Eine Stadt macht mit. Frankfurt und der NS

Eine Stadt macht mit. Frankfurt und der NS

Veranstalter
Historisches Museum Frankfurt
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.12.2021 - 11.09.2022

Publikation(en)

Cover
: Burkard, Benedikt; Gemeinhardt, Anne; Jung, Jenny; Zwilling, Jutta (Hrsg.): Eine Stadt macht mit. Frankfurt und der NS. Petersberg 2022 : Michael Imhof Verlag, ISBN 978-3-7319-1124-1 320 S., 489 Abb., davon 337 in Farbe € 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Belda, Seminar für Didaktik der Geschichte, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Das Bild Frankfurts in der Weimarer Republik – und in sehr begrenztem Umfang auch in den Anfangsjahren des Nationalsozialismus – wird gern als das einer liberalen, modernen und weltoffenen Stadt gezeichnet. Dies ist vor allem auf die freiheitliche Tradition, die Zeitungen, die Banken und den hohen Anteil der jüdischen Bevölkerung zurückzuführen. Mit der ersten umfassenden Gesamtschau über die NS-Zeit thematisiert das Historische Museum Frankfurt vor allem die Facetten und die zum Teil hohe Geschwindigkeit opportunen Mitwirkens im Stadtgebiet nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, die von der Forschung mit mehreren in den letzten Jahrzehnten erschienenen Studien herausgearbeitet worden sind.1

Unmittelbar nach dem Eintreten in den U-förmigen Ausstellungsraum fallen den Besucher:innen die vielen massiven Kuben aus Eichenholz auf, die auf die kulturgeschichtliche Vorliebe der NS-Bewegung für diese als besonders „national“ angesehene Holzart anspielen. Die vielfachen Brechungen und leeren Räume sollen daran erinnern, dass es in der NS-Zeit immer wieder Situationen gab, die Spielräume für nonkonforme oder sogar widerständige Verhaltensweisen boten und zum Teil entsprechend genutzt wurden.


Abb. 1: In der Mitte befindet sich der Ort „Unternehmen“, links „Amt“ und rechts „Universität“
(Foto: Dirk Belda)

Für die Sonderausstellung hat das Kurator:innenteam ein Konzept entwickelt, nach dem möglichst viele Aspekte an ausgewählten „Orten“ präsentiert werden. Diese sollen insbesondere Besucher:innen aus Frankfurt und der Region den Zugang bzw. die Identifikation mit den einzelnen Themen erleichtern, können theoretisch aber auch auf andere Städte übertragen werden. Der entworfene Raumbegriff ist weniger topographischer als freier, assoziativer Art. Dies führt dazu, dass einige der 19 „Orte“ semantisch gegenüber verbreiteten Ortsvorstellungen anschlussfähiger sind (z.B. Rathaus, Universität, Altstadt), da sie mit räumlicher Begrenztheit assoziiert werden. Andere „Orte“ stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dieser lokal-begrenzten Vorstellung (z.B. „Straße“, „Zuhause“, „Unternehmen“, „Polizei“) und regen das Publikum zu Reflexionen über den der Ausstellung zugrunde liegenden Raumbegriff an.

Die Gestaltung der jeweiligen Stationen folgt der Prämisse, dass zahlreiche zu einem „Ort“ passende Aspekte integriert wurden, damit diese in sich eine gewisse Konsistenz aufweisen. Da diese Aufgabe auch Kompromisse einschließt, bedeutet das etwa, dass das Thema „Widerstand“ an keinem eigenen „Ort“ zu finden ist, sondern in vielen Stationen (z.B. Kirchen, Gemeinden, Bahnhof) aufgegriffen wird. Da viele Themen biographische Zugänge nutzen, ist es auch nicht möglich, alle Personen einem Ort zuzuordnen. Demzufolge wird etwa die Geschichte von Theodor W. Adorno an drei Stationen präsentiert.

