Haus der Geschichte Niederösterreich

Haus der Geschichte Niederösterreich

Veranstalter
Museum Niederösterreich
Ort
St. Pölten
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.09.2017 -
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Brait, Institut für Zeitgeschichte / Institut für Fachdidaktik, Universität Innsbruck

Nach langen Debatten, die sich bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen, wurde Anfang November 2018 eine neue museale Einrichtung zur österreichischen Geschichte eröffnet.1 Das „Haus der Geschichte Österreich“ (HdGÖ) – so der umstrittene Titel der neuen Einrichtung – wurde 2016 als Abteilung der Österreichischen Nationalbibliothek gegründet. Die Verwirklichung des seit dem Jahr 2000 in allen Regierungsprogrammen festgeschriebenen Projekts steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem 100-jährigen Jubiläum der Gründung der Republik Österreich und dürfte wohl auch durch die Entscheidung im Bundesland Niederösterreich beeinflusst worden sein, in St. Pölten eine historische Dauerausstellung einzurichten.

Ende 2014 kündigte der damalige Bundesminister für Kunst und Kultur, Verfassung und Medien, Josef Ostermayer (SPÖ), an, das in der Neuen Burg (einem Teil der Wiener Hofburg) untergebrachte „Weltmuseum“, das zu diesem Zeitpunkt renoviert wurde, kleiner als geplant verwirklichen zu wollen, um auch ein „Haus der Geschichte“ umsetzen zu können. Schnell war jedoch die Rede von mehr Räumlichkeiten in der Neuen Burg. Wie bei Diskussionsveranstaltungen und in den Medien deutlich wurde, wurde es aber verabsäumt, vorher mit den betroffenen Institutionen zu sprechen. Nach heftigen Protesten und hitzigen Debatten erhielt das HdGÖ letztlich drei Ausstellungsräume; zwei weitere kleinere Räume werden für ein Café und einen Vermittlungsraum genutzt; dazu kommt noch der Bereich hinter dem Altan im ersten Stock (bekannt als „Hitler-Balkon“, da Adolf Hitler von diesem aus am 15. März 1938 den „Eintritt [s]einer Heimat in das Deutsche Reich“ verkündet hatte). Dieser wird nun für Sonderausstellungen genutzt und wurde vom HdGÖ in „Alma Rosé Plateau” umbenannt – der Altan selbst ist entgegen den ursprünglichen Ideen (derzeit) nicht zugänglich.

Übrig blieben also nur ein paar „Räume der Geschichte“, womit sich die 2015 formulierte Vorahnung von Gudula Walterskirchen2 bestätigt hat. Gezeigt wird in diesen Räumen bis 17. Mai 2020 eine Eröffnungsausstellung mit dem Titel „Aufbruch ins Ungewisse – Österreich seit 1918“, von dem nicht klar ist, ob er sich auf den Film „Aufbruch ins Ungewisse“ aus dem Jahr 2017 bezieht. Die Vorgeschichte des HdGÖ lässt sich im „Haus der Geschichte Marathon“, einem im Eingangsbereich platzierten Spiel, nachvollziehen.

Deutlich konfliktfreier erfolgte die Gründung des „Hauses der Geschichte Niederösterreich“, das Teil des „Museum Niederösterreich“ ist. Dieses war 1903 als Niederösterreichisches Landesmuseum gegründet worden und hatte 2002 einen Neubau in St. Pölten bezogen. Dort wurden jedoch zunächst nur Dauerausstellungen zu den Bereichen Kunst und Natur gezeigt – eine etwas unbefriedigende Situation, zumal in den anderen Landesmuseen in Dauerausstellungen auf die Landesgeschichte eingegangen wird (freilich in unterschiedlicher Form). Die Möglichkeit, auch in St. Pölten eine historische Dauerausstellung einzurichten, ergab sich durch einen Beschluss des Landestages vom 10. April 2014, die Kunstmeile in Krems zu erweitern und die in St. Pölten gezeigte Kunstausstellung dahin zu übersiedeln.

