Bildungsschock

Veranstalter
Haus der Kulturen der Welt
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.05.2021 - 11.07.2021

Publikation(en)

Cover
Holert, Tom; Haus der Kulturen der Welt (Hrsg.): Bildungsschock. Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren. Berlin 2020 : de Gruyter, ISBN 978-3-11-070126-5 303 S., zahlr. Abb. € 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fanny Isensee / Daniel Töpper, Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Ausstellungslogik und wissenschaftliche Diskussion können sich, wie in dieser Ausstellung, produktiv verbinden. Aber beide Felder behalten ihre eigenen Logiken bei. Die Ausstellungslogik zielt auf populäre Rezeption und Affekte, die Wissenschaft resümiert und deutet – so erklärt sich wohl die zunächst irritierende Diskrepanz zwischen Ausstellungstitel und historischer Interpretation, denn die Phase der 1960er- und 1970er-Jahre als „Bildungsschock“ zu rahmen, ist etwas irreführend. „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) und „Sputnik-Schock“ bzw. „Future Shock“ (Alvin Toffler) werden hier sicherlich wegen des zuspitzenden Effekts zusammengezogen, aber treffender wäre es, die Phase als „Bildungsaufbruch“ zu deuten. Wir haben es mit einer in diesem Umfang nie gekannten Bildungsexpansion zu tun, die nur vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West zu verstehen ist, weite Teile der sich stärker globalisierenden Welt umfasste sowie Bildung und ihre Institutionen für die Bemühungen um Hegemonie als zentral ansah. Zudem nimmt man den multiplen „Schock“ beim Betreten der Ausstellung zunächst nicht wahr, da dieser nur in zwei Stationen, rechts vom Eingang, explizit thematisiert wird. Die zweite Irritation betrifft das Ungleichgewicht zwischen den im Untertitel aufgerufenen Begriffen: Lernen im engeren wissenschaftlichen Sinne wird kaum adressiert. Nur selten blitzt dieser letzte Aspekt des Dreiklangs aus politischen Ambitionen, institutionellen oder räumlichen Arrangements und tatsächlicher Praxis in den Tätigkeiten des Lehrens und Lernens auf. Das ist auch einer der Gründe, weswegen die ambitionierten Reformprojekte oftmals nicht den erwarteten gesellschaftsverändernden Erfolg erreichen konnten – was die Ausstellung lediglich anreißt.


Abb. 1: Vom „Sputnik-Schock“ (1957) zum „Internationalen Jahr der Bildung“ (1970) – in der Mitte ein Architektur-Modell des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in der Ausstellung
(Foto: © Silke Briel / HKW)


Abb. 2: Raumeindruck der Ausstellung von oben. Die Überschrift „Das pädagogische Geflecht“ links im Bild verweist auf die bauliche Erweiterung der Freien Universität Berlin, die mit den rasch wachsenden Zahlen der Student:innen kaum Schritt halten konnte.
(Foto: © Fanny Isensee)

Der Bildungsaufbruch wird vor allem als architektonischer Aufbruch gefasst. Demgegenüber fehlen Positionen, die das Zusammenspiel von Lernen und Lernumgebung auch aus der Einflussrichtung der Pädagogik betrachten.1 In jedem Fall wurde die von dem Kunsthistoriker, Kritiker und Kurator Tom Holert konzipierte Schau, ausgehend von Vorarbeiten, die 2016 in Utrecht entstanden sind, stark aus einer architektonischen oder architekturhistorischen Perspektive gedacht. Um sich deren Rahmung und die Komposition der Ausstellung beim Beginn des Besuches zu vergegenwärtigen, empfiehlt es sich, die ausgeteilten Wegekarten und den rückseitig abgedruckten Einführungstext zur Kenntnis zu nehmen. Andernfalls kann sich schnell eine gewisse räumliche Orientierungslosigkeit ob der fast 40 Fallstudien einstellen, die separat stehen, aber auch miteinander kommunizieren.


