haben ein Himmelsglobus von 1601, die Frankfurter Ausgabe von Galileis „Sidereus Nuncius“ aus dem Jahr 1610, ein Grundstückregister der Stadt Mannheim von 1663, eine Meißner Teedose der 1720er-Jahren, eine Brille mit grünen Gläsern und eine Kutschenuhr aus dem 18. Jahrhundert miteinander zu tun? Dieses Sammelsurium könnte zwar aus dem Inventar einer Wunderkammer des späten 18. Jahrhunderts kommen, aber derzeit und noch bis zum 19. Februar 2017 werden diese sechs Objekte zusammen mit vielen anderen in einer Sonderausstellung in den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim gezeigt. Die sehr gut besuchte und in der Presse einhellig gefeierte Ausstellung soll laut der Präsentationsbroschüre „die Epoche erstmals in ihrer ganzen Vielschichtigkeit“ vorstellen und damit beweisen, dass der Barock nicht nur grandiose Paläste, pompöse Fürsten, üppige Frauen oder glänzende Bilder zu bieten hatte, sondern auch eine Zeit voll seltsamer und heterodoxer Erfindungen, sozialer Widersprüche und geistiger Spaltungen war.

Die zu entdeckenden Rück- und Schattenseiten des Barock werden hier in sechs Bereiche aufgeteilt, die weniger bekannte Facetten der Epoche aufdecken sollen: Raum, Körper, Wissen, Glaube, Ordnung und Zeit. Zwar werden die neuesten Tendenzen der historischen Forschung leider an keiner Stelle von den Kuratoren ausdrücklich thematisiert, doch ist ihr Einfluss trotzdem an mehreren Stellen sichtbar: die Thematik einer frühen Globalisierung oder einer Eroberung des Raumes im ersten Bereich weist auf eine Art von Global History hin, der Bereich über den Körper wird offenbar stark von den Gender Studies beeinflusst, und die jüngsten Entwicklungen der Wissensgeschichte – mit einem wachsenden Interesse für konkurrierende, gesellschaftlich produzierte und manchmal okkulte Formen von Wissen – sind im Bereich „Wissen“ treffend abgebildet. In jedem Kapitel der Ausstellung werden zahlreiche Gemälde, Bücher und Objekte vorgestellt, die größtenteils aus den Sammlungen der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen, der Universitätsbibliothek Heidelberg und des Kunsthistorischen Museums in Wien kommen.

Auch wenn die dunkle Seite der Epoche hier im Mittelpunkt stehen soll, wäre es vielleicht wünschenswert, dass die Säle nicht allzu sehr in einem barocken Chiaroscuro gehalten und die Texte wie auch einige Werke besser ausgeleuchtet wären, damit Besucher nicht auf die Idee kommen müssen, mit iPhone als Beleuchtung durch die Ausstellung zu gehen. Aus der Wiener Sammlung kommen zweifellos einige der schönsten Werke der Ausstellung – unter anderem ein atemberaubendes Gemälde von Rembrandt, auf dem der Apostel Paulus sich aus dem Schreiben zu den Zuschauern hinwendet, ein manieristischer Engelssturz des Cavaliere d’Arpino, eine lesende Frau von Rubens und eine badende Susanne mit den Alten von Jacob Jordaens, die ein interessantes Pendant zu den Werken von Tintoretto oder van Dyck bietet. Die Kopie des Heiligen Sebastian von Guido Reni, ebenfalls aus Wien, ist auch wunderschön, hätte aber in die christliche Tradition eines ‚süßen Leidens‘ und einer impliziten Sublimierung von homosexuellen und sadomasochistischen Tendenzen besser eingeordnet werden können.

Insgesamt ist die Ausstellung somit sehr innovativ gestaltet: Ihr Material besteht nicht nur aus kanonischen Meisterwerken der Kunstgeschichte, sondern auch aus manchen gedruckten Quellen, Büchern, Flugblättern oder Kupferstichen, sowie aus schönen oder schrecklichen, gewohnten oder unheimlichen Objekten der Zeit. Viele spannende und in klassischeren Ausstellungen kaum zu sehende Exponate werden dem Zuschauer vorgestellt: natürlich manche exotisierende Meißner und Frankenthaler Porzellane aus den Mannheimer Sammlungen, sehr schöne Himmels- und Erdgloben, ein Reiseschreibtisch des Herzogs von Sachsen-Meiningen, eine Miniatur der Grabeskirche in Jerusalem, aber auch ein frühes Mikroskop von Antoni van Leeuwenhoeck oder ein kurioser Christus anatomicus, der eine scheinbar harmlose und orthodoxe Frömmigkeitspraxis mit dem Interesse an menschlicher Anatomie überraschend kombiniert.

Einige Kunstwerke aus den letzten Jahren, die mit barocken Klischees oder Techniken spielen, werden überzeugend als zeitgenössische Pendants vorgestellt. Ihre Ausstellung inmitten der anderen Werke hat wahrscheinlich einen (gelungenen) Verfremdungseffekt zum Ziel, bleibt aber oft etwas unreflektiert und von daher problematisch: Was heutige Künstler mit dem Barock machen ist einerseits (auch qualitativ) sehr heterogen und sollte nicht unbedingt auf derselben Ebene wie die historischen Werke gezeigt werden. In jedem Raum stehen auch kleine Stände, an denen Kinder mit Gewürzen aus der Neuen Welt oder Mikroskopen dem Spaß und der Freude am Experimentieren freien Lauf lassen können. Eine multimediale Erfahrung wird zudem durch Musikbeispiele geboten, die an bestimmten Punkten der Ausstellung über Kopfhörer angehört werden können. Insgesamt bemühen sich die Präsentationstexte offensichtlich, den Zuschauer nicht zu sehr mit Daten, Fakten oder langen didaktischen Erklärungen anzustrengen. Nach dem Motto „Barock muss nicht langweilig sein“ stellt diese Ausstellung einen lobenswerten Versuch dar, Kunst zu demokratisieren und Wissen zu popularisieren.