Die niederösterreichische Landesregierung (zu diesem Zeitpunkt eine ÖVP-Alleinregierung) sah eine neue historische Ausstellung in St. Pölten von Beginn an als Alternativmodell zu den (damals) nicht verwirklichten Plänen des Bundes, ein „Haus der Geschichte“ zu gründen. Der damalige Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP) meinte bei der Präsentation des Projekts 2014: „Ich will nicht oberlehrerhaft die Entwicklung auf Bundesebene kommentieren. Aber wir sind es nicht gewohnt, auf andere zu warten, sondern zu handeln.“3 Die Konzipierung des neuen HGNÖ erfolgte durch einen wissenschaftlichen Beirat, der rund 90 Personen umfasste. Im von diesem erarbeiteten Konzept wurde deutlich gemacht, dass man sich nicht auf Niederösterreich beschränken sollte: Das Landesmuseum sollte zu einer „Plattform für die Auseinandersetzung mit der Geschichte Niederösterreichs, Österreichs und seiner Bezüge zu Zentraleuropa“ weiterentwickelt werden.4

Die Absiedelung der Kunstsammlung schuf für das HGNÖ ausreichend Platz: Für die Dauerausstellung stehen rund 3.000 m² zur Verfügung, gezeigt werden circa 1.500 Objekte.5 Seit 10. September 2017 ist das neue „Haus der Geschichte Niederösterreich“ (HGNÖ) geöffnet.

Dem HdGÖ steht deutlich weniger Ausstellungsfläche zur Verfügung (750 m²), es zeigt in seiner Eröffnungsausstellung aber dennoch mehr Objekte, nämlich 1.905.6 Das Bundesmuseen-Gesetz (BGBl. I Nr. 20/2016) legt fest, dass sich das HdGÖ auf die Zeit ab 1918 konzentrieren, aber die Geschichte vor der Gründung der Republik mitberücksichtigen soll. Diese Vorgabe erfüllend werden im ersten Ausstellungsraum die Geschichte des Wahlrechts, das Ende der Habsburgermonarchie, die Gründung der Republik Österreich 1918 und das sogenannte „Erbe“ der Habsburgermonarchie thematisiert. Der Raum wird dominiert von den beiden existierenden Filmaufnahmen zur Ausrufung der Republik am 12. November 1918 (vom Parlament auf den Ring und vom Ring zum Parlament), die einander gegenübergestellt sind.

In den beiden Ausstellungsräumen zur Geschichte zwischen 1918 und 2018 findet sich eine Kombination eines chronologischen und eines thematischen Zugangs: Die 60-Meter lange Installation „Macht Bilder!“ auf der rechten Wand bietet einen chronologischen Überblick, der insbesondere von großformatigen Plakaten dominiert wird, die teilweise bis an die Decke reichen. Im unteren Bereich werden in Nischen einige Aspekte vertieft, beispielsweise „1987–1995: Österreichisches Musikfernsehen: Austropop im ORF-Wurlitzer“, wo auch die in der TV-Sendung verwendete Jukebox ausgestellt ist. Die Gliederung von „Macht Bilder!“ nach den 8er-Jahren (von 1918 bis 2018) passte zum Gedenkjahr 2018, irritiert aber in der Folgezeit (die Ausstellung läuft immerhin bis Frühjahr 2020) etwas. Positiv fällt jedoch auf, dass auch Themen in den Blick genommen werden, die bislang der Boulevardpresse überlassen wurden, wie der Umgang mit Bettlerinnen und Bettlern.

