À l’Est la guerre sans fin, 1918-1923

À l’Est la guerre sans fin, 1918-1923

Veranstalter
Musée de l'Armée
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
05.10.2018 - 20.01.2019

Publikation(en)

Cover
Bertrand, Christophe; Lachèvre, Carine; Lagrance, François; Ranvoisy, Emmanuel (Hrsg.): À l’Est la guerre sans fin, 1918-1923. . Paris 2018 : Gallimard, ISBN 978-2-07-281956-8 320 S., mit Abb. € 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cristian Cercel, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Rund um den 11. November 2018 feiert man das 100-jährige Jubiläum des Endes des Ersten Weltkriegs. Vor diesem Hintergrund ist die Kernaussage der neuen Sonderausstellung im Pariser Armeemuseum, einem der größten militärhistorischen Museen überhaupt, auf den ersten Blick provokativ: „À l’Est la guerre sans fin, 1918–1923“ – im Osten, der Krieg ohne Ende. Die Ausstellungsmacher wollen also zeigen, dass sich der Krieg im „Osten“ eigentlich auch nach 1918 fortsetzte. Natürlich, für Fachleute sowie für historisch Interessierte hat eine solche These keinen echten Überraschungseffekt. In Deutschland zum Beispiel ist vor kurzem ein neues umfangreiches Werk von Jörn Leonhard erschienen, das denselben Zeitraum behandelt und das grundsätzlich mit dem Ansatz der Pariser Ausstellung kompatibel ist, auch wenn Leonhards Buch umfassender und vielschichtiger ist.1


Abb. 1: Blick in den Einführungsraum der Ausstellung „À l’Est la guerre sans fin, 1918–1923“ mit historischen Landkarten Europas und der Levante
(© Paris – Musée de lʼArmée, Dist. RMN-Grand Palais, Anne-Sylvaine Marre-Noël)

Auf manche französische MuseumsbesucherInnen kann die Darstellung des Zeitraums 1918–1923 als eine von Krieg und militärischen Konflikten geprägte Periode sowie der Schwerpunkt auf „den Osten“ und „die Levante“ aber etwa frappant wirken. („Levant“ war zeitgenössisch die übliche französische Bezeichnung für das, was man heute eher als Mittleren Osten – „Moyen-Orient“ – oder Nahen Osten – „Proche-Orient“ – bezeichnet.) Der 11. November 1918, der Tag der Unterzeichnung des Waffenstillstands in Compiègne, gilt in Frankreich als Tag des Friedens und wird auch als solcher gefeiert. Östlich von Frankreich setzten sich kriegerische Auseinandersetzungen jedoch fort, oft unter direkter oder indirekter französischer Teilnahme, da der französische Staat seine eigenen Interessen verfolgte.

Der Bezug auf „den Osten“ und „die Levante“ hat einen orientalistischen Beigeschmack; für „Mittel- und Osteuropa“ benutzt man im Französischen sowieso die Bezeichnung „Europe centrale et orientale“. Als im Westen die Waffen schwiegen, gingen die Kämpfe im Osten und im Orient weiter, vor dem Hintergrund des Zerfalls von vier Imperien: des Deutschen, des Österreichisch-Ungarischen, des Russischen und des Osmanischen Reiches. In der Ausstellung geht es also primär um die gewaltvolle Geschichte eines in Frankreich eher unbekannten Raums während der Periode 1918–1923 und um die französische Rolle in dieser Geschichte, folglich in der Gestaltung der Nachkriegsordnung. Dieser letztere Schwerpunkt zeigt sich auch in der engen Zusammenarbeit des Pariser Armeemuseums mit den französischen Diplomatischen Archiven im Kontext der aktuellen Ausstellung.

