June 4th Museum

Veranstalter
Hongkong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China
Ort
Hongkong
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.04.2019 -
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Daum, FernUniversität in Hagen

Die unvergesslichen Bilder vom tragischen Ende der chinesischen Demokratiebewegung im Frühjahr 1989, die durch die Pekinger Nacht peitschenden Schüsse der „Volksbefreiungsarmee“, die von Panzern niedergewalzten Menschen, die zahlreichen Verletzten – all dies wirkt nun wie ein beunruhigendes Echo aus der Vergangenheit auf die Besucher/innen eines neu eröffneten Museums in Hongkong ein. Pünktlich zum 30. Jahrestag der blutigen Niederschlagung der Proteste rund um den Tian’anmen-Platz in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 hat die Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China das „June 4th Museum“ wiedereröffnet. Bei den Betreibern des Museums handelt es sich um eine zivilgesellschaftliche Initiative, die sich seit den Ereignissen von 1989 für einen Demokratisierungsprozess in ganz China einsetzt. Die auf chinesischem Boden einzigartige museale Dokumentation des Tian’anmen-Massakers litt seit ihrer Entstehung 2012 unter etlichen Umzügen und mehrjähriger Schließung, die durch vermutlich von der Pekinger Parteiführung gesteuerte technische Sabotage- und strafrechtliche Einschüchterungsmaßnahmen erzwungen wurden. Nun konnte die Initiative das Museum am 26. April 2019 in eigenen Räumlichkeiten in einem unscheinbaren Geschäftshaus im Herzen Mongkoks neu eröffnen1; angesichts der prompt aufflammenden Proteste angeblicher Anwohner und der anhaltenden strafrechtlichen Verfahren gegen die Betreiber erscheint sein Fortbestand aber höchst unsicher.2

Mit ihrer Ausstellung möchte die Hong Kong Alliance einen Beitrag zum Gedenken an die „Märtyrer“ von 1989 leisten, „um den Stab weiterzugeben“ und zur Entwicklung einer gerechten Gesellschaft beizutragen.3 Zu diesem Zweck ist neben der Öffentlichkeit explizit auch die chinesische Regierung aufgerufen, aus der Geschichte im Sinne der angestrebten gesellschaftlichen Reform zu lernen. Bekanntlich verhindert der Zensurapparat in Festlandchina bis heute jegliche öffentliche Erörterung der Demokratiebewegung von 1989. Gerade deshalb zielen die Ausstellungsmacher auf den Besucherkreis der Festlandchinesen, die in stetig wachsender Zahl in die Sonderverwaltungszone reisen. Dass sich mit dem auf Chinesisch als „Gedenkstätte an den 4. Juni“ bezeichneten Museum auch aktuelle politische Zielsetzungen der Hong Kong Alliance verknüpfen, wird noch zu sehen sein. Eine Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand zur chinesischen Demokratiebewegung von 1989, soviel sei vorweggenommen, ist nicht intendiert.4


Abb. 1: Eingangsbereich der Ausstellung
(Foto / Copyright: Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China, https://64museum.blogspot.com)_

Der beschriebene pädagogische Anspruch und die politische Mission treten in der inhaltlichen Gestaltung sichtbar zutage. Zunächst einmal überrascht das Museum, wenn man es im 10. Stock des besagten Geschäftshauses endlich aufgespürt hat, mit seiner bescheidenen räumlichen Kapazität. Die kleine Ausstellungsfläche ist mit einigen Vitrinen bestückt, die die Exponate im engeren Sinn beherbergen; den meisten Platz beanspruchen 16 Stelltafeln, deren zweisprachige Texte die Ausstellung thematisch strukturieren. Hinzu kommt ein Monitor, auf dem das freundliche Museumspersonal auf Wunsch mehrere Dokumentarfilme (zum Teil mit englischen Untertiteln) abspielt, die die Bilder und Geräusche jener Nacht zum 4. Juni 1989 wiederaufleben lassen. Eine kleine Bibliothek mit chinesischsprachiger Literatur zum Thema, weiterem dokumentarischen (Foto-)Material, aber auch Broschüren und Flugblättern zu aktuelleren politischen Fragen, rundet die Ausstellung ab.


