Kino der Moderne

Veranstalter
Bundeskunsthalle, Bonn; Deutsche Kinemathek, Berlin
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.12.2018 - 24.03.2019

Publikation(en)

Cover
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland; Deutsche Kinemathek (Hrsg.): Kino der Moderne. Film in der Weimarer Republik. Dresden 2018 : Sandstein Verlag, ISBN 978-3-95498-436-7 195 S. € 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Grisko, Erfurt

Nachdem man die lichtdurchflutete Eingangshalle der Bundeskunsthalle in Bonn durchschritten und den Einlass passiert hat, fallen in der Ausstellung „Das Kino der Moderne“ zunächst die überlebensgroßen Porträts an der Wand links ins Auge. Die Großaufnahmen, die z.T. von dem renommierten Fotografen August Sander stammen, weisen auf die erste zentrale These der Ausstellung hin: Die Industrialisierung der Fotografie und deren populäre Verbreitung evoziert eine Wechselwirkung zwischen Inszenierung und Typisierung, die auch vom standardisierten und auf Massentauglichkeit abzielenden Film der Weimarer Republik bedient wird. Nur wenige Schritte weiter und man steht, umgeben von einer großen, mit fast vier Metern raumhohen Gerüstinstallation, mitten in einer Inszenierung von Kinoeingängen und Fassadenwerbungen für Filme, die mit großen, wechselnden Projektionen von Filmausschnitten Urbanität und Dynamik simulieren.


Abb. 1: Kino und Urbanität - Installation am Beginn der Ausstellung
Foto: Michael Grisko, Erfurt

Die Ausstellung wendet sich an das breite Publikum und bedient durch ihre Choreographie unterschiedliche Interessen, von Kulturgeschichte über Technik bis hin zum filmtheoretischen Diskurs. Es ist zudem eine Ausstellung, die weniger auf die Kraft der textzentrierten Erzählung oder, abgesehen vom Eingangsbereich, der insinuierenden Inszenierung setzt, als vielmehr über das Exponat argumentiert. Dazu zählen auch zahlreiche kurze, thematisch ausgezeichnet gewählte Ausschnitte aus Spiel- und Dokumentarfilmen bzw. Wochenschauen der damaligen Zeit, die auf Kleinmonitoren mit Kopfhörern gezeigt werden. Dabei haben sich die Kurator/innen nicht nur aus dem herausragenden Fundus der Stiftung Deutsche Kinemathek bedient, sondern zahlreiche Leihgaben und Fotografien u.a. aus dem Ullstein-Archiv (Berlin), dem Deutschen Filminstitut (Frankfurt am Main), der Collection Le Cinémathèque Française (Paris), dem Sprengel Museum (Hannover) und dem Deutschen Literaturarchiv (Marbach) zusammengetragen, die z.T. noch nie öffentlich zu sehen waren. Die Ausstellung ist somit in gewisser Hinsicht auch eine Leistungsschau der Archive. Der Katalog stellt einen Großteil der Exponate als hochwertige und teils großformatige Abbildungen zur Verfügung. Die Textbeiträge, die vor allem den ersten Teil der Ausstellung spiegeln, sind populär und knapp gehalten. Ergänzt wird der Katalog durch einen kundigen Essay von Anton Kaes zur „Kinodebatte der Weimarer Republik“.

Die Schau ist in insgesamt drei Abschnitte unterteilt, die sich den Themen „Modernes Leben“ (Film und Gesellschaft), „Werkstatt Kino“ (Film und Technik) und „Im Kino: Neues Sehen“ (Film und Theorie) widmen – jedes für sich eine eigene Ausstellung wert. Unterbrochen und ergänzt werden die drei großen inhaltlichen Komplexe durch insgesamt vier kleine Kinos, die zum weiteren Eintauchen in die Zeit einladen.

Film und Gegenwartsgesellschaft, so die These des ersten Abschnitts mit der Überschrift „Modernes Leben“, beobachten und beeinflussen sich wechselseitig. Diese zugebenermaßen nicht ganz neue Idee wird anhand von Stichworten wie „Arbeitswelten“, „Kindheit“, „Soziales“, „Mobilität“, „Sport“, „Gender“, „Urbanität“, „Politik und Zensur“ entwickelt. Sie orientieren sich an der kulturwissenschaftlichen Debatte der letzten Jahre. Jedem Thema ist eine eigene Koje gewidmet, die in der Dramaturgie jedoch nicht zusammenhängen, somit auch jede für sich rezipiert werden kann. Innerhalb der Kojen belegen die Ausstellungskuratoren ihre Thesen stark exemplarisch und weniger über die Zahl der Filme oder deren Popularität. Hier gilt es der Auswahl und der Stichhaltigkeit der These zu vertrauen, denn die Texte der Ausstellung verzichten in der Regel auf statistische Größen oder anderweitige Belege.