„À l’Est la guerre sans fin, 1918–1923“ ist eine eher traditionelle historische Exposition. Der Rundgang ist in fünf große Kapitel gegliedert: „La dissolution des empires“ (Der Zerfall der Reiche), „La fabrique des traités“ (Die Fertigung der Verträge), „Les marches de l’Est“ (Die Grenzgebiete im Osten), „L’Europe médiane“ (Mitteleuropa) und „Le Levant“ (Die Levante). Die Inhalte und Thesen der Ausstellung werden überwiegend mit Hilfe von diplomatischen Dokumenten und anderen Schriften präsentiert, sowie anhand von Plakaten, Fahnen, Fotos, Landkarten, Militäruniformen oder Objekten, die Staatsmännern oder bedeutenden Feldherren gehört haben. Es handelt sich insgesamt um mehr als 250 Exponate. Die überwiegende Mehrheit der in der Ausstellung vorkommenden Akteure sind Männer. Restauriertes zeitgenössisches Filmmaterial aus den Gaumont-Pathé-Archiven2 trägt zur Konkretisierung und Veranschaulichung der historischen Ereignisse bei. Multimediale Exponate sind nicht zahlreich, ermöglichen aber die Vertiefung ins Thema, etwa ein interaktiver Stadtplan von Paris mit den Adressen der Hotels, in denen die Delegierten während der Friedensverhandlungen gewohnt haben, oder – freilich auf einer anderen Ebene – die Videointerviews mit zwölf FachhistorikerInnen (sowohl aus Frankreich als auch aus dem Ausland), die sich am Ende der Schau finden.


Abb. 2: Vitrine im Ausstellungskapitel „La dissolution des empires“. Zu sehen sind das Signalhorn, mit dem der Waffenstillstand verkündet wurde, sowie die Federhalter des alliierten Oberbefehlshabers Marschall Foch und der deutschen Bevollmächtigten bei der Unterzeichnung des Waffenstillstands.
(© Paris – Musée de l’Armée, Dist. RMN-Grand Palais, Anne-Sylvaine Marre-Noël)

Die ersten beiden Ausstellungskapitel, der Zertrümmerung der kaiserlichen Ordnung sowie den unterschiedlichen Waffenstillstandsabkommen und Friedensverträgen gewidmet, weisen auf die Schwierigkeit der Aufgabe hin, eine neue Weltordnung zu schaffen. Sie geben zugleich die Offenheit des Kriegsausgangs zu erkennen – auch in dieser Hinsicht treffen sich die Zugänge der AusstellungsmacherInnen teilweise mit der Argumentation in Jörn Leonhards erwähntem Buch. Die Multiperspektivität, die von den unterschiedlichen staatlichen und ethnopolitischen Interessen der damaligen historischen Akteure bestimmt war, lässt sich leicht feststellen, zum Beispiel durch den Kontrast zweier ethnographischer Landkarten – einer rumänischen und einer ungarischen –, die die entgegengesetzten Territorialansprüche der beiden Länder untermauern sollten.


Abb. 3: Sektion „Révolutions et contre-révolutions“ (Revolutionen und Gegenrevolutionen) im Ausstellungskapitel „Les marches de l’Est“
(© Paris – Musée de l’Armée, Dist. RMN-Grand Palais, Anne-Sylvaine Marre-Noël)

Die Vielfalt an Interessen und Einstellungen während der turbulenten, wirren Jahre 1918–1923 wird in den nächsten drei Sektionen der Ausstellung weiter vertieft, mit einer ausführlichen Betrachtung der militärischen und revolutionären Lage in den östlichen Ländern und Gebieten, die den geographischen Schwerpunkt der Ausstellung bilden. Die BesucherInnen sind mit einer Vielzahl an inner- und zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikten konfrontiert, etwa mit dem Russischen Bürgerkrieg und den Kämpfen zwischen neuen, teilweise erst in dieser Phase entstandenen Staaten. Die Ausstellung gibt auch einen Einblick in die ideologische Vielstimmigkeit der Konflikte. Der Aufstieg des Sowjetkommunismus und seine Anziehungskraft werden durch Objekte und Dokumente veranschaulicht, selbst wenn eine Empathie für die sozialen Desiderate der Kommunisten oder für die Figur Lenins bei den AusstellungsmacherInnen nicht unbedingt aufzuspüren ist. Ebenfalls thematisiert werden die teils fragwürdigen Plebiszite, die antisemitischen Pogrome in der Ukraine und die mit dem Entstehen der neuen Staaten verbundenen Fluchtbewegungen. Beachtlich ist die geographische Reichweite der Konfliktschauplätze – von Teschen (heute Český Těšín / Cieszyn) bis Sibirien, von Memel (heute Klaipėda) bis Smyrna (heute Izmir), von Fiume (heute Rijeka) bis Damaskus.