Abb. 2: Fotowand mit Eindrücken vom Tian’anmen-Platz im Mai 1989
(Foto: Werner Daum / Copyright: Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China)

Dem ausgestellten historischen Material begegnet man gleich zu Beginn der Ausstellung in Form einer Fotowand, die mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen den Entstehungshintergrund und die Wirkungsgeschichte der Demokratiebewegung von 1989 thematisiert. Ins Auge fällt die soziale und geografische Breite der Bewegung, der sich auf den Straßen der Hauptstadt zum Beispiel die Richterschaft anschloss (Aufnahme vom 18. Mai 1989) und die simultane Massendemonstrationen etwa in Macau und Hongkong auslöste (20. bzw. 21. Mai 1989). Das im Bibliotheksbereich einsehbare Fotoalbum überrascht mit eindrucksvollen Farbaufnahmen, darunter ein Bild vom 21. April 1989, das in die jugendlichen Gesichter der vor der „Großen Halle des Volkes“ versammelten studentischen und uniformierten Vertreter ein und derselben Generation blicken lässt.

In den Vitrinen ist zum einen historisches Schriftgut ausgestellt, das handgeschriebene Flugblätter und gedruckte Pamphlete der Demokratiebewegung von 1989 sowie die begleitende Berichterstattung der zeitgenössischen Presse umfasst. So lässt sich an der täglichen Schlagzeilenverdichtung im „Standard“ oder in der „South China Morning Post“ das Stakkato der eskalierenden Ereignisse eindrucksvoll nachlesen. Beides waren englischsprachige Hongkonger Tageszeitungen, die als wichtige Publikationsforen dienten (die „South China Morning Post“ existiert bis heute und ist ein verlässliches, nicht propagandistisch verzerrtes Blatt). Zum anderen ist ein Großteil der Vitrinen wenigen ausgewählten Opfern und Aktivisten der Bewegung gewidmet, darunter Söhnen der „Tian’anmen-Mütter“5, welche die hier ausgestellten persönlichen Gegenstände von Festlandchina nach Hongkong geschmuggelt und dem Museum zur Verfügung gestellt haben. Dargeboten werden zum Beispiel die „Relics of Wu Xiangdong“ (1968–1989), eines Arbeiters, Abendschülers und Hobbyfotografen, der die Demokratiebewegung auf seiner letzten Filmrolle festhielt, bevor ihn am 4. Juni 1989 in Beijing im Alter von 21 Jahren die tödliche Kugel traf; oder die Habseligkeiten des Oberschülers Wang Nan (1970–1989), der am selben Tag mit 19 Jahren an einem Kopfschuss starb, dessen Spuren sich auf seinem hier ausgestellten Motorradhelm wiederfinden. Erinnert wird auch an Zhang Jian (1970–2019), einen Vertreter des studentischen Wachpersonals auf dem Tian’anmen-Platz, der von drei Schüssen getroffen überlebte, 2001 ins Pariser Exil ausreiste, aber am 18. April 2019, wenige Tage vor der Hongkonger Ausstellungseröffnung, unter rätselhaften Umständen in einem Münchener Krankenhaus verstarb.


Abb. 3: Habseligkeiten von Wu Xiangdong, der am 4. Juni 1989 erschossen wurde
(Foto: Werner Daum / Copyright: Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China)

Den Abschluss dieses den verstorbenen Aktivisten der Demokratiebewegung gewidmeten, mitunter makaber anmutenden Arrangements bilden die Kleidungsstücke, die Li Wangyang (1950–2012), ein Arbeiterführer aus Hunan, kurz vor seinem angeblichen Selbstmord nach 22-jähriger Inhaftierung trug. Eingerahmt wird diese Ausstellungssektion von einem die Vitrinen überspannenden Transparent und einem mit den hingekritzelten Namen der damaligen Aktivisten völlig bedeckten T-Shirt der Peking-Universität.