„Barock – Nur schöner Schein?“: Es bleibt allerdings die Frage, ob eine provokant anmutende rhetorische Frage ohne Weiteres als Konzept für die Zusammenstellung von allerlei Objekten und Kunstwerken ausreicht, oder ob aus mangelnder Historisierung und Kontextualisierung hier nicht vielmehr das Risiko entsteht, vermeintlich alte Vorurteile durch neuere, aber ebenfalls unbegründete und pauschale Klischees zu ersetzen. Es ist in der Tat sehr auffällig und oft verwirrend, dass sowohl die Kommentare als auch die Anordnung der Werke und Objekte sich offenbar jenseits von Chronologie und Geographie bewegen, mit nur seltenem Bezug auf konkrete Akteure oder Ereignisse – also auf einer konzeptuellen Ebene, die extrem breite Themen schön und leicht berührt, aber dafür jede Art von klarer Kontextualisierung oder nuancierter Periodisierung verweigert, und schließlich alle Regionen, Sprachen, Kulturen, Ereignisse und Perioden in einen allgemeinen Diskurs zwingt. Dieser konzeptuelle Mangel ist an mehreren Stellen sichtbar.

Schon der chronologische Rahmen der Ausstellung – die gesamte Zeit von 1580 bis „ca.“ 1770, wie man im ersten Raum erfährt, ohne irgendeine Art von geographischer Abgrenzung – ist unbequem und kann kaum mit dem Etikett ‘Barock’ konsequent erfasst werden. Dass das Barockzeitalter erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde, nicht nur vom europäischen Adel bestimmt war und eine Myriade von Realitäten umfasst, wäre eigentlich als Schulwissen zu erwarten. Um diesen Begriff wirklich dekonstruieren zu können, bräuchte der Zuschauer aber eine differenzierte Reflexion über prägnante Ereignisse, lokale Konstellationen, intellektuelle oder künstlerische Tendenzen, sowie über andere, ebenfalls problematische Begriffe oder mögliche Gegenmodelle – wie zum Beispiel ‚Renaissance‘, ‚Aufklärung‘ oder ‚frühe Neuzeit‘. Der reichliche Gebrauch von Anführungszeichen in den Kommentaren – eine „barocke“ Figur, ein „barockes“ Thema – lässt sowohl das Unbehagen der Kuratoren am Begriff erkennen als auch ihre Unfähigkeit, ihn zu überwinden. Das Ergebnis ist ein in mancher Hinsicht recht unverdauliches Patchwork von Werken, die wenig miteinander zu tun haben, außer vielleicht den praktischen Kontingenzen der Ausstellung.

Problematisch ist leider auch der Platz der Musik in der Ausstellung: ein paar zumeist sehr berühmte Musikwerke werden hie und da als Hörproben zur Verfügung gestellt, ohne jegliche Erklärung zu Entstehungskontext oder Rezeptionsgeschichte. Auch wenn sich Musiker und Musikwissenschaftler an die Idee haben gewöhnen müssen, dass die klassische Musik mehr und mehr als Geräuschkulisse für kulturelle Ereignisse fungieren muss, wird man wohl zugeben müssen, dass Claudio Monteverdi, François Couperin oder Georg Friedrich Händel kaum ohne Weiteres als Vertreter einer einheitlichen Musikbewegung gesehen werden sollten und ihre gemeinsame Präsenz in der Ausstellung zumindest eine kurze Erklärung verdient hätte. Es ist zu bedauern, dass ausgerechnet die Mannheimer Schule, die sich während der Regierungszeit des Kurfürsten Carl Theodor in der Zusammenarbeit vieler europäischer Musiker entwickelte und in der Musikgeschichtsschreibung sehr oft als Muster einer sogenannten Übergangsphase zwischen Barock und Klassik diskutiert wird, hier in Mannheim völlig unerwähnt bleibt, obwohl sie eine sehr gute Gelegenheit für eine Problematisierung des Begriffs ‚Barock’ geboten hätte.

Auf formaler Ebene ist auch die Entscheidung zu beklagen, einige Werke nur in Form von photographischen Reproduktionen zu zeigen. Das betrifft unter anderem das Gemälde einer Regensburger Kunstkammer von Joseph Arnold aus dem Ulmer Museum, das hier nur als Photographie in einer schockierend schlechten Auflösung gezeigt wird – obwohl das Thema des Bildes womöglich ein guter Leitfaden der Ausstellung hätte sein können: Wo und wann erscheinen erstmals solche Wunderkammer? Inwieweit können sie als Versuch verstanden werden, die Geheimnisse einer erschlossenem Welt zu domestizieren? Was verraten sie über die Weltanschauung, die gesellschaftliche Stellung und die wissenschaftliche Ansprüche ihrer Besitzer? Derartige Fragen werden hier allerdings noch nicht einmal gestellt.

Das intellektuelle Projekt dieser Ausstellung ist damit zwar reizend und spannend, seine praktische Umsetzung aber letztlich nicht befriedigend. Statt sich dezidiert mit den jüngsten Tendenzen der Historiographie auseinanderzusetzen und die Komplexität des Zeitalters anhand konkreter und gut kontextualisierter Beispiele zu zeigen, produziert die Ausstellung einen eher pauschalen und unhistorischen Diskurs über vermeintliche Merkmale einer Epoche, die nicht gründlich definiert und hinterfragt wird. Hinter solchen Schwierigkeiten verbergen sich letztlich die Gefahren einer Kulturwissenschaft, die sich zu stark von der Geschichte löst.