Abb. 1: Installation „Macht Bilder!“
(Foto: hdgö)

Abb. 2: ORF-Wurlitzer
(Foto: hdgö)

Die restliche Ausstellungsfläche in diesen beiden Räumen wurde thematisch gegliedert. Dabei gelang es dem HdGÖ, auf Aspekte einzugehen, die bislang in Ausstellungen bzw. Museen in Österreich kaum oder gar nicht präsent waren. Beispielsweise ist eine Regenbogenfahne ausgestellt, mit der eine Straßenbahn während der Wiener Regenbogenparade 2002 geschmückt war. Besonders viel (der insgesamt sehr geringen) Ausstellungsfläche wurde dem Bereich „Diktatur, NS-Terror und Erinnerung“ gewidmet, in dem sich auch das größte Exponat der Ausstellung findet: Das vier Meter hohe sogenannte „Waldheim-Pferd“ wurde im Frühjahr 1986 vom Künstler Alfred Hrdlicka angefertigt und war bei Demonstrationen gegen Kurt Waldheim im Einsatz. Die Debatten um die Kriegsvergangenheit Waldheims, die im Zuge seiner Kandidatur für das Bundespräsidentenamt begannen, gelten heute als Beginn einer kritischen Aufarbeitung der NS-Zeit in Österreich. Die Größe des Objekts bringt eine thematische Schwerpunktsetzung mit sich und lenkt die Aufmerksamkeit auf dieses bislang in der Öffentlichkeit eher marginalisierte Thema. Marcus Gräser vermerkt jedoch zurecht, dass im Vergleich zur Behandlung der Gedenkkulturen die NS-Zeit selbst eher knapp behandelt wird.7

Abb. 3: Waldheim-Pferd
(Foto: Hertha Hurnaus)

Auch andere für die Geschichte Österreichs bedeutsame Themen kommen in „Aufbruch ins Ungewisse“ deutlich zu kurz oder werden gar nicht erwähnt. Dies betrifft insbesondere die Außenpolitik – dass Wien 1986–1989 Standort der dritten KSZE-Nachfolgekonferenz war, bei der für die folgende Umbruchphase in Europa weitreichende Beschlüsse getroffen wurden, wird beispielsweise ausgeblendet.

An manchen Stellen der Ausstellung führt der thematische Zugang zu einer Engführung von Themen bzw. zu einem kaum nachvollziehbaren historischen Vergleich: Im Ausstellungsbereich „Spielfeld/Špilje 1991|2015 – Grenzen schützen“ werden der Slowenienkrieg und die Flüchtlingskrise von 2015 thematisiert. Die Objekte (beispielsweise Fotos und Zeitungscovers vom Juni 1991 und eine Warnweste einer freiwilligen Helferin mit arabischen Schriftzeichen aus dem Jahr 2015) verweisen ausschließlich auf die Geschehnisse an der Grenze, womit die historischen Ereignisse sehr verkürzt dargestellt werden.

Außerdem ist die Anordnung der Themen nicht an allen Stellen nachvollziehbar. So werden in den ersten Vitrinen des zweiten Ausstellungsraums die österreichische EU-Ratspräsidentschaft und der Euro thematisiert – warum erst im weiteren Verlauf des Bereichs „Wunder Wirtschaft?“ auf die ökonomischen Probleme der 1920er-Jahre und die Einführung des Schillings eingegangen wird, ist unklar. Gelungen ist hingegen die Platzierung des Ausstellungsbereichs „Diktatur, NS-Terror und Erinnerung“ in räumlicher Nähe zur Thematisierung der Jahre 1933–1945 in der Installation „Macht Bilder!“. In diesem Ausstellungsbereich wird auch der umstrittenste Abschnitt der österreichischen Zeitgeschichte (die Jahre 1933–1938) behandelt: In der gelungenen Installation „Diktatur der vielen Namen“ werden die Verwendungszusammenhänge sowie Vor- und Nachteile der Begrifflichkeiten erklärt, die diesen Zeitabschnitt beschreiben, u.a. „Austrofaschismus“ und „Ständestaat“. Die in der Ausstellung verwendete Formulierung „Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur“ wirft jedoch neue Fragen auf, u.a. nach der Zulässigkeit, das System (das jedenfalls nicht demokratisch war, aber doch wesentliche Unterschiede zur NS-Diktatur aufwies) auf die beiden Personen zu reduzieren, die an der Spitze des Staates standen. Hier und an zahlreichen weiteren Stellen fällt außerdem eine starke Konzentration auf Österreich auf, eine stärkere Berücksichtigung der europäischen und globalen Verflechtungen wäre wünschenswert.8

Während sich das HdGÖ auf die Zeitgeschichte konzentriert, bietet das HGNÖ einen Überblick vom Beginn der ersten menschlichen Besiedelungen im Raum des heutigen Niederösterreich bis zur Gegenwart. Dabei ist es gelungen, trotz einer thematischen Gliederung, den Nachvollzug der chronologischen Entwicklung zu ermöglichen.