Abb. 4: T-Shirt der Peking-Universität mit den Unterschriften der Aktivisten von 1989
(Foto: Werner Daum / Copyright: Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China)

Die 16 Stelltafeln informieren auf Chinesisch und Englisch über die Hintergründe, den Verlauf und die Wirkungsgeschichte der Demokratiebewegung von 1989. Sie verweisen auf die äußerst widersprüchlichen Opferzahlen und dokumentieren anhand von Augenzeugenberichten die Pekinger Ereignisse am 3. und 4. Juni 1989. Zudem berichten sie über die nachfolgende Verurteilung, dann Tabuisierung des Geschehens durch die chinesische Regierung sowie die noch im Juni 1989 landesweit einsetzenden Repressionsmaßnahmen (27 Hinrichtungen und mindestens 5.000 Inhaftierungen bis Juli 1989). Ein in der betreffenden Vitrine ausgestellter Namensordner listet die verhafteten und hingerichteten Aktivisten der Bewegung auf. Weiterhin finden sich zahlreiche innerchinesische Initiativen gewürdigt, allen voran die „Tiananmen-Mütter“, aber auch viele andere zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich bis heute um eine öffentliche Aufarbeitung der Ereignisse von 1989 und eine Demokratisierung des politischen Systems bemühen. Mehrere Tafeln beziehen sich auch auf die – nicht zuletzt durch die Hong Kong Alliance bereits am 4. Juni 1989 initiierten – internationalen Solidaritätsaktionen, die seither an die Demokratiebewegung erinnern.

In dieser abschließenden Sektion öffnet sich die Ausstellung unter dem Motto „Defending Hong Kong“ der aktuellen Tagespolitik, indem sie die Erinnerung an die Ereignisse von 1989 in den breiteren Kontext der zivilgesellschaftlichen Bewegungen Hongkongs stellt, die seit dessen „Handover“ an China (1997) der autoritären Vereinnahmung der Sonderverwaltungszone durch die Pekinger Zentralregierung entgegentreten. Die Hong Kong Alliance war 1989 noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Demokratiebewegung in China entstanden, und bereits in dem Bewusstsein der acht Jahre später zu erwartenden Rückkehr der britischen Kronkolonie in die Volksrepublik. Somit geschieht es auch aus Sorge um die eigene Zukunft, wenn sich die Initiative seither mit langem Atem für die Erinnerung an die damalige Demokratiebewegung einsetzt.6 Aus diesem erinnerungspolitischen Engagement hat sie daher längst eine weitergehende politische Programmatik entwickelt, die auf die demokratische Umgestaltung des heutigen China zielt.7 So betrachtet die Vereinigung in ihrer Ausstellung die jüngste Hongkonger Wahlrechtsbewegung, die studentischen „Regenschirmproteste“ von 2014, in direkter Traditionslinie zur Bewegung von 1989. Diesen Zusammenhang postuliert auch eine mit der Datierung „8964“ versehene Installation, durch die der Künstler Kacey Wong die nach wie vor offene Wunde des 4. Juni 1989 visualisieren möchte. Auf den letzten Stelltafeln mündet das Narrativ in den breiten Strom des Transitionsparadigmas, um am Beispiel der Regimewechsel in Osteuropa, Tunesien, Taiwan, Südafrika, Argentinien, Chile und Südkorea (in dieser rätselhaften Reihenfolge) die Handlungsanleitung für eine künftig auch in China anzuwendende „Transformational Justice“ aufzuzeigen.

Die Ausstellung enthält einige inhaltliche Schwächen, die mit dem Umstand zu tun haben, dass den Verantwortlichen aufgrund ihres langjährigen politischen Engagements naturgemäß die nötige Distanz zum Gegenstand fehlt. Nichtsdestotrotz vermisst man eine konkretere zeitgeschichtliche Einordnung der Ereignisse auch vor globalgeschichtlichem Hintergrund: Über den innerchinesischen Zäsurcharakter des 4. Juni 1989 hinaus wird etwa die unmittelbare Wechselwirkung mit dem sowjetischen und osteuropäischen Reformprozess (Perestroika) nur angedeutet, aber nicht vertieft.8 Zudem hätten sich einige formale Unstimmigkeiten wie die unerklärliche, nicht chronologisch orientierte Abfolge der begleitenden Texttafeln vermeiden lassen. Leider sind die genaue Urheberschaft und der Entstehungshintergrund der ausgestellten historischen Fotos und Objekte oft nicht nachgewiesen; für Zahlenangaben (Todesopfer, Hinrichtungen, Inhaftierungen) fehlen in der Regel konkrete Quellenbelege.

