Die Mörder sind unter uns

Die Mörder sind unter uns

Veranstalter
Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Haus der Stadtgeschichte - Stadtarchiv Ulm und dem Stadthaus Ulm (10506;12075)
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10506;12075
Ort
Ulm
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.02.2008 - 13.07.2008

Publikation(en)

Cover
Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Die Mörder sind unter uns. Der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958. Ulm 2008 : Haus der Geschichte Baden-Württemberg, ISBN 978-3-933726-27-8 95 S. € 9,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heike Krösche, Oldenburg/Linz

„Die Mörder sind unter uns“ lautet der Titel der Ausstellung, die zum 50. Jahrestag des Ulmer Einsatzgruppenprozesses von 1958 derzeit im Ulmer Stadthaus zu sehen ist. Dieser Titel verweist auf den unter der Regie von Wolfgang Staudte 1946 entstandenen ersten deutschen Nachkriegsfilm, in dessen Mittelpunkt der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der deutschen Schuld stand.1 Der Filmtitel wurde am Ende der 1950er-Jahre zum Synonym für das wachsende Bewusstsein von der fortgeschrittenen Reintegration ehemaliger NS-Funktionäre in die westdeutsche Gesellschaft und der Stagnation der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Zu diesem Erkenntnisprozess haben die Verhandlungen im Ulmer Schwurgerichtssaal einen wesentlichen Beitrag geleistet. Obwohl dieser zeitgeschichtliche Stellenwert des Einsatzgruppenprozesses von 1958 bis auf wenige Ausnahmen in der Historiographie unumstritten ist2, gibt es bis heute keine Monographie über das Ereignis. Fast folgerichtig haben der 50. Jahrestag des Prozesses sowie die aktuelle Ausstellung in Ulm kaum das Interesse der überregionalen Medien geweckt.3

Ab dem 28. April 1958 saßen zehn ehemalige Mitglieder des Einsatzkommandos Tilsit auf der Anklagebank im Ulmer Schwurgerichtssaal und mussten sich wegen Exekutionen von 5.502 überwiegend jüdischen Opfern im deutsch-litauischen Grenzgebiet verantworten. Die Verhandlungen endeten mit der Urteilsverkündung am 29. August, in der alle Angeklagten schuldig gesprochen wurden. Dass die Höchststrafen für Hans-Joachim Böhme und Werner Hersmann dennoch mit 15 Jahren Zuchthaus verhältnismäßig milde ausfielen, war eine Folge der Gehilfenrechtsprechung, nach der Hitler, Himmler und Heydrich als eigentliche Haupttäter betrachtet wurden. Während die Bedeutung des Ulmer Prozesses gerade darin lag, dass mit den Einsatzgruppenverbrechen im deutsch-litauischen Grenzgebiet erstmals ein ganzer Verbrechenskomplex Gegenstand eines westdeutschen Gerichtsverfahrens war, dokumentiert der Schuldspruch gleichzeitig eine milde Urteilspraxis, die für den strafrechtlichen Umgang mit NS-Tätern in der Bundesrepublik in den folgenden Jahren charakteristisch wurde.4

Mit der Frage „Was wissen Sie über den Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958?“ wird am Eingang zum Stadthaus Ulm auf die aktuelle Ausstellung hingewiesen. So wird der Besucher beim Betreten der Ausstellungsräume zwangsläufig mit seinem persönlichen Kenntnisstand konfrontiert. Es handelt sich aber auch um eine rhetorische Frage, da der Prozess trotz seines zentralen Stellenwertes für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Auf diese Weise wird das Publikum bereits zu Beginn und nicht erst am Ende der Präsentation zum Nachdenken über Prozesse des Erinnerns angeregt und der Anspruch unterstrichen, mit der Darstellung der Ereignisse von 1958 einen Beitrag zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Thematik zu leisten.

Dass die Ausstellung diesem Ziel nur bedingt gerecht wird, liegt vor allem daran, dass die Präsentation der Exponate etwas zu sparsam durch Hintergrundinformationen ergänzt wird und eine Einordnung in den zeithistorischen Kontext kaum stattfindet. So hat die Ausstellung insgesamt eher einen dokumentarischen Charakter. Zum Auftakt formulieren die Ausstellungsmacher in einer knappen Einleitung ihre Leitthesen. Sie schließen sich dabei der vorherrschenden Meinung an, dass der Ulmer Einsatzgruppenprozess entscheidend zum „Wandel im Umgang mit NS-Gewaltverbrechen“ beigetragen habe und der „Staatsanwalt Zufall“ durch eine systematische Strafverfolgung abgelöst worden sei. Diese Thesen dominieren zwar den Forschungsstand, sind aber nicht gänzlich unumstritten. Dass in einer Ausstellung kaum Raum ist, um dies zu problematisieren, leuchtet ein. Allerdings werden die Kernaussagen im Rahmen der Präsentation nicht näher erläutert, und der Besucher muss aus den gezeigten Objekten seine eigenen Schlüsse ziehen. Zumindest eine konkrete Einordnung in die Rechtspraxis der Bundesrepublik, die von einer Stagnation der Ermittlungsarbeit in den 1950er-Jahren und überwiegend milden Schuldsprüchen aufgrund der Beihilfe-Konstruktion gekennzeichnet war, wäre wünschenswert gewesen.