Besonders innovativ ist der selbstreflexive Zugang im ersten Ausstellungsraum. Dort werden zunächst grundlegende Informationen über die Einteilung von Zeit und die Entstehung der Geschichtsschreibung vermittelt. Im Bereich „Zeugen der Vergangenheit“ wird daraufhin die Überlieferung von Exponaten thematisiert, wobei auf die Grenzen der wissenschaftlichen Deutung ebenso verwiesen wird wie auf die Aufgabe von Museen. Dies wird beispielsweise anhand von Keramikfunden aus der Hallstadtzeit veranschaulicht, deren Funktion von der Wissenschaft noch nicht geklärt werden konnte. Die Besucherinnen und Besucher werden hier eingeladen, diese selbst zu deuten.

Abb. 4: Ausstellungsbereich „Im Fluss der Zeit“
(© Klaus Pichler)

Später in der Ausstellung wird auf die Instrumentalisierung der Geschichtsschreibung für politische Ideen verwiesen, wobei auch die Betonung der „eigene[n] ‚österreichische[n]‘ Geschichte“ im Zuge der „Ostarrîchi-Gedenkfeier 1946“ problematisiert und die Entstehung des niederösterreichischen Landesmuseums erklärt wird. Die im HGNÖ präsentierte Geschichtsdarstellung wird also nicht als allgemeingültig präsentiert – an verschiedenen Stellen der Ausstellung wird deutlich auf den Konstruktcharakter jeglicher Geschichtsschreibung hingewiesen.

Die Anordnung der Objekte ermöglicht außerdem einen multiperspektivischen Blick auf die Geschichte. Beispielsweise wird der Prunk des Kaiserhauses (gezeigt werden u.a. ein kaiserlich-österreichischer Doppeladler um 1900 und eine Schützenscheibe zum „Huldigungs-Festschießen“ in Baden aus dem Jahr 1901) mit einer Installation zu den Entwicklungen nach der Revolution von 1848 kontrastiert.

In der Ausstellung fallen außerdem zahlreiche Gegenwartsbezüge auf: So wurde ein Kinderwagen aus dem Jahr 1945 einem gegenübergestellt, der 2015 in Nickelsdorf entdeckt wurde und dessen Inhalte (griechische Babynahrung, in Rumänien hergestellte Feuchttücher, ein serbisches Busticket, eine kroatische Milchpackung, ungarisches Trinkwasser und die Hülle einer österreichischen SIM-Karte) die klassische Fluchtroute des Sommers 2015 über Griechenland, den Westbalkan und Ungarn nach Österreich belegen.

Abb. 5: Ausstellungsbereich „Flucht und Wanderung“
(© Klaus Pichler)

Zentrale Elemente der ersten Sonderausstellung „Die umkämpfte Republik“, die bis März 2019 lief, werden 2020 in den Ausstellungsbereich „Im Gleichschritt in den Untergang“ integriert. Neben einer detailreicheren Thematisierung der Jahre 1918–1938 in der Dauerausstellung wäre es wünschenswert, wenn im Zuge dieser Bearbeitung auch der Erste Weltkrieg als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ hervorgehoben werden könnte.