Ein kurzer Einleitungstext und ein Bild aus dem Ende der 1920er-Jahre verbreiteten „Photomaton-Apparat“ sind jeder Koje vorangestellt. Neben Filmausschnitten, Filmplakaten, Set-Zeichnungen und Architektur-Entwürfen und -modellen, werden die Stationen in geringem Umfang durch dreidimensionale Objekte ergänzt. Bei der Themenkoje „Sport“ etwa durch eine Sprossenwand, die wiederum auf die Fotografie einer Wohnungseinrichtung einer Wand rekurriert, und durch Skulpturen von Max Schmeling, die dessen Kultcharakter und die transitorischen Übergänge von Sport, Gesellschaft, Film, Kunst und Alltagsleben verdeutlichen sollen.

Der komplexe diskursive Anspruch wird beim Thema „Arbeitsleben“ deutlich: Auf wenigen Quadratmetern sollen nicht nur die neuen Typen des Arbeitslebens (Sekretärin, Ingenieur, Arbeiter und der von Siegfried Kracauer identifizierte und beschriebene „Angestellte“), sondern auch deren Arbeitsumgebungen (Großraumbüro, Atelier, Fabrik) vorgestellt werden. Hinzu kommen Themen wie neue Hierarchien im Geschlechterverhältnis, Arbeitslosigkeit, Technisierung und Maschinisierung, letzteres am Beispiel des Films „Sprengbagger 1010“ von 1929. Das gleiche gilt für das Thema „Mobilität“, bei dem nicht nur die Urbanität zum Synonym für Mobilität und Tempo wird, die unterschiedlichen Produktionsarten von „on location“ und Studiodreh vermittelt werden sollen, das Autofahren für Frauen leichter wird und das Telefon in Komödie und Kriminalfilm zu einem Medium der Beschleunigung gerät: weniger wäre manchmal mehr.

So zeugt der erste Abschnitt von der kuratorischen Entscheidung, die Vielfältigkeit des Films als zeitgemäßes Medium einer enorm dynamischen Gesellschaft zu demonstrieren. Die Filmausschnitte zeigen bekanntere und unbekanntere Filme, für die es sich schon allein lohnt, in die Ausstellung zu gehen. Auch zahlreiche Exponate, wie u.a. der Vertrag zwischen George Grosz und John Heartfield zu einem Trickfilmprojekt über die Relativitätstheorie, die Animationszeichnungen von Oskar Fischinger, der Bade- und der Hosenanzug Marlene Dietrichs, der Kimono der Schauspielerin Heddy Sven im fernöstlichen Stil, der Szenenbildentwurf von Emil Hasler einer Fingerabdruckanalyse und deren tatsächliche filmische Realisation in Fritz Langs „M“ verweisen sowohl auf die fortgeschrittene gesellschaftliche Integration des Kinos als auch auf die ausgezeichneten über die Jahre aufgebauten nationalen und internationalen Sammlungsbestände.

Die Verweise auf das Bauhaus, den Versuch, den Psychoanalytiker Sigmund Freud für den Film zu gewinnen, die breite internationale Aufstellung der Avantgardefilmer, die besonderen bildgebenden Verfahren der Wissenschaft (Röntgenfotografie) und deren Verwendung auch im Spielfilm zeigen die ungeheure Dynamik und Bereitschaft der hochprofessionellen Bildindustrie, sich auch ungewöhnliche Bereiche gewinnbringend zu erschließen. In gewisser Weise existierte auch ein Wettbewerb, die neuesten gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen mit sensationellem und/oder unterhaltenden Charakter direkt in den Film zu bringen.


Abb. 2: Making-of - Eindrücke aus den Filmproduktionsstätten
Foto: Michael Grisko, Erfurt