Abb. 4: Sektion im Ausstellungskapitel „L’Europe médiane“
(© Paris – Musée de l’Armée, Dist. RMN-Grand Palais, Anne-Sylvaine Marre-Noël)

Eine übergreifende These der Ausstellung lautet, dass die aktuelle Lage in den unter die Lupe genommenen Regionen auch als eine langfristige Nachwirkung der Gewalt und der Instabilität zu verstehen sei, die die Periode 1918–1923 geprägt haben. Das mag – mindestens teilweise – zutreffen, aber eine solche Andeutung kann auch eine Art Bumerang-Effekt haben, indem sie zu einer kritischen Hinterfragung der – damaligen, aber auch langzeitigen – Rolle der Großmächte (vor allem Frankreichs) einlädt, die aus dem Ersten Weltkrieg als Sieger hervorgingen und die zu den darauffolgenden Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa sowie im Mittleren und Nahen Osten maßgeblich beigetragen haben. Die Darstellung eines Osteuropa und den Nahen Osten zusammenfügenden Raums als einer von ethnischem Durcheinander, Chaos, Krieg, Konflikt und Revolution geprägter Großregion, wo die Franzosen – mit mehr oder weniger Erfolg – etwas Ordnung und Stabilität zu bringen versuchten, steuert den schon erwähnten orientalistischen Beigeschmack des Ausstellungsnarrativs bei. Orientalistische Diskurse sind aber mit kolonialistischen und imperialistischen Diskursen eng verknüpft, das wissen wir bereits seit Edward W. Said.3 Wenn wir diese Interpretationstür öffnen – und wahrscheinlich legt die Ausstellung dies bloß ungewollt nahe –, dann können wir die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Großmächte in einem kolonialistischen und imperialistischen Paradigma verstehen und als mitverantwortlich für die damalige, aber auch für die spätere Situation der Gesellschaften im Osten Europas und im Nahen Osten betrachten. In diesem Zusammenhang sollte auch erwähnt werden, dass Palästina in der Ausstellung nur flüchtig angesprochen wird – ein unerwartetes Versäumnis. Der kolonialistische Kontext der französischen militärischen Interventionen in Syrien und im Libanon wird ebenfalls nicht näher thematisiert.


Abb. 5: Blick in das Ausstellungskapitel „Le Levant“
(© Paris – Musée de l’Armée, Dist. RMN-Grand Palais, Anne-Sylvaine Marre-Noël)

Ein umfangreicher Begleitband ergänzt die Ausstellung: Die Beiträge von einschlägig ausgewiesenen HistorikerInnen wie John Horne, Annette Becker, Julie d’Andurain, Mark Cornwall, Robert Gerwarth, Edhem Eldem und anderen bieten Interessierten die Möglichkeit, sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Alles in allem ist „À l’Est la guerre sans fin, 1918–1923“ eine Ausstellung, die Stoff zum Nachdenken liefert – hauptsächlich in Bezug auf die Vergangenheit, aber auch mit Blick auf die Gegenwart. Der Schwerpunkt auf diplomatischer und militärischer Geschichte sowie die Wahl von Exponaten, die für derartige Ausstellungen typisch sind, können freilich etwas fade wirken für BesucherInnen, die sich mehr sozialgeschichtliche Narrative erhoffen.


Abb. 6: Zwölf Videointerviews mit HistorikerInnen aus Frankreich und anderen Ländern sowie eine politische Karte Europas im Jahr 1923 befinden sich am Ende des Ausstellungsrundgangs.
(© Paris – Musée de l’Armée, Dist. RMN-Grand Palais, Anne-Sylvaine Marre-Noël)

Anmerkungen:
1 Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018.
2http://www.gaumontpathearchives.com (11.11.2018).
3 Edward W. Said, Orientalismus. Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, 5. Aufl. Frankfurt am Main 2017 (englische Erstausgabe New York 1978).