Aux sources du Moyen Âge. Des temps obscurs?

Aux sources du Moyen Âge. Des temps obscurs?

Veranstalter
Musée d’histoire du Valais, Le Pénitencier, Sion
Ort
Sion
Land
Switzerland
Vom - Bis
15.06.2019 - 05.01.2020

Publikation(en)

Cover
Steiner, Lucie (Hrsg.): Aux sources du Moyen Âge. Entre Alpes et Jura de 350 à l’an 1000. Gollion 2019 : Infolio, ISBN 978-2-88474-426-3
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolas Hächler / Beat Näf, Historisches Seminar, Universität Zürich

Geschichte muss von lokalen Gegebenheiten ausgehen. Das gilt auch für die Geschichte des Frühmittelalters in der heutigen Westschweiz – eine vorurteilsbehaftete Zeit, die heute vielen als "dunkle" und undurchsichtige Phase der Geschichte gilt. Zu einer solchen Perspektive in der öffentlichen Wahrnehmung passt es, dass die Ausstellungsmacher Patrick Elsig, Direktor des Geschichtsmuseums Sitten, und Lionel Pernet, Direktor des Kantonalen Museums für Archäologie und Geschichte Lausanne, die neue Ausstellung in einem ehemaligen Gefängnis (Le Pénitencier) untergebracht haben. Sorgfältig gewählte kostbare Objekte aus (Schweizer) Museen zeugen von der Epoche des Frühmittelalters. Wer das Gefängnis betritt, wird von ihrer Ausstrahlung gleichsam gefangen genommen und – nach und nach beim Aufstieg über drei Stockwerke – von manchen Vorurteilen geläutert und befreit.

Der Übergang der Antike zum Mittelalter ist nicht einfach zu beschreiben, aber es gibt für ihn bemerkenswerte Quellen. Sie stehen im Mittelpunkt der Ausstellung. Für die Macht römischer Kaiser steht etwa das berühmte silberne Missorium Valentinians II. aus dem Musée d’art et d’histoire in Genf, einst ein Geschenk (Donativ) an Soldaten. Unscheinbar wirkt zunächst ein anderes Objekt, ein Ziegel aus Saint-Maurice d’Agaune: Er stammt vom Grab des Bischofs Heliodorus, der 585 am Konzil von Mâcon teilnahm. Lucie Steiner, wissenschaftliche Leiterin des Ausstellungsprojektes, rückt ihn im Katalog (S. 98f.) in den Zusammenhang der lokalen Ziegelproduktion. Historisch gesehen ist er ein bemerkenswertes Zeugnis für die historische Rolle der Bischöfe im Spannungsverhältnis zu Herrschern und Klöstern, so zum Kloster in Saint-Maurice d’Agaune, von wo aus die Mönche wenige Jahre zuvor den in Martigny residierenden Bischof Agricola attackiert hatten. Die Kirche, in der sich das Grab des Heliodorus befand (En Condémines) wird aktuell unter Leitung von Marie-Paule Guex, die gleichfalls Beiträge zu Katalog und Ausstellung beigesteuert hat, untersucht. Beide Objekte, das Missorium und der Ziegel, sind im ersten Stock im Kontext eines Geschichtsweges mit Karten und chronologischen Tafeln zu sehen. Davor finden sich im Erdgeschoss in einer Vitrine ältere und alte Publikationen, deren Verfasser sich in früheren Zeiten mit dem Frühmittelalter befasst haben. Eine herausragende Forscherpersönlichkeit, die freilich von der Ausstellung nicht eigens gewürdigt wird, war Bischof Marius Besson, Verfasser unter anderem des Buches „L’art barbare dans l’ancien diocèse de Lausanne“ von 1909.1

Die erste Etage bietet einen Überblick zur Geschichte des Raumes der heutigen Westschweiz im ersten nachchristlichen Jahrtausend. Das nächste Stockwerk thematisiert die Ausbreitung und Institutionalisierung des Christentums, wobei der Bischofsstab des heiligen Germanus aus dem Kloster Moutier-Grandval besonders in Szene gesetzt wird. Es handelt sich um den ältesten verzierten Krummstab, den wir kennen. Er kommt als Leihgabe aus dem Musée jurassien d’art et d’histoire in Delémont. Weniger gut zu sehen – es mangelt an der Beleuchtung – sind die ihm zugeschriebenen liturgischen Schuhe, die der Katalog aber mit einer Abbildung präsentiert (S. 158). Zuoberst angelangt erwarten Besuchende zahlreiche Objekte, die vom Leben im Frühmittelalter auf dem Gebiet der heutigen Westschweiz zeugen.

Leitfaden durch die Exposition sind die Bilder der Illustratorin Cecilia Bozzoli, welche die ausgestellten Objekte in ihren Werken gekonnt in die dargestellten Szenerien einbindet. Feine Ironie, Humor und Anspielungen gehören zu den Bildern und manchmal auch – bewusst und absichtlich? – Unhistorisches. Ein Bischof in frühchristlichem Ambiente etwa trägt ein spätmittelalterliches Gewand und ein Kreuz, wie es erst nach dem Zweiten Vatikanum in Gebrauch kam. Cecilia Bozzoli ist unter anderem durch eine Schweizer Geschichte in Form eines vierteiligen Geschichts-Comics bekannt, die sie zusammen mit ihrer Familie herausgegeben hat.2 Die Szenografie der Ausstellung – sie verdankt sich Raffaelle Gigg und seinem Team – hat die Bilder geschickt in ein Ganzes gefügt. Nicht so sehr die Invasion der Barbaren und die christliche Mission werden beschworen; vielmehr wird die materielle Kultur gezeigt. So bekommen wir eine Vorstellung vom Alltag, von Leben, Gräbern und Grabfunden, von Kultur und Wirtschaft, vom Münzwesen, von Mentalitäten, von den Bauten und damaligen technischen Möglichkeiten sowie vom Schreiben und von der Sprachentwicklung. Damit bietet die vielteilige Ausstellung reichhaltige Einblicke in die Resultate geschichtswissenschaftlicher und archäologischer Untersuchungen der letzten Jahrzehnte.

