Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns

Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns

Veranstalter
Germanisches Nationalmuseum
Ort
Nürnberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.11.2018 - 28.04.2019

Publikation(en)

Cover
Selheim, Claudia; Kammel, Frank Matthias; Brehm, Thomas (Hrsg.): Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns. Nürnberg 2018 : Verlag des Germanischen Nationalmuseums, ISBN 978-3-946217-17-6 383 S., 315 Farb- und 36 SW-Abb. € 39,00 (Museumsausg.), € 52,00 (Buchhandelsausg.)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Buchner, Nürnberg

Das Wandern ist nicht nur des Müllers, sondern halb Deutschlands Lust. Laut Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse schnürten 2018 fast 40 Millionen Bundesbürger/innen ab 14 Jahren zumindest gelegentlich die Wanderstiefel und durchstreiften auf Schusters Rappen die Landschaft.1 Das scheinbar zweckfreie Gehen in der Natur ist nicht nur längst zu einem Volkssport geworden, sondern hat auch das Interesse der Forschung geweckt. Das Thema Wandern erfüllt zudem den Trend zur Interdisziplinarität, da sich Geschichtswissenschaft, Geografie, Forst- und Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Volkskunde und Psychologie dafür interessieren.2 Angekommen ist es nicht zuletzt im internationalen Ausstellungswesen, in dem die Kultur- und Alltagsgeschichte eine herausragende Rolle spielt und auf reges Besucherinteresse stößt. 2017 war in Eisenach die Schau „Wanderlust oder die Sehnsucht nach dem Paradies“ zu sehen, die der Philosophie und Praxis des Wanderns nachspürte. 2018 folgte in der Alten Nationalgalerie in Berlin die Ausstellung „Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir“ mit kunsthistorischem Ansatz.3


Abb. 1: Blick in die Nürnberger Ausstellung. Rechts Wand mit Entwürfen für Wanderparkplatzschilder, Bundesrepublik Deutschland, 1966
(Deutscher Wanderverband, Kassel; Foto: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Dirk Messberger)

Die Schau „Wanderland. Eine Reise durch die Geschichte des Wanderns“ im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg folgt nach Bekunden der Initiatoren einem umfassenderen Ansatz. Sie will das Phänomen Wandern in seinen kulturhistorischen, sozialen und wirtschaftlichen Ausprägungen zeigen. Zudem wirft sie Seitenblicke auf künstlerische Reflexionen und auf „Wandern“ als Metapher. Im Vorfeld und zur Vorbereitung der Ausstellung wurde in Nürnberg bereits 2016 die interdisziplinäre Tagung „Wandern. Eine deutsche Lust?“ veranstaltet. Die dort vorgestellten Beiträge, die die immense Bandbreite des Themas veranschaulichen, finden sich im umfangreichen und vorbildlich gestalteten Katalog, der von einem grundlegenden Artikel der Ausstellungsmacher eingeleitet wird (S. 13-21) sowie eine vollständige Darstellung der gezeigten Exponate und Erläuterungen enthält.


Abb. 2: Wandern mit Hilfsmitteln – ein hölzerner Tragsessel aus der Zeit um 1870/90
(Museum Bad Schandau; Foto: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Dirk Messberger)

Die Schau selbst hat das Augsburger Gestaltungsbüro Thöner von Wolffersdorff nach eher herkömmlichen didaktischen Prinzipien aufbereitet. Neben einer hohen Zahl an Exponaten, die in ausführlichen Texten erläutert werden, gibt es einige wenige Stationen, an denen die Besucher/innen das Thema interaktiv erleben können. Die Ausstellung spannt den Bogen von Johann Gottfried Seume, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts mit seinem berühmten „Spaziergang nach Syrakus“ aus einer Lebenskrise löste und dabei festhielt, „dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge“, bis zu Manuel Andrack. Der Autor und Profiwanderer führt die Besucher/innen mit einem launig besprochenen Audioguide durch die Ausstellung.4 Dass das Wandern eine besonders in Deutschland beliebte Freizeitbeschäftigung ist, zeigt sich auch semantisch und in Übersetzungsproblemen: Im Englischen gibt es mit „to wander“, „to ramble“ und „to hike“ mindestens drei Begriffe dafür, die sich mit dem Bedeutungsgehalt des deutschen Begriffs aber nur teilweise decken. Zu einer verbreiteten Bewegung wurde das Wandern im Zeitalter des aufgeklärten Bürgertums, als sich die Naturwahrnehmung durch neue philosophische Zugänge und naturwissenschaftliche Erkenntnisse veränderte und die Landschaft im Selbstbild des Menschen ihren Schrecken verlor. Ähnlich wie heute war das Gehen auch eine Antwort auf die Verdichtung des Lebens. In Zeitaltern der Beschleunigung tendiere der Mensch zum Gegenteil, schreibt der Generaldirektor des Nationalmuseums, G. Ulrich Großmann, im Katalogvorwort: „War es um 1800 die beginnende Industrialisierung, so sind es heute die digitale Revolution und die Ökonomie 3.0, die Lust an der Entschleunigung, am selbstbestimmten Geh-Rhythmus und an der körperlichen Aktivität in schönen Landschaften freisetzen.“ (S. 11)


