Ingolstadt im Ersten Weltkrieg

Ingolstadt im Ersten Weltkrieg

Veranstalter
Stadtmuseum Ingolstadt
Ort
Ingolstadt
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.07.1999 - 31.10.1999

Publikation(en)

Ingolstadt im Ersten Weltkrieg. Das Kriegsgefangenenlager. Entdeckung eines Stückes europäischer Geschichte. Ingolstadt 1999 , ISBN 3-932113-28-4 210 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günter Riederer,

Der als "Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts" apostrophierte Erste Weltkrieg sprengte in jeglicher Hinsicht die Vorstellungen über Art und Ausmaß der Kriegsführung. Seine Technisierung, die Erfahrung des massenhaften Sterbens sowie die ausgreifende Mobilisierung der gesamten Gesellschaft ließen ihn zum ersten "industrialisierten Krieg" werden. Ein bislang von der historischen Forschung noch weitgehend vernachlässigter Aspekt im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg ist die Kriegsgefangenschaft, die sich zwischen 1914 und 1918 zu einem Massenphänomen entwickelte. Die zu Beginn des Krieges von den zuständigen Militärbehörden angestellten Schätzungen in Bezug auf die erwartete Zahl der Kriegsgefangenen wurden schnell Makulatur und von der Realität geradezu überrollt. Bis zum 10. Oktober 1918 waren im Deutschen Reich insgesamt 2,5 Millionen Kriegsgefangene interniert, die in knapp 200 sogenannten "Stammlagern" untergebracht wurden. Trotz dieser hohen Zahl an Kriegsgefangenen und der zahllosen Probleme, die sich aus einer langfristigen Verwahrung von Internierten ergaben, blieb ihr Schicksal weitgehend im Dunkeln. Eine Ausstellung im Stadtmuseum Ingolstadt versucht nun, diese verschüttete Geschichte ihrem Vergessen zu entreißen.

Am Beispiel des kurz nach Kriegsbeginn in Ingolstadt errichteten Gefangenenlagers werden die widersprüchlichen Facetten der Kriegsgefangenschaft aufbereitet. Den Lageralltag der Internierten bestimmte das Gefühl des Eingesperrtseins, die Sehnsucht nach Heimat und Familie, die Einsamkeit und Monotonie des Lagerlebens, die Zwangsarbeit unter Bewachung sowie die widersprüchliche Erleichterung darüber, der Front und ihrem Schicksal entronnen zu sein. Das Gefangenenlager in Ingolstadt erhielt seine europäische Dimension dadurch, daß dort mehrere Persönlichkeiten interniert waren, die im weiteren Verlauf ihres Lebens noch zu Ruhm gelangen sollten. Zwei Namen sind hier besonders hervorzuheben: Der junge Hauptmann und spätere Staatspräsident der französischen Republik Charles de Gaulle befand sich ebenso in Ingolstädter Gefangenschaft wie der russische Offizier Michail Tuchatschewski, der in den zwanziger Jahren wesentlich am Aufbau der Roten Armee beteiligt war.

Die Ausstellung breitet in insgesamt fünf Räumen eine beeindruckende Materialfülle aus. Sie zeigt Berichte der Verwaltung über die Zustände im Lager, zahllose Postkarten und Photographien, Memoiren, Handarbeiten der Kriegsgefangenen sowie Uniformen und Orden. In ihrem Zentrum steht jedoch eine besondere Form der subjektiven Innenansicht des Lagers. Die gesamte Ausstellung gruppiert sich um die Werke zweier Maler: Zum einen werden Zeichnungen des Ingolstädter Konrad Schneider gezeigt, der als Krankenwärter im Reservelazarett des dortigen Gefangenenlagers tätig war und auf vielen Blättern seine Eindrücke festgehalten hat. Zum anderen sind Bilder des bretonischen Künstlers Jean-Julien Lemordant zu sehen, der in Ingolstadt interniert war und zahlreiche Kohlezeichnungen vom Lagerleben anfertigte.