Das HGNÖ ist jedenfalls in der angenehmen Situation, auf die Landessammlungen Niederösterreich (rund sechs Millionen Objekte) zurückgreifen zu können, was auch zu späteren Zeitpunkten Ergänzungen in der Ausstellung ermöglicht. Darüber hinaus wurden einige Objekte angekauft (wie beispielsweise eine Habsburg-Sammlung des Wiener Gastronomen Mario Plachutta) und im Zuge einer Sammelaktion kamen zahlreiche alltagsgeschichtliche Exponate in die Sammlung. Außerdem wurden 2015 gezielt Objekte zum Themenkomplex Migration gesucht und gefunden.

Die im HGNÖ konstruierte Narration geht klar von den Objekten aus. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Im Ausstellungsbereich „Macht – Gegenmacht“ ist ein „Ständeschrank“ aus dem Jahr 1636 ausgestellt. Es handelt sich, wie man aus dem Objekttext erfahren kann, um das „älteste noch vorhandene mobile Einrichtungsstück aus dem Landhaus“ in der Wiener Herrengasse, das 1513 von den niederösterreichischen Landständen erworben wurde. Das Objekt verweist aber auf viel mehr als nur die Geschichte der Landstände: Gezeigt werden können von diesem Schrank nämlich nur mehr das Unterteil und der Aufsatz – im Ausstellungstext wird erklärt, dass der Mittelteil „während der Kriegsereignisse 1945 am Bergungsort verloren“ ging.

Abb. 6: Ständeschrank
(Foto: Haus der Geschichte Niederösterreich)

Die meisten der knapp 2.000 gezeigten Objekte im HdGÖ sind hingegen Leihgaben. Das der Einrichtung zur Verfügung stehende Sammlungsbudget von nur 150.000 EUR9 und die geringe Vorbereitungszeit machten es unmöglich, eine große Sammlung aufzubauen und diese Objekte auch zu beforschen, wie es beispielsweise dem „Deutschen Historischen Museum“ in seiner Gründungszeit möglich war.10 Das HdGÖ entschied sich auch klar gegen Sammelaufrufe – man kann vermuten, dass dies mit dem geringen Personalstand zu tun hat, der eine seriöse Betreuung von zahlreich einlangenden Objekten nicht ermöglicht hätte.

In „Aufbruch ins Ungewisse“ hätten aber wohl ohnehin keine weiteren Objekte Platz gehabt. Die geringen Ausstellungsflächen wurden bis zum Rand gefüllt. Im Gegensatz zur Ausstellung in St. Pölten kommen dadurch viele der teils hochinteressanten Exponate nicht zur Geltung. Ein Spanischer Reiter als Absperrgitter (um 1933) wird beispielsweise zusammengefaltet präsentiert – das Objekt kann nur über seine Beschriftung identifiziert werden.

Im HGNÖ stehen die Vitrinen vor allem in den ersten Ausstellungsbereichen etwas zu dicht, doch im weiteren Verlauf der Ausstellung kommen die Objekte zur Geltung und es finden sich auch einige größere Exponate – allen voran die Einrichtung eines Klassenzimmers aus dem Jahr 1892, die von den Besucherinnen und Besucher auch benützt werden kann, und ein Wachturm von der Grenzanlage des ehemaligen „Eisernen Vorhangs“.

Abb. 7: Schulklasse
(© Foto: Daniel Hinterramskogler)

Auffällig und besonders innovativ ist die Platzierung von Räumen für die Kulturvermittlung innerhalb der Ausstellung. Schulklassen und andere Gruppen werden damit nicht der Ausstellung verwiesen, sondern lernen in dieser und bleiben damit in unmittelbarer Nähe der Objekte. Eine solche Möglichkeit ist im HdGÖ bestenfalls im letzten Ausstellungsbereich gegeben, im Rest der Ausstellung gibt es nicht einmal genug Raum, um einen Sitzkreis zu bilden. Für die Vermittlung steht ein eigener Raum zur Verfügung.

Abb. 8: Forum Central
(© Haus der Geschichte Niederösterreich, Foto: Klaus Pichler)

In beiden Ausstellungen finden sich viele Texte, die sicher von keiner Besucherin bzw. keinem Besucher vollständig gelesen werden können – sie sind vielmehr als Zusatzangebot zu verstehen. Diese bieten in beiden Ausstellungen Erklärungen zu den historischen Zusammenhängen; bei manchen Objekten wird auch auf die Objektgeschichte eingegangen.