Eine zentrale Botschaft der Ausstellung besteht darin zu zeigen, wie die einzelnen Behörden der Stadtverwaltung, beispielsweise das Finanzamt, die Justizverwaltung und das Gesundheitsamt, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten willig und nicht selten eifrig deren Vorgaben umsetzten. Diese Tendenz der bereitwilligen, schnellen Anpassung war auch bei zahlreichen weiteren Institutionen und Vereinen des gesellschaftlichen Lebens in Form von Selbstgleichschaltungen zu beobachten. Besonders tragisch erscheint dieses administrative Zusammenwirken auf den verschiedenen Ebenen, wenn es dazu beitrug, dass sich sowohl die Stadt als auch einzelne Bürger:innen auf Kosten der verfolgten jüdischen Bevölkerung bereicherten.

Nennenswerte Spannungen zwischen dem langjährigen Oberbürgermeister Friedrich Krebs und dem Gauleiter von Hessen-Nassau, Jakob Sprenger, entstanden nur selten in den letzten Kriegsjahren. Gleichwohl gab es – wie in anderen Städten auch – Formen der Hilfsbereitschaft gegenüber einigen Verfolgten und vereinzelte Beispiele von Verweigerung, Protest oder Widerstand.

Die Gestaltung der Stationen hat dokumentarischen Charakter und zeichnet sich durch eine große Vielfalt an Quellen (z.B. Text- und Sachquellen, Audiosequenzen und Filmmaterial) unterschiedlichster Gattungen und Perspektiven aus, die mit großem Rechercheaufwand zusammengestellt wurden. Diese ermöglichen den Besucher:innen zahlreiche Vertiefungen in Teilaspekte.

Da ein näheres Anschauen aller Stationen mit den über 600 Exponaten an einem Tag kaum zu bewältigen ist, sollen die Besucher:innen laut dem Kurator:innenteam die Stationen auswählen, die sie besonders interessieren. Die Verteilung der Kuben im Ausstellungsraum ermöglicht verschiedene Wege, bei denen jeweils alle Stationen zumindest wahrgenommen werden. Die Reihenfolge der Stationen ist frei wählbar, da sie einander kaum voraussetzen. Sowohl die Auswahl als auch die Präsentation der Exponate hat stark phänomenologischen Charakter und bietet daher vor allem Darstellungen des Geschehenen – und weniger Erklärungen dafür.

Die schlaglichtartige, exemplarische, diskursiv-offene Erzählweise entspricht dem Grundkonzept des Historischen Museums Frankfurt und impliziert eine umfassende Abkehr von chronologischen Elementen. An den Seiten befinden sich nur einige senkrechte Zeittafeln mit Abschnitten unterschiedlicher Länge – ansonsten ist die chronologische Ordnung weitestgehend aufgehoben. Auch innerhalb der Stationen wird keine Reihenfolge bei den Betrachtungen vorgegeben, sodass die binnenstrukturierenden Unterbegriffe (für die Station „Zuhause“: „Alltag“, „Verlust der bürgerlichen Existenz“, „Zuflucht“ und „Kontra!“) und deren Inhalte auch einzeln zugänglich sind.

Insgesamt arbeitet die Ausstellung also sehr exemplarisch und multiperspektivisch, d.h. ohne die Vorgabe von Narrationen sollen die Besucher:innen diese, aber auch übergeordnete Zusammenhänge (re-)konstruieren. Sie vertritt damit ein postmodernes Geschichtsverständnis und eignet sich dazu, sowohl eigene Narrative zu „Frankfurt in der NS-Zeit“ zu entwickeln als auch Deutungen zu dekonstruieren.

Diese Offenheit erlaubt die größtmögliche Vielfalt an individuellen Zugängen und regt die Besucher:innen zu freien Auseinandersetzungen und den Formulierungen von Fragen an, sodass die Ausstellung auch als Ausgangspunkt für vertiefte Beschäftigungen dienen kann. Andrerseits handelt es sich dabei um einen kognitiv anspruchsvollen Ansatz, da die vielfältigen, individuellen Sinnstiftungen weitestgehend ohne Vorgaben erfolgen sollen.