Der Eingangsbereich der Ausstellung gibt zunächst Überblicksinformationen zur historischen Entwicklung Ingolstadts im 19. und 20. Jahrhundert. Die Stadt an der Donau war seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts systematisch zu einem Militärstandort ausgebaut worden und bildete nach München die zweitgrößte Garnisonsstadt Bayerns. Bereits seit Mitte August des Jahres 1914 verbrachten die Militärbehörden Kriegsgefangene nach Ingolstadt, die zunächst über die Befestigungsanlagen und Forts der Stadt verteilt wurden. Die vorhandenen Unterbringungsmöglichkeiten reichten jedoch bald nicht mehr aus und bereits im September 1914 beschloß das bayerische Kriegsministerium, auf dem Exerzierplatz im Norden der Stadt Baracken zu errichten und die Klein- und Kleinstlager zusammenzufassen.

Im zweiten Raum steht eine Stellwand, auf der sich in großen Lettern die Daten und Zahlen zu den Kriegstoten und Gefangenen des Ersten Weltkrieges befinden. Eine sogenannte "WebCam", die über die Homepage der Ausstellung eingesehen werden kann, ist auf eine Installation gerichtet: Sie zeigt ein typisches Offiziersfeldlager mit Strohstreuung, Kiste und Milchkanne. Die Platzzumessungen für die einzelnen Gefangenen waren je nach militärischem Rang exakt festgelegt. So durfte ein kriegsgefangener Offizier 12 Quadratmeter Platz für sich beanspruchen, während sich der gemeine Soldat mit nur 2,5 Quadratmetern zu begnügen hatte. Eine Tischvitrine mit Postkarten von französischen, russischen und schottischen Gefangenen sowie mehreren Photographien gibt eine erste Vorstellung vom Leben als Kriegsgefangener.

Der dritte Raum ist dem bretonischen Maler Jean-Julien Lemordant gewidmet. Lemordant zählte bereits vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu den namhaftesten Künstlern im Frankreich der Vorkriegszeit. Er meldete sich Ende Juli 1914 als Kriegsfreiwilliger und geriet im Oktober desselben Jahres in deutsche Kriegsgefangenschaft. Im Jahr 1915 wurde er in das Ingolstädter Lager verlegt und fertigte während seines dortigen Aufenthalts zahlreiche Skizzen und Zeichnungen an. Etwa 30 Bilder, auf denen der französische Maler in schlichten Kohlezeichnungen das Lagerleben festgehalten hatte, befinden sich über den Raum verteilt. Neben den "großen" Künstlern und Malern wie Lemordant betätigten sich zahlreiche Kriegsgefangene als Kunsthandwerker. Das monotone Lagerleben führte dazu, daß viele Gefangene ihre Zeit mit der Anfertigung kunstvoller Erinnerungs- und Gebrauchsgegenstände verbrachten. Brieföffner aus Metallabfällen, Aschenbecher aus Granathülsen sowie kleine Modelle von Burganlagen oder Kasematten sind in einer eigenen Vitrine zu sehen.

Der vierte Ausstellungsraum informiert über die Verwaltung des Lagers und seinen wichtigsten Kommandanten, den ehemaligen Oberst der bayerischen Armee Josef Peter. Eine Vitrine zeigt die Inspektionsberichte des Lagerkommandanten, seine Ordensspange, sowie Notgeld und "Lagergeld". Das Lagerleben war von Appellen bestimmt: Um 9 Uhr, um 11 Uhr und um 16 Uhr mußten die Gefangenen antreten, dazwischen waren sogenannte "Gehbewegungen" erlaubt. Nach 16 Uhr durfte kein Gefangener die Baracken verlassen und die Wachmannschaften waren bei Zuwiderhandeln angehalten, das Feuer zu eröffnen. Auf drei Bilderwänden geben zahlreiche Photographien einen Überblick zu den Freizeitaktivitäten im Lager: Sie zeugen von der Erholung beim Boule und Fußball, zeigen die Gefangenen beim Theaterspiel und beleuchten das religiöse Leben. Trotzdem gehörten zahlreiche Fluchtversuche zum Lageralltag. Patriotismus, Langeweile und Sehnsucht nach der Heimat führten bei vielen Gefangenen dazu, fieberhaft über einen möglichen Ausbruch aus dem Lager nachzudenken. Sie versuchten sich Zivilkleidung und falsche Pässe zu verschaffen, zeichneten eigenhändig Fluchtkarten von der Umgebung, gruben einen Tunnel aus dem Lager oder ließen sich - wie der kuriose Fall eines Offiziers zeigt - im großen Korb von Schmutzwäsche aus dem Lager tragen. Die Flucht war jedoch selten von Erfolg gekrönt und von den drei- bis vierhundert Fluchtversuchen im Ingolstädter Lager verliefen nur wenige erfolgreich. Eine weitere Vitrine in diesem Raum befaßt sich mit der medizinischen Versorgung des Lagers. Ein medizinisches Feldhauptbesteck, Verbandsmaterial, Zahnbesteck sowie Morphiumampullen geben Einblick in die Behandlungsmöglichkeiten kranker Kriegsgefangener.