Abb. 3: Betonmöbel und verwaister Mittelkreis – die Leerstelle im Zentrum der Ausstellung
(Foto: © Silke Briel / HKW)

Sehr gelungen ist das Zusammenspiel zwischen dem räumlichen Arrangement im Haus der Kulturen der Welt, das selbst in dieser Zeit entstand (als „Kongresshalle“ 1956/57 von den USA finanziert), und dem Ausstellungsaufbau: Der starke gestalterische Einsatz des Baustoffes Beton, die Modularität der Stationen und Einrichtungsgegenstände sowie die Wahl der Farben und Schriftarten funktionieren gut; sie vermitteln ein Gefühl für die Zeitumstände und Formen der Auseinandersetzung – und das, obwohl die in der Ausstellung gezeigten Betonmöbel jüngeren Datums sind, weil die damaligen Möbel anders als die sie umgebende Architektur eher auf Flexibilität und Beweglichkeit hin orientiert waren. Im großen hallenartigen Raum des HKW gruppieren sich schulformenübergreifende Bildungsinitiativen, -reformen, einflussreiche Institutionen, Denker:innen und Medien aus den beiden Jahrzehnten, die mehrheitlich auf die Bundesrepublik als Fixpunkt orientiert sind (stellenweise mit der DDR als Vergleichsfolie), aber um erfreulich viele osteuropäische und globale Reformgeschichten erweitert wurden: Man erfährt von den Versuchen einer revolutionärer Formierung des „Neuen Menschen“ in Guinea-Bissau, ist mit dem International Congress of Women Architects von 1976 in Iran ebenso befasst wie mit Alternativschulversuchen etwa aus Jugoslawien (Zagreb) und Brasilien (Natal). Eine Ost-West-Ordnung innerhalb der Ausstellung fehlt erfreulicherweise ebenso wie eine Trennung in „Erste“, „Zweite“ und „Dritte Welt“. Allerdings fällt im Hinblick auf die räumliche Ausdehnung die zu stark geballte Präsentation von „sowjetischen Campus-Exporten“ (nach Asien und Afrika), dem „National Institute of Design“ von Gira Sarabhai (Indien), dem nie realisierten „Bildungscampus einer Architektin“ (Zohreh Ghara Gosloo, Iran) sowie dem Thema „Campus-Moderne & Kolonialität“ (zur „Verflechtung von entschiedener Modernität und verdrängtem kolonialen Erbe“ in Kanada) negativ auf. Dies steht durchaus im Kontrast zu anderen, weitläufiger präsentierten Ausstellungselementen.

Während das Lernen als soziale Praxis der vernachlässigte kleine Bruder ist, markiert die architektonische Gestaltung und Raumgebung das Zentrum der meisten gezeigten Initiativen. Mit Ausnahme der medialen und publizistischen Beiträge sind alle Initiativen besonders im Hinblick auf ihre räumliche Struktur dargestellt – für uns ist der visuell interessanteste Beitrag das von der Historikerin Sónia Vaz Borges und der Filmkünstlerin Filipa César recherchierte Konzept der Mangroven-Schulen in Guinea-Bissau. Diese Schulen inmitten schwer zugänglicher Sumpfgebiete wurden jeweils neu im wörtlichen Sinne „to go“ aufgestellt, um Beschulung und Bildung trotz des Unabhängigkeitskrieges gegen die portugiesische Kolonialmacht zu ermöglichen.

Die vielfältigen Raumteilungselemente (Lamellen, Gardinen, Holzplatten), auf denen die Themenbilder zu sehen sind, interagieren sehr gut mit dem umgebenden Raum. Die leichten Unterschiede in den Herangehensweisen der jeweils separat verantworteten Fallstudien fallen insgesamt kaum ins Gewicht: Manchen Beiträgen fehlt die Autor:innen-Angabe, einige bieten weiterführende Literaturhinweise, manche fokussieren auf Erfahrungsinformationen.

Eine wissenschaftliche Besprechung muss natürlich die uns aufgefallenen Leerstellen artikulieren, die trotz allem nicht den Eindruck der vielfältigen Aufbrüche schmälern. So fehlen einflussreiche westdeutsche Reformuniversitätsgründungen (Kassel, Konstanz, Bremen, Bielefeld), Hinweise auf Veränderungen im Bereich des Fachunterrichtswesens oder auch Hinweise auf die jeweiligen Vorläufer und Nachfolger. Vielfach aufgegriffene reformpädagogische Anleihen geraten nicht in den Blick; daraus folgende Reformwellen, die es in der Bildung durchaus gegeben hat, bleiben außen vor. Gegenwärtige stadtplanerische und Klimabewegungen, aber auch emanzipatorische Initiativen hätten noch stärker in Kontakt zur Vergangenheit gebracht werden können. Auf einer anderen Ebene hätten wir uns für Kuba zum Beispiel den Versuch der „Isla de la Juventud“ und das dort angesiedelte Programm („Experimentierlabor des Sozialismus und Internationalismus“) einbezogen gewünscht, eine in der Ausstellung unterbelichtete transnationale Reforminitiative, die viele nationale Reformmodelle auf einer Insel in einer Forschungsinstitution zusammenbrachte – aber solche Auswahlentscheidungen sind immer diskutabel. Der Schwerpunkt auf die Gesamtschule ist für den behandelten Zeitraum erwartbar, wenngleich auch Initiativen zur frühkindlichen Bildung, etwa die Kindergartenbewegung, hätten dargestellt werden können. Bemängeln muss man die Zuspitzung auf singuläre Ereignisse, da ein prozessual-chronologisches Verständnis von Reforminitiativen, gesellschaftlichen Kontroversen, Umsetzungsversuchen und dann erfolgender Bildungspraxis sicher interessant gewesen wäre, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass der damalige Reformzyklus durchaus Inspirations- und Anschauungsmaterial für aktuell diskutierte Reforminitiativen bereithält – sei es im Verständnis von Bildungseinrichtungen, in den Techniken der Initiation von Reformzyklen oder ganz basal in den konkreten Reformen selbst.


Abb. 4: Taschenbücher der Jahre 1971–1980 aus der rororo-Reihe zur „politischen Bildung“ (Rowohlt-Verlag, Umschlaggestaltung: Jürgen Wulff)
(Foto: © Silke Briel / HKW)


Abb. 5: Taschenbücher aus dem Basis-Verlag, der in West-Berlin von 1970 bis 1988 existierte. Ein „retrospektives Verlagsverzeichnis“ gibt es in der Ausstellung zum Mitnehmen.
(Foto: © Fanny Isensee)

Persönlich und als bibliophile Rezensent:innen hat uns auch der in der Ausstellung so überschriebene Themenbereich „Bildungspop“ angesprochen. Präsentiert werden vielfältige, eine breitere Leser:innenschaft mit Bildungsthemen adressierende Verlagstätigkeiten (der Merve-Verlag fehlt zugunsten des weniger bekannten Basis-Verlags): „Mein Lehrer ist wie ein Panzer“, „Warum ist bei Schulzens Krach?“, „Und wenn der Kranfahrer mal pinkeln muss?“ sind nicht nur erfreulich irritierende Buchtitel, sondern sicher auch interessante Zeitdokumente. Gern hätte man in vieles hineingeschaut, allerdings waren Touch-Screen-Lösungen zum Blättern – wohl wegen der COVID-19-Einschränkungen – nicht verfügbar. Für Berlin-Besucher:innen gewiss von Interesse ist es, einmal die West-Berliner Reformschulen in ihrer Glanzzeit zu sehen, bevor sie zu der gegenwärtig mancherorts in Berlin wahrzunehmenden „failing architecture“ wurden. Im Hinblick auf Interaktivität etwas enttäuschend sind dann die Ausstellungsstücke, die sich dem bemerkenswerten, für die Gegenwart wiederum relevanten Thema der Lerncomputer und dem programmierten Lernen widmen, deren Individualisierungsversprechen zwar gezeigt wird (etwa anhand des Nixdorf-Systems „Bakkalaureus“ von 1968), deren Scheitern aber leider nicht nachvollzogen werden kann. Auch die anderen interaktiven Elemente bleiben etwas blass, was wohl wiederum vor allem der aktuellen COVID-19-Konstellation geschuldet ist. Die Idee, „Belastungsproben/Stresstests“ eigenständig durchzuführen (Bleikragen, Federhandschuhe, bunte Brillengläser), versprach sehr vergnüglich zu werden, aber immerhin stehen digitale Ersatzangebote zur Verfügung, verbunden mit der Frage nach der eigenen Erfahrung in Lernräumen (https://streetcollege.de/belastungsproben/).