Abb. 2: Im Zentrum die Station „Bahnhof“. Links ist einer der zwei Medientische („Topographie“) mit Karten vom Stadtgebiet in unterschiedlichen Visualisierungsformen zu sehen. Bei Berührungen werden verschiedene Ortskategorien (z.B. Täterinnen und Täter, Orte der Verfolgung, des Krieges, des Widerstands) angezeigt, die wiederum auf 2500 Adressen in der Stadt und ihre Bedeutung in der NS-Zeit verweisen und diese kurz erläutern.
(Foto: Dirk Belda)

Um den mannigfaltigen Erwartungen und Nutzer:innentypen gerecht zu werden, steht eine Vielzahl von Begleitangeboten zur Verfügung. Für Schüler:innen höherer Jahrgangsstufen, welche die Ausstellung ohne Führung besuchen möchten, bietet das Museum leicht verständliche Rallye-Bögen zu ausgesuchten Orten und Objekten an. Für jugendliche Besucher:innen ab etwa 14 Jahre ist der Multimediaguide (MMG 14+), der auch mit den Rallye-Bögen kombiniert werden kann, sehr zu empfehlen. Er erleichtert die Orientierung und das Verständnis der einzelnen Stationen, indem von dem/der jeweils für die Gestaltung der Station verantwortlichen Kurator:in eine kurze Einführung in das Konzept des Bereiches gegeben wird. Anschließend werden nicht nur notwendige Hintergrundinformationen vermittelt, sondern auch aufschlussreiche Erläuterungen vorgenommen, welche die Aufmerksamkeit der Besucher:innen auf wenige Exponate lenken.

Die Kombination aus einem vielfältigen, quellenorientierten Angebot und den differenzierenden Begleitmaterialien wird der zunehmenden Heterogenisierung des Publikums mit seinen unterschiedlichen Erwartungen und Voraussetzungen gerecht und ermutigt dieses zur eigenständigen Auseinandersetzung mit der Thematik. Dieser Ansatz sollte allen Besucher:innen noch expliziter vermittelt werden. Zwar befindet sich an der Seite des Eingangs ein kurzer Darstellungstext, der auf einige konzeptionelle Überlegungen eingeht, aber den der Ausstellung zugrunde liegenden Raumbegriff nicht klar genug definiert, um die Besucher:innen von raumkonzeptionellen Überlegungen während des Aufenthalts zu entlasten und diesbezügliche Irritationen zu vermeiden. In diesem Zusammenhang könnte auch das Begleitangebot noch transparenter erläutert werden, um möglichen Überforderungssituationen während des Aufenthalts vorzubeugen.

Insgesamt wirkt die Ausstellung experimentell und abwechslungsreich. Sie regt die Besucher:innen zu individuellen Vertiefungen und Reflexionen an. Das umfangreiche, 320-seitige Begleitbuch enthält einen Katalog der Exponate und folgt damit dem Anspruch einer umfassenden Gesamtschau.

Anmerkung:
1 Vgl. Ernst Kaiser / Michael Knorn, „Wir lebten und schliefen zwischen den Toten“. Rüstungsproduktion, Zwangsarbeit und Vernichtung in den Frankfurter Adlerwerken, Frankfurt am Main 1994; Matthias Thoma, „Wir waren die Judebubbe.“ Eintracht Frankfurt in der NS-Zeit, Göttingen 2007; Bettina Tüffers, Der Braune Magistrat. Personalstruktur und Machtverhältnisse in der Frankfurter Stadtregierung 1933–1945, Frankfurt am Main 2004; Wolfgang Wippermann, Das Leben in Frankfurt zur NS-Zeit. Darstellungen, Dokumente und didaktische Hinweise, 4 Bde., Frankfurt am Main 1986.

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