Der fünfte und letzte Ausstellungsraum informiert über die Themen "Postkontrolle", "Verfahren gegen Gefangene" und "Arbeitseinsätze". Die deutsche Militärverwaltung fand sich in einer Zwickmühle wieder: Einerseits suchten die Militärbehörden den Kontakt zwischen Kriegsgefangenen und Zivilbevölkerung rigoros zu unterbinden. Die Kriegsgefangenen wurden von der reichsdeutschen Propaganda zu "Feinden im Innern" stilisiert, die den Bestand des "Volkskörpers" durch ihre vermeintlich zahlreichen Sabotageversuche bedrohten. Andererseits galten die Kriegsgefangenen als willkommene Arbeitskräfte und wurden zur Zwangsarbeit herangezogen. Eine eigens für die Ausstellung angefertigte Übersicht stellt die Arbeitskommandos der Ingolstädter Kriegsgefangenen im zweiten Halbjahr 1915 zusammen und zeigt, wie viele Gewerbebetriebe und landwirtschaftliche Anwesen auf Kriegsgefangene zurückgriffen. Kurz umrissen wird auch die Geschichte der "Hilfsorganisationen" für Kriegsgefangene. Vor allem für das "Comité International de la Croix Rouge et Croissant Rouge" bedeutete seine Tätigkeit für die Kriegsgefangenen den entscheidenden Durchbruch als internationale Organisation.

Unkompliziert und ohne große Textbeigaben erzählt die Ingolstädter Ausstellung viele Geschichten aus den Gegenständen selbst. So wird der Themenbereich "Kontakt der Kriegsgefangenen mit der Zivilbevölkerung" mit einigen Photographien erschlossen, die in einer Vitrine ausgelegt sind. Auf dem ersten Photo ist ein französischer Kriegsgefangener namens Maurice Pessenet zu sehen, der zur Arbeit als Bierfahrer im Ingolstädter Sinziger-Bräu abkommandiert war. Auf einem zweiten Photo ist die Schankkellnerin des Sinziger-Bräu, Walburga Hegenberger, abgebildet. Die Geschichte findet auf einem dritten Photo ihr glückliches Ende, das ein Hochzeitsbild der beiden vom 12. Januar 1921 aus der Ingolstädter Stadtpfarrkirche St. Moritz zeigt. Sicher war die Eheschließung zwischen einem Kriegsgefangenen und einer Einheimischen eine Seltenheit und gerne hätte man mehr über die Zukunft des Paares erfahren. Andererseits regt diese in wenigen Bildern erzählte rührende Geschichte zum Nachdenken an und weckt die Neugier auf eine weitere Beschäftigung mit der Lokalgeschichte.

Die Ausstellung schließt mit Informationen über den Ausbruch der Revolution im November 1918, das Kriegsende und die Auflösung des Ingolstädter Kriegsgefangenenlagers im Januar 1919. Dabei weist das Ende der Ausstellung auf eine erstaunliche Analogie hin: Nach Kriegsende hatte das preußische Kriegsministerium die einzelnen Generalkommandos aufgefordert, aufgrund der Erfahrungen jeweils den Entwurf eines "idealen" Kriegsgefangenenlagers vorzulegen. Auf der letzten Texttafel findet sich eine Gegenüberstellung des Grundrißplans eines Kriegsgefangenenlagers aus dem Ersten Weltkriegs und der Aufriß des Konzentrationslagers Auschwitz. Die Ausstellung zieht damit eine bedrückende Kontinuitätslinie von den durchgeplanten Barackenlagern der Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg zu den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus.