Gerade der Zusammenhang zwischen der Erfahrung des Ulmer Einsatzgruppenprozesses und dem Bewusstsein einer notwendigen Intensivierung der Ermittlungsarbeit, das in der Gründung der „Zentralen Stelle“ mündete, wird nur unzureichend dargestellt. So wird am Ende des Rundgangs lediglich kurz auf dieses zentrale Ereignis Bezug genommen, ohne auf die Beschränkungen des Zuständigkeitsbereichs der Ludwigsburger Ermittlungsbehörde einzugehen. Auch die nationalsozialistische Belastung ihres ersten Leiters Erwin Schüle, der in Ulm die Anklage vertreten hatte, wird nicht kritisch beleuchtet. Ein besonderes Verdienst der Ausstellung, deren zwölf thematische Bereiche hauptsächlich den Prozessverlauf und die Täter zum Gegenstand haben, liegt hingegen darin, dass neben der Prozess- auch die Rezeptionsgeschichte berücksichtigt wird. Neben einigen exemplarischen Reaktionen aus den Medien steht hier die Haltung der Bevölkerung im Mittelpunkt. Anhand von Briefen wird deutlich, dass es hinsichtlich der Prozessereignisse sowohl Unterstützung als auch Ablehnung gab. Die Auswahl der gezeigten Schreiben lässt jedoch keine Rückschlüsse über die Absender zu.

Für die aufgrund der offenen Architektur wenig optimalen Bedingungen der Ausstellungsräume im Ulmer Stadthaus haben die Organisatoren eine gute Lösung gefunden. Durch den Aufbau gesonderter Räumlichkeiten, in Form von dunklen Gängen, wird der Besucher von der Umgebung abgeschirmt und seine Aufmerksamkeit vollständig auf die Präsentation gelenkt. Bedauerlicherweise kommt diese bewusste Inszenierung nur dem Einzelbesucher entgegen. Für Gruppen sind die Präsentationsräume zu eng, und die Konzentration wird durch fehlende Kopfhörer für das multimediale Angebot zusätzlich gestört. Andererseits ergänzen die vielfältigen Bild- und Tondokumente die Präsentation der überwiegend schriftlichen Quellen und unterstreichen ihren dokumentarischen Charakter. Dem Gegenstand der Ausstellung entsprechend gibt es dagegen nur wenig dreidimensionale Objekte (wie etwa den Richterstuhl aus dem Ulmer Schwurgerichtssaal), die kaum Aussagekraft besitzen und in erster Linie ein gestalterisches Mittel sind.

Wer ausführliche Erklärungen während des Ausstellungsbesuchs vermisst, findet im Katalog eine zusammenhängendere Darstellung des Themas. Es erfolgt zwar keine kritische Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand, aber in einem ergänzenden Aufsatz gibt Thomas Schnabel einen Überblick zur Geschichte der justitiellen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik. Da im Ausstellungsteil des Katalogs nicht nur die im Ulmer Stadthaus gezeigten Dokumente ausführlich beschrieben werden, sondern insgesamt detaillierter argumentiert wird, sind die Kernaussagen besser nachvollziehbar. Ein Nachteil ist jedoch, dass die Abbildungen in erster Linie die Ausstellungsräume statt der präsentierten Dokumente zeigen. Bilder von Raumsituationen sind zwar sinnvoll (und waren hier möglich, weil der Katalog erst nach der Eröffnung erschien), können gute Wiedergaben der Exponate aber nicht ersetzen.

Insgesamt überzeugt die Ausstellung „Die Mörder sind unter uns“ durch eine dichte Dokumentation von Entstehung, Verhandlungsverlauf, Urteil und Rezeption des Ulmer Prozesses. Sie ist darauf ausgerichtet, die Besucher anhand der Prozessereignisse und deren Folgen exemplarisch mit der Geschichte der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen zu konfrontieren. Der Verzicht auf ausführliche Erläuterungen hat jedoch zur Folge, dass der Stellenwert des Verfahrens von 1958 dem Besucher ohne Vorwissen nur schwer plausibel wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. Wöll, Andreas, Wolfgang Staudte – „Sicher sind es nicht die Filme, die das eigene Nest beschmutzen“, in: Fröhlich, Claudia; Kohlstruck, Michael (Hrsg.), Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999, S. 71-83.
2 Die Bedeutung des Ulmer Einsatzgruppenprozesses, insbesondere für die Gründung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“, wird u.a. von Claudia Fröhlich in Frage gestellt. Vgl. Fröhlich, Claudia, Die Gründung der „Zentralen Stelle“ in Ludwigsburg – Alibi oder Beginn einer systematischen justitiellen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, in: Pauli, Gerhard; Vormbaum, Thomas (Hrsg.), Justiz und Nationalsozialismus – Kontinuität und Diskontinuität. Fachtagung in der Justizakademie des Landes NRW, Recklinghausen, am 19. und 20. November 2001, Berlin 2003, S. 213-249.
3 Zu den wenigen Beiträgen in der überregionalen Presse gehören: Augstein, Franziska, Richter, Mörder und Gehilfen, in: Süddeutsche Zeitung, 19.5.2008, S. 11, und Soldt, Rüdiger, Der Haupttäter war nicht mehr greifbar, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.6.2008, S. 33.
4 Vgl. Greve, Michael, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt am Main 2001, S. 145ff.

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