Der zweite Ausstellungsabschnitt „Werkstatt Film“ zeigt anhand der Bereiche „Szenenbild“, „Drehbuch“, „Kostüm“, „Produktion“, „Kamera“, „Regie“, „Montage“, „Ton“ und „Am Set“ eine Art „making of“. Einerseits verdeutlicht dieser Teil die im Unterschied zu den 1910er-Jahren rasant fortgeschrittene Professionalisierung weiter Teile der Filmindustrie, die andererseits mit einem hohen Grad an Experimentierlust verbunden war. So wird etwa die Debatte bei der Einführung des Tonfilms rekapituliert, die den Verlust der künstlerischen Qualität des Films reklamierte, aber schon bald von der realen Entwicklung überholt wurde. Auch die Kameras wurden kleiner – dies erkannten die professionellen Kameraleute als Chance, etwa um Freihandaufnahmen machen zu können. Als Exponat ist auch eine auf einen Ski montierte mobile Kamera für den Film „Der weiße Rausch“ (1931) zu sehen. Nicht zuletzt die ausgestellte Kameraschaukel gibt einen Hinweis auf die technischen Hilfsmittel, die nach und nach standardisiert wurden. Deutlich wird in dieser Abteilung der manuelle und analoge Charakter von Technik, Montage, Trick- und Dreharbeiten, Set- und Kostümdesign, der im digitalen Zeitalter mehr und mehr verloren geht. Es ist auch ein ethnologischer Blick auf vergangene Arbeitswelten und -prozesse.


Abb. 3: Filmtechnische Innovation der 1920er-Jahre
Foto: Michael Grisko, Erfurt

Gleichwohl verliert man das Gefühl für die Breite und Tiefe dieser Professionalisierungsprozesse. Wie groß war der Anteil der Filme, die mit dieser Ausstattung, dieser Vorbereitung und dieser künstlerischen Qualität produziert wurden? Wie viele der Szenenbildner kamen, wie Hans Poelzig oder Walter Reimann, von der Kunstgewerbeschule? Wie viele Beschäftigte arbeiten überhaupt in der Filmindustrie? Besonders lobenswert ist indes, dass die Kurator/innen den Frauen im künstlerisch-technischen Bereich, wie Marlene Moeschke-Poelzig, Else Oppler-Legband, Jane Bess, Helen Gosewisch oder Luise Heilbronn-Körbitz, zu neuer Sichtbarkeit verhelfen. Immerhin geht man davon aus, dass 10 % der Drehbücher von Frauen stammen.

Im dritten und letzten Teil widmet sich die Ausstellung den Themenkomplexen „Kinoarchitektur“, „Stars und Fans“, „Theorie und Kritik“ und rekonstruiert schließlich die von Benjamin für seinen Kunstwerk-Aufsatz 1935 rezipierten Werke. In den letzten beiden Bereichen müssen die Besucher/innen viel Geduld mitbringen. Lesen ist angesagt! Der ästhetische, soziale und theoretische Filmdiskurs der Weimarer Republik ist so umfangreich wie komplex und am Ende einer Ausstellung möglicherweise etwas überfordernd, auch wenn die Exponate, etwa die Notizbücher von Siegfried Kracauer, von herausragender Exklusivität sind. Hier fällt dann das letzte „Kino“ wohltuend auf, wo bekannte Kritikerstimmen parallel zu den besprochenen Filmen eingespielt werden. Das ist eine schöne Lösung.

Insgesamt erfahren die Besucher/innen der Ausstellung wenig über den Umfang der Filmproduktion, deren Überlieferung, die Bedeutung des Kinobesuchs im Freizeitkontext, die unterschiedlichen Filmzeitschriften oder die schon damals perfektionierten Marketingmethoden. Der für den Unterhaltungsbereich und die Filmkultur so zentrale Begriff des „Amerikanismus“ fehlt völlig. Überhaupt scheint die Filmkultur eine nationale Kultur; internationale Einflüsse, Synchronfassungen, Sprachversionen finden keinen Niederschlag. Auch verlassen die Besucher/innen die Ausstellung, ohne etwas über den katastrophalen personellen Aderlass im künstlerischen und technischen Bereich zu erfahren, den die deutsche Filmindustrie mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten erlebte, denn die Feindschaft und die Vertreibung ist ebenso wie die gezielte Vereinnahmung ein Teil des „Kinos der Moderne“.

Eine Stärke der Ausstellung hingegen ist, dass weniger einzelne Stars im Mittelpunkt stehen, auch wenn es zahlreiche Exponate rund um Marlene Dietrich in die Exposition geschafft haben. Auch die UFA und ihre bewegte Geschichte, die bereits 2017 eine große Ausstellung erhielt, wurde weitestgehend ausgespart. Stattdessen bietet die Schau erstmalig ein derart umfängliches Spektrum aus den Bereichen Technik, theoretischer Diskurs und kulturelle Einbindung in die Gesellschaft der Weimarer Republik und ist damit zugleich ein außerordentlich wichtiger Beitrag zu den Feierlichkeiten rund um das 100-jährige Jubiläum der Republikgründung. Wer es nicht nach Bonn in die Bundeskunsthalle schafft, kann „Kino in der Moderne“ übrigens auch vom 20. Juni bis zum 13. Oktober 2019 in der Deutschen Kinemathek in Berlin sehen.

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