Als Fazit bleibt festzuhalten, daß die Ausstellung des Ingolstädter Stadtmuseums einen hervorragenden Einblick in das Lagerleben des dortigen Kriegsgefangenenlagers im Ersten Weltkrieg gibt. Mutig füllt sie eine Forschungslücke und setzt sich deutlich gegenüber der bisherigen Literatur zur Kriegsgefangenschaft ab, die in apologetischer Weise oft nur die deutschen Kriegsgefangenen im Ausland behandelt hat. Zwar werden an verschiedenen Stellen mehr Fragen aufgeworfen, als beantwortet. Trotzdem wird das Ziel der Ausstellung - eine Rekonstruktion des Lageralltags, sowie die Einbindung der lokalen Geschichte in einen größeren Kontext - mehr als erreicht.

Der reich illustrierte Begleitband zur Ausstellung enthält zwei längere Aufsätze. Katja Mitze geht unter dem Titel "Das Kriegsgefangenenlager Ingolstadt" (S. 7-167) der Entstehungsgeschichte und dem Alltagsleben des Lagers in Ingolstadt nach. Gerd Treffer bietet eine erschöpfende biographische Skizze zu Jean-Julien Lemordant, jenem bretonischen Maler, der im Ersten Weltkrieg im Ingolstädter Lager interniert war (S. 169-210).

Besonders hervorzuheben ist der Textbeitrag von Katja Mitze, der in 22 Unterkapiteln eine umfassende und detailreiche Darstellung von Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg gibt. Der Autorin gelingt dabei am Beispiel des Kriegsgefangenenlagers in Ingolstadt eine überzeugende Sozial- und Alltagsgeschichte des Lagerlebens. Sie beginnt mit einem Überblick zu den Quellen und zum Forschungsstand der Thematik, gibt dann einen kurzen Abriß zur Geschichte der Kriegsgefangenschaft von der Antike bis zur Gegenwart, um in der Folge die spezifischen Entstehungsbedingungen des Ingolstädter Lagers nachzuzeichnen. Anschließend werden vom Akt der Gefangennahme und dem Transport zum Lager, über die Verwaltung bis hin zu seiner Auflösung nach Kriegsende alle Facetten des Lagerlebens ausführlich dargestellt.

Die problematische Ernährungslage und die Schwierigkeiten bei der Verpflegung der Gefangenen, die schlechte Qualität und die geringe Menge der Speisen wird ebenso abgehandelt wie das kulturelle Leben im Lager, die Bildung von Chören, Orchestern, Theatergruppen und die sportliche Betätigung der Gefangenen. Ausführlich schildert die Autorin auch die Organisation des Postwesens, die zumeist die einzige Verbindung zur Heimat des Kriegsgefangenen darstellte. Dabei kommen interessante Details der sogenannten "Postprüfung" zur Sprache: Jeder Dolmetscher mußte pro Tag etwa 300 Briefe lesen, was allein schon im Hinblick auf die verschiedenen Handschriften einen bemerkenswerten Arbeitsaufwand darstellte. Zudem wurden jedem Zensor bestimmte Kriegsgefangene zugeteilt. Er las sich in deren Familienverhältnisse ein und sollte auf diese Weise wichtige Informationen über Truppenbewegungen und Vorgehensweisen der Kriegsgegner herausfinden. Anspruch und real greifbare Ergebnisse dieser Zensurbemühungen klafften dabei weit auseinander.

In weiteren Kapiteln werden die Religionsausübung im Lager, Mißhandlungen und Beschwerden, vermeintliche Sabotageakte durch Kriegsgefangene sowie Strafen und Arreste analysiert. Ein längerer Abschnitt widmet sich den Arbeitseinsätzen der Kriegsgefangenen sowie den Wegen aus der Kriegsgefangenschaft (Hospitalisierung, Austausch, Flucht). Die Geschichte der Auflösung der Lager nach Ende des Krieges schließt den Beitrag ab.

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