Zu wenig berücksichtigt werden in der Ausstellung hingegen die bahnbrechenden Forschungen der Mittelalterarchäologin und Schülerin Hans Rudolf Sennhausers Alesssandra Antonini (1958-2016), die sich insbesondere zwei Orten – Sion-sous-le-Scex und Saint-Maurice d’Agaune – gewidmet hat. Diese werden in der Exposition und im Katalog zwar vorgestellt, wären in ihrer historischen Bedeutung aber noch stärker zu gewichten gewesen: Die Begräbniskirche in Sion-sous-le-Scex aus dem 5. Jahrhundert belegt die großen Veränderungen des Totenkultes in der Spätantike, wie sie Augustin in seiner Schrift "Die Sorge für die Toten" (De cura pro mortuis gerenda) behandelt hat.3 In Saint-Maurice d’Agaune entstand um 380 ein Kloster von Männern und Frauen sowie ein Pilgerort. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts sorgte der Burgunderkönig Sigismund für eine Neugründung, deren neu entdeckte archäologische Spuren historisch noch zu würdigen sind.

Der Katalogband umfasst zahlreiche von namenhaften Autorinnen und Autoren verfasste Einzelartikel (Le Haut Moyen Âge, c’est quand? – Les lieux habités – Des ateliers aux marchés – Une nouvelle religion (man fragt sich, weshalb nicht auch den traditionellen Kulten ein Abschnitt gewidmet wurde) – Vivre ensemble – Espace culturel et création littéraire – Leur dernière demeure), die freilich einer anderen Gliederung folgen als die Ausstellung, was manchmal zu inhaltlichen Überschneidungen und Wiederholungen führt. Aus historischer Sicht sind insbesondere die Beiträge von Justin Favrod hervorzuheben. Er begleitet seine Ausführungen mit Karten, die sowohl im Katalog wie auch in der Ausstellung präsent sind und zum Teil von Christos Nüssli (Euratlas) erstellt wurden. Die Westschweiz beziehungsweise die damaligen römischen Provinzen in diesem Gebiet hätten sich demnach bis weit nach Norden erstreckt. Die Alemannen betrachtet Favrod als Inkursoren. Positiv werden von ihm und den Ausstellungsmachern die Burgunder gesehen, die der Heermeister Aëtius 443 in der Sapaudia ansiedelte. Die Produktion und Verbreitung von Texten behandelt der Philologe Éric Chevalley. Besonderes Augenmerk legt er etwa auf den Bericht zum Martyrium der Thebäischen Legion des Eucherius von Lyon (um 380 – ca. 450), Homilienfragmente des Bischofs Avitus von Vienne (um 460-518) sowie die inschriftliche Überlieferung. Die meisten Beiträge des Katalogbands gelten freilich der Archäologie sowie der Kunstgeschichte und präsentieren sowohl aktuelle Zusammenfassungen des Forschungsstandes als auch vereinzelte Neufunde und -bewertungen bereits bekannter Zeugnisse. Insgesamt bietet der Katalog damit einen wissenschaftlich fundierten sowie reich dokumentierten und vor allem illustrierten Überblick zu unterschiedlichen Aspekten des Frühmittelalters auf dem Gebiet der heutigen Westschweiz, sodass interessierte Besucherinnen und Besucher mit der Konsultation dieses Werkes wertvolle weiterführende Informationen erhalten.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es den Ausstellungsmachern gelingt, das vermeintlich dunkle Frühmittelalter auf dem Gebiet der heutigen Westschweiz durch die ausgestellten Objekte, darunter der berühmte Theuderich-Schrein, ein eindrucksvolles Reliquiar aus Saint-Maurice d’Agaune, von manchen Vorurteilen zu befreien und insbesondere dank der Bildwerke von Cecilia Bozzoli erhellend zu vergegenwärtigen. Zusammen mit dem Ausstellungskatalog bietet die aktuell in Sitten zu sehende Ausstellung damit eine brillante und ansprechende Synthese der Frühmittelalterforschung im Herzen Europas.

Anmerkungen:
1 Marius Besson, L’art barbare dans l’ancien diocèse de Lausanne, Lausanne 1909. Zur Wissenschaftsgeschichte vgl. im Ausstellungskatalog den Beitrag von Pierre Alain Mariaux, S. 112.
2 Jean-René Bory / Flavio Bozzoli / Cecilia Bozzoli / Federico Bozzoli, L'Historie suisse en bandes dessinées, 4 Bde., Neuchâtel 1981-1983.
3 Sancti Aureliani Augustini De cura pro mortuis gerenda, ed. Joseph Zycha (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 41), Wien 1900, S. 619-660.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch