Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters

Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters

Veranstalter
Kunstmuseum Wolfsburg
Ort
Wolfsburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.09.2021 - 09.01.2022

Publikation(en)

Cover
Beitin, Andreas; Klose, Alexander; Steininger, Benjamin (Hrsg.): Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters. Köln 2021 : Verlag der Buchhandlung Walther König GmbH & Co.KG, ISBN 978-3-7533-0097-9 393 S., zahlr. Abb. € 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Götter, Deutsches Museum München

Die Ausstellung „Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters“ im Kunstmuseum Wolfsburg (mit einer begleitenden und vertiefenden Publikation) widmet sich einem zentralen Element der Moderne – dem Öl. Sie wurde von Alexander Klose und Benjamin Steininger angeregt und gehört zu deren größerem, internationalem Projekt „Beauty of Oil. Understanding Petro Modernity“ (http://beauty-of-oil.org, 03.11.2021).1 Die Umsetzung in Wolfsburg wurde zunächst in Zusammenarbeit mit dem dortigen Museumsdirektor Ralf Beil vorbereitet und erfolgte dann ab 2019 gemeinsam mit seinem Nachfolger Andreas Beitin. Die 220 Objekte umfassende Kunstausstellung beleuchtet den fossilen Kohlenwasserstoff unter verschiedenen Gesichtspunkten: von der Entstehung, Förderung und Veredelung des Rohstoffs über seine Verwendung in unterschiedlichsten Produkten bis hin zu den damit verbundenen kulturellen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, gesundheitlichen, emotionalen und ökologischen Folgen.

Der Aufbau der Ausstellung orientiert sich vordergründig an der zentralen Idee, aus einer nicht näher thematisierten Zukunft heraus in einer Retrospektive die als abgeschlossen imaginierte „Erdölmoderne“ zu beleuchten.2 Hierzu wurden die Objekte im Raum in diagonal verlaufenden Reihen angeordnet, die auf die Erdschichten einer Bohrung oder eine Ausgrabung anspielen sollen. Folgt man diesen Reihen auf gerader Linie, so beginnt der Besuch in einem schwarz gehaltenen, engen Raum mit einem fossilen Ichthyosaurus und endet bei Darstellungen von sich in den Weltraum erhebenden Raketen in einem weitläufigen, hohen, in Weiß gehaltenen Bereich. Allerdings gehört das erwähnte Fossil selbst gar nicht zur „spekulativen Retrospektive“, die laut einleitendem Text den Kern der Ausstellung ausmacht. Es ist vielmehr Teil eines von drei Prologen, die erst dazu hinführen, während sie selbst ambivalent-emotionale, kartographisch-rationale und selbstreflexive Eindrücke des Öls vermitteln sollen. Zudem wäre man mit dem Bereich der Raumfahrt noch nicht am Ende der Ausstellung angekommen – und hätte auf dem direkten Weg aus den Tiefen der Erde in den Orbit die meisten Objekte im übertragenen Sinne wie auch tatsächlich im Vorbeigehen links liegen gelassen. Verlässt man aber den direkten Pfad, schwindet schnell auch der Eindruck der Erdschichten und der aus einer fiktiven Zukunft erfolgenden Retrospektive auf ein abgeschlossenes Thema. Stattdessen rückt eine breite Sammlung in den Vordergrund, die eher darauf abzielt, möglichst viele und möglichst unterschiedliche Sichtweisen auf das Öl und seine Kontexte zu (ver-)sammeln, ohne einer zentralen Argumentationslinie zu folgen.


Abb. 1: Grundriss der Ausstellung – die diagonale Schichtung des Raumes und der durch diesen hindurch verlaufende Weg sind aus der Vogelperspektive klar erkennbar.
(Kunstmuseum Wolfsburg)

Tatsächlich birgt die Ausstellung im Wesentlichen immer wieder gebrochene, kaleidoskopartige Erzählungen rund um das Erdöl von der Vorzeit bis ins 21. Jahrhundert, wobei der klare Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert liegt. Die Objekte sind dabei zwar in bestimmten Themenfeldern angeordnet – oft, aber nicht ausschließlich geographisch. Beispiele umfassen „Norwegen“, „Nigeria“, „Venezuela“, „Öl als Waffe“, „Pipeline“, „Raffinerie“ oder „Konsum“. Doch finden sich durchaus auch Schwerpunktthemen, die über den entsprechend benannten Bereich hinausreichen oder ohne klare Zuordnung immer wieder aufgegriffen werden. Zu diesen mehrfach aufscheinenden Themen gehören etwa das Leuna-Benzin, das Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus von Ölimporten unabhängiger machen sollte, indem der Treibstoff nicht zuletzt aus Kohle synthetisiert wurde; der Zweite Weltkrieg, in dessen Kontext der atlantische Handelskrieg, der Einsatz von Flugzeugen, insbesondere von Bombern, und Öl-Infrastrukturen als Angriffsziele besondere Aufmerksamkeit erhielten; oder auch die Stadt Baku, die mit einer filmischen Biographie, einem sowjetischen Propagandafilm, einem Beitrag über das Leben junger Frauen in der postsowjetischen Ära oder mit Bildern von Industrieanlagen im Zentrum steht.


Abb. 2: Ein mehrfach vorkommendes Thema in der Ausstellung ist die Luftfahrt – hier links zu sehen in Form von Aufnahmen der Concorde. In der Bildmitte erkennt man eine Autowrack- und Kanister-Installation des beninischen Künstlers Romuald Hazoumè mit dem Titel „Elf rien à foutre“, 2005.
(Foto: Marek Kruszewski)

In gewisser Weise die Kehrseite dieser durchweg zu findenden – wenn auch nicht immer explizit oder gar systematisch aufgezeigten – Schwerpunkte ist es, dass in vielen Bereichen auffällige Fehlstellen zu beobachten sind. So thematisieren beispielsweise die im Segment „China“ versammelten Objekte eine um das Öl kreisende Fortschrittspropaganda, die Raumfahrt und auch durchaus kritische Perspektiven. Keine Rolle spielen hier allerdings die globale Konsumgesellschaft und die Position, die China und die dort oftmals auf Basis von Öl gefertigten, dann mithilfe von ölbetriebenen Schiffen weltweit ausgelieferten Produkte darin einnehmen. Nicht weniger verwunderlich ist, dass im Bereich „Ölkrieg“ und dem benachbarten Kapitel „Öl als Waffe“ die Golfkriege – insbesondere der Zweite Golfkrieg von 1990/91 – letztlich nicht stattfinden. Stattdessen stehen hier beinahe ausschließlich die Luftfahrt und der Flammenwerfer, der Vietnamkrieg und insbesondere der Zweite Weltkrieg im Fokus, nicht zuletzt durch eine Auswahl der Fotografien von Margaret Bourke-White, aber auch durch das großformatige Gemälde „Gegen England“ von Claus Bergen.

Lässt man sich auf diesen breit sammelnden und teils etwas erratisch wirkenden, eher frei assoziierenden Zug der Ausstellung ein, so bietet sie in einzelnen Objekten oder strukturierenden Texten immer wieder interessante oder unerwartete Einblicke und durchaus auch streitbare Thesen. So wird an einer Stelle etwa formuliert, dass es letztlich die Raffinerie gewesen sei, die der Menschheit eine erdgeschichtliche Wirkmacht verliehen habe. An anderer Stelle wird angemerkt, dass Fahrräder zwar gemeinhin als umweltfreundliches Fortbewegungsmittel gelten, in ihrer Produktion und ihrem Vertrieb aber ohne Erdöl nicht auskommen. Kurz vor dem Ausgang schließlich sind Objekte versammelt, die Kunststoffe und Konsumkultur zum Schwerpunkt haben. Durchwandert man den letzten Raum im Uhrzeigersinn, gehören John Gerrards „Western Flag“ (http://www.johngerrard.net/western-flag-spindletop-texas-2017.html, 03.11.2021) und Aaditi Joshis „Suffocation“ (https://aaditijoshi.com/category/suffocation-series-2008/, 03.11.2021) zu den letzten Eindrücken, die man aus der Ausstellung mitnimmt – und damit die sehr aktuelle Frage nach den Folgen des Ölkonsums, nicht zuletzt in Form von Kunststoffen, für Mensch und Umwelt.


Abb. 3: Die Raffinerie nimmt in der Ausstellung nicht nur räumlich einen zentralen Ort ein, sondern wird auch zur Thesenbildung herangezogen.
(Foto: Marek Kruszewski)

Man kann der Ausstellung eventuell vorwerfen, wie es in verschiedenen Rezensionen geschehen ist, dass das Verhältnis des Kunstmuseums Wolfsburg zum Volkswagen-Konzern nicht hinreichend thematisiert werde (wobei zumindest auf den ersten Blick mit Ausnahme der einschlägigen Ölkonzerne kein anderes Unternehmen so häufig in den Objekten vorkommt wie Volkswagen), dass es zahlreiche Perspektiven gibt, die in der Ausstellung nicht oder nur sehr vereinzelt aufgegriffen werden (etwa die Rolle der Erdöl-fördernden Länder des Nahen Ostens), oder auch, dass eine durchgängige, kritische Auseinandersetzung mit dem Zeitalter des Öls zu kurz komme.3 Dass eine solche distanziertere Sichtweise völlig fehle oder dass die hier versammelten Kunstwerke nicht zum Nachdenken über das Öl und seine Bedeutungen anregten, das kann man allerdings nicht behaupten – und eine wie auch immer geartete Vollständigkeit darf man bei einem derart umfassenden Thema wie dem Erdöl, seinen Funktionen und seinen Folgen auch nicht erwarten.

Wer mehr als die etwa zwei bis vier Stunden Zeit mitbringt, die man für einen Durchgang durch die Ausstellung selbst benötigt (je nachdem, wie vollständig man sich die zahlreichen Filme ansehen möchte), kann eine noch intensivere Beschäftigung mit dem Thema im „Observatorium“ beginnen. In diesem am Rande der Ausstellung gelegenen Raum findet sich eine zum Gesamteindruck der Ausstellung passend bunte (wenn auch wiederum vom Umfang her überschaubare) Auswahl unterschiedlichster Publikationen zum Thema. Sie reicht von den Abenteuern Dagobert Ducks über die „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome (1972) bis hin zum Begleitband der Ausstellung selbst, der in achtzehn größeren Beiträgen und zahlreichen Fragmenten auf fast 400 Seiten das postulierte Erdölzeitalter und seine vielfältigen Implikationen deutlich über die Präsentation in Wolfsburg hinausgehend diskutiert – und zu einigen in der Ausstellung thematisierten Bereichen wertvolle Ergänzungen bietet.

Anmerkungen:
1 Siehe aus diesem Kontext auch Alexander Klose / Benjamin Steininger, Erdöl. Ein Atlas der Petromoderne, Berlin 2020.
2 Andreas Beitin, Öl – keine Schönheit ohne Schrecken. Ein Vorwort, in: ders. / Alexander Klose / Benjamin Steininger (Hrsg.), Oil. Schönheit und Schrecken des Erdölzeitalters, Köln 2021, S. 12–21, hier S. 17.
3 Siehe etwa: Katinka Fischer, Stählerner Fingerzeig nach oben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2021, S. 11, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektur/wolfsburg-ausstellung-zu-oel-im-kunstmuseum-17525788.html (03.11.2021); Bettina Maria Brosowsky, Unsichtbar und allgegenwärtig, in: taz, 21.09.2021, https://taz.de/Ausstellung-ueber-das-Erdoelzeitalter/!5800855/ (03.11.2021); Till Briegleb, Wie geschmiert, in: Süddeutsche Zeitung, 16.10.2021, S. 23, https://www.sueddeutsche.de/kultur/kunstmuseum-wolfsburg-vw-erdoel-andreas-beitin-geschmiert-1.5440583 (03.11.2021).