Abb. 3: Schilderbaum vom Rothaarsteig, um 2015
(Rothaarsteigverein e.V., Schmallenberg; Foto: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Dirk Messberger)

Die Ausstellung durchwandert ihr Thema in 20 stimmig voneinander abgegrenzten inhaltlichen Etappen. Auf „Landschaft“, „Regionen“ und „Motivationen“ folgen zum Beispiel „Lieder“, „Eisenbahn“, „Orientierung“ und „Aussicht“. Eine Station gleich zu Beginn nennt sich ebenso ironisch wie lakonisch „Nicht-Wandern“ (S. 255-258). In ihr werden das bloße Spazierengehen, das soldatische Marschieren sowie das religiöse Pilgern abgehandelt. Die Jahrtausende umfassende Geschichte des Pilgerns und die Tatsache, dass das Wandern auch als dessen säkularisierte Form angesehen werden könnte, finden keine Erwähnung.5 Auch die christlichen oder weltlichen Pfadfinder sind kein Ausstellungsgegenstand. Ebenfalls kritikwürdig ist das in der Schau verwendete Paradigma vom Wandern als „zweckfreies Gehen in der Landschaft“. Ob Flucht aus dem modernen Großstadtmief, körperliche Ertüchtigung oder aber die Erkundung von Gesteinsformationen, Tier- und Pflanzenwelt, wie es etwa der Dichter und begeisterte Landschaftsgänger Eduard Mörike liebte: Zweckfrei war das Wandern nie. Großmann fügt dem Topos im Katalog immerhin ein „scheinbar“ hinzu (S. 11).

Hellsichtig und umfassend sind hingegen die politischen und unpolitischen Aspekte des Wanderns thematisiert. „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn wollte die deutsche Jugend durch Wanderungen zur Beschäftigung mit Kultur und Geschichte des Landes anregen und damit im Zeitalter der Kleinstaaterei das Nationalgefühl stärken. Auch die Burschenschaften waren auf Wanderpfaden unterwegs. Die „Naturfreunde“-Touristenvereine der Arbeiterbewegung griffen Ende des 19. Jahrhunderts von Österreich nach Deutschland über. In der Jugendbewegung des Kaiserreichs kritisierte der „Wandervogel“ bereits die Konsumorientierung des neuen Volkssports. Dieser war im Übrigen lange ein männliches Phänomen. In den Jahrbüchern eines Gasthauses am Brocken im Harz verewigten sich von 1753 bis 1790 mehr als 7.000 Wanderer sämtlicher Bevölkerungsschichten. Nicht einmal ein Zehntel von ihnen waren Frauen (S. 266). Im Nationalsozialismus hieß das Motto „Auch der Führer wandert“, und Organisationen wie „Kraft durch Freude“ vereinnahmten das Wandern, dem aus Sicht des NS-Regimes allerdings das Marschieren vorgezogen wurde. Für die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine Entpolitisierung zu beobachten: Die Menschen unternahmen „kleine Fluchten“ aus den zerstörten Städten in die scheinbar unberührte Natur und genossen in Filmen die „heile Welt des Wanderns“ (S. 344).


Abb. 4: Besucherin vor dem Gemälde „K.H.S.B.T.Y.“ von Sven Dühl, 2014 – eine aktuelle Fort- und Umschreibung romantischer (Vor-)Bilder
(Bielefeld, Sammlung Christof Kerber; Foto: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Dirk Messberger)

Breiten Raum gibt die Nürnberger Schau der metaphorischen Dimension des Themas (S. 318-324). In einigen Katalogbeiträgen wird nicht immer scharf genug zwischen dem Wandern an sich und seinen übertragenen Bedeutungen unterschieden. Schon in der barocken Lyrik stand Wandern für den menschlichen Lebensweg und sein Schicksal, als Reise zu Gott. Die Romantik griff dieses Motiv auf, und die Wandererfigur hielt breiten Einzug in bildende Kunst, Literatur, Philosophie und Musik. In Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ streift der entmachtete Gott Wotan als „Wanderer“ durch die Welt und schaut sich den seinem Einfluss entzogenen Gang des Schicksals an. Der Schriftsteller Peter Härtling stellt den wandernden Menschen als Unbehausten vor, der in einer frostigen, auskühlenden Welt unterwegs sei. Die Ausstellung nennt viele weitere Beispiele, verzichtet hingegen darauf, etwa die Migration als Wanderungsbewegung oder den antisemitischen Topos vom „wandernden Juden“ zu thematisieren.