Eine Gesamtbesprechung der Ausstellung fällt aufgrund der modularen Anordnung schwer. Hängen bleiben ein diffuses Gefühl der 1960er- und 1970er-Jahre als Mischung aus Reformaffirmation und Veränderungslust sowie der Eindruck, dass andere Bildungswelten möglich sind. Zugleich bleibt unklar, wie deren Umsetzung anzugehen wäre und wie solche Reformen verlaufen könnten. Ohne weitergehende historische Einbettung ist es ein für uns sehr anregender, für Besucher:innen außerhalb der Bildungsforschung jedoch vielleicht zu voraussetzungsreicher Gang durch das Reformenkabinett der jüngeren Schul- und Hochschulgeschichte, der immerhin deren Komplexitäten einzufangen weiß und diese materiell divers präsentiert. Aber ein wenig fehlt die ordnende Struktur, die einen zur Ausstellung begrüßt und durch diese hindurch geleitet.

An manchen Stationen fehlen auch zusätzliche Kontexterklärungen, die dann – mit Ergänzung einiger interessanter zusätzlicher Quellen – im Begleitband zur Ausstellung folgen. Vielleicht braucht es aber gar nicht den auktorialen Führer, sondern vielmehr ein Ausleben und Aufführen der – hier ebenfalls unterbelichteten – lustvollen Aspekte. Vielleicht braucht es eine Pausendisko-Intervention (das Stichwort taucht an einer Stelle auf, bleibt aber abstrakt), vielleicht eine demokratische Besprechung in der zentralen Stuhlkreisanlage, um stärker den rebellischen, spielerischen, ambitionierten und nicht zuletzt auch LAUTEN Charakter dieser Reformzeit einzufangen. Womöglich ist die präsentierte Mischung aus übergreifender Gesellschaftsutopie und modularer Herangehensweise schlussendlich doch eine Inspiration und eine Zusammenschau im Sinne eines Schulreform-Rhizoms, das auch der weiteren wissenschaftlichen Aufarbeitung helfen könnte. Die bisherige Forschung hat eher nach Schulformen, Akteur:innen und schultheoretischen Dimensionen eingeteilte, stärker parzellierte Deutungsgeschichten vorgelegt. Die hallende Stille der Erforschung bildungspolitischer und bildungspraktischer Wandlungen in synthetisierender deutsch-deutscher, europäischer und globaler Perspektive wird durch die Ausstellung zumindest hörbar. Das Haus der Kulturen der Welt stellt hier wieder einmal große Fragen – spannungsreicher, als es die oft kleinteilige Forschung der verschiedenen Einzeldisziplinen tun kann, von welchen aber im Detail abseits der großen Linien einiges Spannende mehr zu erfahren ist.

Anmerkung:
1 Als weiter zurückreichende historische Einordnungen siehe etwa Hermann Lange, Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit. Zur Entstehung und Problematik des modernen Schulwesens, Hamburg 1967; Michael Göhlich, Schulraum und Schulentwicklung: Ein historischer Abriss, in: Jeanette Böhme (Hrsg.), Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums, Wiesbaden 2009, S. 89–103; Marianne Helfenberger, Das Schulhaus als geheimer Miterzieher. Normative Debatten in der Schweiz von 1830 bis 1930, Bern 2013; Heidemarie Kemnitz, „Architektenpädagogiken“. Historische Analysen zu (Schul-)Raum und Bildung, in: Edith Glaser u.a. (Hrsg.), Räume für Bildung – Räume der Bildung. Beiträge zum 25. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Opladen 2018, S. 446–456; Marcelo Caruso, Die Anfänge einer intimen Öffentlichkeit. Konturierung des Klassenunterrichts um 1800, in: Kathrin Berdelmann u.a. (Hrsg.), Transformation von Schule, Unterricht und Profession. Erträge praxistheoretischer Forschung, Wiesbaden 2018, S. 113–130.