Positiv sind in beiden Ausstellungen auch die Möglichkeiten, sich mit Themenkomplexen näher zu befassen, wozu es insbesondere zahlreiche Medienstationen gibt. Im HGNÖ werden beispielsweise zur ständischen Gesellschaft im Mittelalter auf Bildschirmen verschiedene Quellen und Zusatzinformationen angeboten. Irritierend sind hier jedoch die Beschriftungen der symbolhaften Figuren: „Bauer“, „Außenseiter“, „Bürger“, „Grundherren“, „Landesherr“ – hier würde man sich doch wünschen, dass auch die weiblichen Formen genannt werden. Die Verwendung des generischen Maskulin im HGNÖ ist eine ebenso unbefriedigende Lösung wie das Binnen-I im HdGÖ. Warum die beiden Institutionen, die sich in ihren Vermittlungsprogrammen auch an Schulklassen der Sekundarstufe I richten, nicht der Empfehlung des Bildungsministeriums gefolgt sind, derzufolge beide Geschlechter explizit genannt werden sollen, ist nicht nachvollziehbar.11

Abb. 9: Ausstellungsbereich „Macht – Gegenmacht“
(Foto: Haus der Geschichte Niederösterreich)

Im HdGÖ fallen darüber hinaus verschiedene Möglichkeiten zur Partizipation positiv auf. Im Bereich „Macht Bilder!“ findet sich beispielsweise ein Stapel von Fragen, die die Geschichte aufwirft – die Besucherinnen und Besucher werden eingeladen, eine zu ziehen, womit eine Diskussion zu den Ausstellungsinhalten initiiert werden kann. Den letzten Teil der Ausstellung, genau genommen eine Wandfläche, gestalten die Besucherinnen und Besucher selbst: Diese werden eingeladen, Antworten auf die Frage „Wofür lohnt es sich zu kämpfen?“ in Form von Klebezetteln in der Ausstellung zu hinterlassen. Die Besucherinnen und Besucher werden außerdem gebeten, Bilder und Filme zu verschiedenen Themen zur Verfügung zu stellen, beispielsweise zum „Häuslbauen in den 1960er und 1970er Jahren (vom Kauf des Grundstücks bis zum Einziehen)“. Es ist schade, dass sich dieser Sammelaufruf nicht auf dreidimensionale Objekte erstreckt, denn gerade solche sind in der Ausstellung unterrepräsentiert, während Fotos ohnehin bereits in Massen gezeigt werden. Kritisch ist die Selfie-Station in der Ausstellung zu sehen: Die Besucherinnen und Besucher werden eingeladen, sich auf einem Seilbahnsessel vor dem Foto einer Bergkulisse zu fotografieren – hier wird das Bild von Österreich klischeehaft auf Berge bzw. die Landschaft reduziert.

Abb. 10: Selfie-Station
(Foto: Hertha Hurnaus)

Trotz mancher Verbesserungsmöglichkeiten im Detail ist festzuhalten, dass beide Ausstellungen zur kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anregen und sich damit klar gegen die bis weit ins 20. Jahrhundert verbreitete Vorstellung von Museen als Orten der Formulierung und Tradierung nationaler „master narratives“ stellen.

Ziel des HdGÖ sei es, wie die Direktorin Monika Sommer-Sieghart bei mehreren Gelegenheiten betonte, ein Diskussionsforum zu sein. Dies ist sicherlich gelungen, zumal in allen Ausstellungsbereichen die Relevanz von historischen Entwicklungen für die Gegenwart aufgezeigt wird. Allerdings wurden der Einrichtung nur wenige Räumlichkeiten und sehr geringe finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, sodass diese nicht so arbeiten kann, wie es in größeren historischen Museen üblich ist: Die aktive Sammeltätigkeit beschränkte sich bislang auf wenige dreidimensionale Objekte und die Aufrufe an die Bevölkerung überhaupt nur auf Fotos und Filme; die im Vorfeld geäußerten Kritiken, dass die Entwicklungen ab 1918 ohne Blicke auf die Geschichte der Habsburgermonarchie schlecht verständlich sind, wurden (von der Geschichte des Wahlrechts abgesehen) kaum berücksichtigt. Es bleibt abzuwarten, ob sich aus den drei „Räumen der Geschichte“ eines Tages ein „Haus der Geschichte“ – im Idealfall ein „Haus der Geschichte Österreichs“ – entwickeln kann. Nachdem kurz vor der Eröffnung von politischer Seite der Wunsch geäußert wurde, künftig den Titel „Haus der Republik“ zu verwenden, ist derzeit jedoch eine weitere Engführung zu befürchten. Über die Zukunft des HdGÖ wird nun in einer von Kulturminister Gernot Blümel (ÖVP) beauftragten Expertenkommission diskutiert; die Öffentlichkeit wurde nur in Bezug auf die künftige Nutzung des sogenannten „Hitler-Balkons“ zur Diskussion eingeladen.

Das „Haus der Geschichte Niederösterreich“ ist hingegen bereits ein Ort des Bewahrens, der Forschung und der Ausstellung von Objekten. Dies gelingt in St. Pölten, obwohl die Sammlung nicht dem Museum gehört, sondern dem Land Niederösterreich direkt unterstellt ist. Zwar werden im HGNÖ die Themenkomplexe hauptsächlich anhand von Objekten aus Niederösterreich bzw. mit niederösterreichischen Beispielen gezeigt, doch gelten viele Phänomene gleichermaßen oder sehr ähnlich für ganz Österreich und Mitteleuropa. Zumindest bis zur Weiterentwicklung des Wiener Projekts bietet das HGNÖ die facettenreichste Dauerausstellung zur Geschichte Österreichs.

Anmerkungen:
1 Zu den Debatten um ein Haus der Geschichte und die Vorläuferprojekte vgl. u.a. Andrea Brait, Fragen zum Verbleib von Expertisen. Zur Engführung der Diskussionen um ein Haus der Geschichte Österreich, in: Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Haus? Geschichte? Österreich? Ergebnisse einer Enquete über das neue historische Museum in Wien, Wien 2016, S. 269–297.
2 Vgl. Gudula Walterskirchen, Haus der Geschichte: Wer hat die Deutungshoheit über die Historie?, in: Die Presse, 21.09.2015, S. 31.
3 Thomas Trenkler, Sammlermuseum in Krems und Haus der Geschichte, in: Der Standard, 28.03.2014, S. 27.
4 Haus der Geschichte. Museum Niederösterreich. Konzept, S. 4 bzw. S. 7.
5 Vgl. E-Mail von Christian Rapp an die Verfasserin, 26.07.2017.
6 Vgl. Eröffnung Pressekit, downloadbar unter https://www.hdgoe.at/eroeffnung_pressekit (02.12.2018).
7 Vgl. Marcus Gräser, Große Ambition auf kleinem Raum. Das Haus der Geschichte Österreich, in: neues museum 19/1, S. 62–69, hier S. 66.
8 Vgl. ebd.
9 Vgl. Protokoll Sitzung des Publikumsforums – Haus der Geschichte Österreich, 23.05.2017.
10 Im ersten Jahr seines Bestehens (1986) standen dem Museum 250.000 DM zur Verfügung, im Jahr 1987 war es bereits 1 Million DM; 1988 wurde der Etat auf fünf Millionen DM erhöht, ab 1989 sollten es jährlich zehn Millionen DM sein. Vgl. u.a.: Brigitte Mohr, Zu viel gewollt?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.1986; Grundkonzept für Deutsches Museum, in: Die Welt, 25.06.1987.
11 Vgl. Geschlechtergerechtes Formulieren, https://bildung.bmbwf.gv.at/ministerium/rs/formulieren_folder2012_7108.pdf?4e4zxz (03.12.2018).

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