Nicht fehlen dürfen in einer Ausstellung zu einem so populären Thema manche „Devotionalien“, etwa der Rucksack des Schriftstellers Hermann Löns oder ein Wanderschuh von Bundeskanzler Helmut Kohl, der seine Ausflüge häufig für politische Gespräche nutzte.6 Betont volksnah und naturverbunden gab sich „Wanderpräsident“ Karl Carstens, der Ende der 1970er-Jahre das damalige Westdeutschland von Nord nach Süd durchquerte.

In den abschließenden Sektionen wird das Thema mit „Diversität“, „Virtueller Raum“ und „Reflexionen“ abgerundet. Wandern wird als Wirtschaftsfaktor beschrieben, die Outdoor-Bewegung spiegelt jüngere Entwicklungen wider. Nicht thematisiert wird hingegen das Bergwandern als Extremsport, obwohl gerade Albrecht von Hallers Gedicht „Alpen“ aus dem Jahr 1729 am Anfang der deutschen Wanderbegeisterung stand (S. 13).7 Auch Erkenntnisse darüber, wie das Wandern eigentlich auf Menschen und ihr körperliches und seelisches Befinden wirkt, fehlen in der Schau fast vollständig. Lediglich einige Katalogartikel thematisieren diesen Aspekt. Dafür können die Besucher/innen am Ende mittels einer Virtual-Reality-Brille den Baumwipfelpfad an der Saarschleife mit seinem 42 Meter hohen Aussichtsturm irritierend und lebensecht erleben, oder aber unter http://www.webwandern.ch eine komplette Wanderung auf dem Bildschirm nachempfinden (S. 369f.). Ein ebenso künstlerisch wie fachgerecht zersägter Spazierstock, ein Werk von Thomas Virnich aus dem Jahr 1988 (S. 371), wirft zuletzt einen augenzwinkernden Blick auf ein spannendes kulturgeschichtliches Alltagsthema, das im Germanischen Nationalmuseum noch bis zum 28. April 2019 in beeindruckender Vielfalt zu entdecken ist.

Anmerkungen:
1https://de.statista.com/statistik/daten/studie/272532/umfrage/wanderer-in-deutschland-nach-alter/ (16.03.2019).
2 Als „Wanderpapst“ gilt der Physiker und Natursoziologe Rainer Brämer, der Anfang der 1990er-Jahre an der Universität Marburg die Forschungsgruppe Wandern ins Leben rief und Gründungspräsident des Deutschen Wanderinstituts war. Vgl. die Websites https://www.wanderinstitut.de und https://www.wanderforschung.de (16.03.2019), wo diverse „Wanderstudien“ abrufbar sind.
3http://wanderlustinberlin.de (16.03.2019).
4 Für kurze Eindrücke siehe https://www.youtube.com/watch?v=LYDAelEZ8b0 und https://www.youtube.com/watch?v=hq7b6kFZZyc (16.03.2019). Andrack hat zahlreiche Bücher zum Thema veröffentlicht, u.a.: Das neue Wandern. Unterwegs auf der Suche nach dem Glück, Berlin 2011; Mit Kindern wandern. Touren, Tipps und Naturabenteuer in ganz Deutschland, München 2018.
5 Zur Pilgerbewegung siehe etwa die Forschungen von Markus Gamper und Julia Reuter vom Institut für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften der Universität Köln, z.B.: Sinnsuche per Pedes. Pilgern als körperliche Herausforderung und spirituelle Erfahrung, in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 35 (2012), H. 1, S. 30-47, https://www.wanderforschung.de/files/gamper-2012pilgern_1408141124.pdf (16.03.2019).
6https://www.gnm.de/objekte/wanderschuh-helmut-kohls/ (16.03.2019). Die Präsentation von Kohls Wanderschuh, eine Leihgabe des Deutschen Schuhmuseums im pfälzischen Hauenstein (S. 253f.), erinnert ein wenig an die berühmte Strickjacke, die der Bundeskanzler im Juli 1990 bei der Aushandlung der deutschen NATO-Mitgliedschaft im Kaukasus trug und die im Bonner Haus der Geschichte gezeigt wird. In der Südpfalz nahe Pirmasens gibt es einen nach Kohl benannten Wanderweg. Siehe die Website der Ortsgruppe Dudenhofen des Pfälzerwald-Vereins: http://www.pwv-dudenhofen.de/wandervorschlaege/articles/auf-dem-helmut-kohl-wanderweg-bei-eppenbrunn.html (16.03.2019).
7 Der Text findet sich unter https://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/18Jh/Haller/hal_v04.html (16.03.2019).