So genügt die Ausstellung zwar nicht (geschichts)wissenschaftlichen Maßstäben und vermag mit dem Gegenstand vertrauten westlichen Besucher/innen kaum neue Erkenntnisse zur chinesischen Demokratiebewegung von 1989 zu bieten. Dennoch vermittelt sie einen tieferen Einblick in die jüngeren, zum Teil miteinander konkurrierenden zivilgesellschaftlichen Bewegungen in China (und Hongkong). Und das festländische Zielpublikum könnte durch die Konfrontation mit dem Geist von 1989 ein stärkeres Bewusstsein für das demokratische Defizit seines großen Landes erhalten.

Anmerkungen:
1 10/F, Ngai Wong Commercial Building, 11-13 Mong Kok Road, Mong Kok, Kowloon, Hong Kong.
2 Laufzeit und Öffnungszeiten der Ausstellung waren auf dem Eingangsschild des Museums zunächst begrenzt auf den Zeitraum 26. April bis 16. Juni 2019, 12–18 Uhr, wurden aber inzwischen auf unbestimmte Zeit erweitert (Di – So, 12–18 Uhr): June 4th Museum, About Us, The basics on the June 4th Museum, https://64museum.blogspot.com/p/about64m.html (28.06.2019).
3 June 4th Museum, About Us, June 4th Museum opening, https://64museum.blogspot.com (28.06.2019).
4 Dies kann daher auch nicht Gegenstand der vorliegenden Besprechung sein. Aus der umfangreichen Literatur zum Thema sei hier nur verwiesen auf Peter Li / Marjorie Li / Steven Mark (Hrsg.), Culture and Politics in China. An Anatomy of Tiananmen Square, New Brunswick 1991; Dingxin Zhao, The Power of Tiananmen. State-Society Relations and the 1989 Beijing Student Movement, Chicago 2001; Bao Pu u.a. (Hrsg.), Prisoner of the State. The Secret Journal of Zhao Ziyang, London 2009; Philip J. Cunningham, Tiananmen Moon. Inside the Chinese Student Uprising of 1989, Lanham 2009; Louisa Lim, The People’s Republic of Amnesia. Tiananmen Revisited, New York 2014.
5 Vgl. die außerhalb Chinas von einem Unterstützerkreis gehostete Internetpräsenz der Initiative: http://www.tiananmenmother.org (28.06.2019). Siehe hierzu auch Astrid Lipinsky, Chinas Mütter, Chinas Protestkultur und die Notwendigkeit des Erinnerns, in: China heute 28 (2009), Nr. 2 (162), S. 111–115, hier S. 114, http://www.sinojus-feminae.eu/pdf/LipinskyTiananmenMuetter.pdf (28.06.2019).
6 Jüngst rief die Initiative die Hongkonger Bevölkerung für den 26. Mai 2019 zur Teilnahme an einem „March for the 30th Anniversary of June 4“ auf und lud für den 4. Juni 2019 zum abendlichen „Candlelight Vigil“ in den Victoria Park. Vgl. Jennifer Creery, HKFP guide to Hong Kong events commemorating the 30th anniversary of the Tiananmen Massacre, in: Hong Kong Free Press, 26.05.2019, https://www.hongkongfp.com/2019/05/26/hkfp-guide-hong-kong-events-commemorating-30th-anniversary-tiananmen-massacre/ (28.06.2019).
7 Hong Kong Alliance in Support of Patriotic Democratic Movements of China, About Hong Kong Alliance, https://hka8964.wordpress.com/hkaeng/ (28.06.2019).
8 Vgl. dazu exemplarisch Ulf Engel / Frank Hadler / Matthias Middell (Hrsg.), 1989 in a Global Perspective, Leipzig 2015; Janick Marina Schaufelbuehl / Marco Wyss / Valeria Zanier (Hrsg.), Europe and China in the Cold War. Exchanges Beyond the Bloc Logic and the Sino-Soviet Split, Leiden 2018. Vor diesem Hintergrund versteht es sich von selbst, dass auch die Wirkungsgeschichte der chinesischen Demokratiebewegung von 1989 im Kontext der ostdeutschen Freiheitsbewegung (Furcht vor einer „chinesischen Lösung“) unberücksichtigt bleibt; siehe dazu u.a. Thomas Klein, „Frieden und Gerechtigkeit!“. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre, Köln 2007, S. 463–465.