Forschungsresidenz EUROPA DENKEN in Paris: Die Demokratie neu beginnen

Forschungsresidenz EUROPA DENKEN in Paris: Die Demokratie neu beginnen

Institution
Maison Heinrich Heine
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
01.05.2020 - 31.10.2020
Bewerbungsschluss
15.03.2020
Von
MHH

Das Collège international de philosophie (CIPh) und die Fondation de l'Allemagne - Maison Heinrich Heine (MHH) haben 2018 eine jährliche Forschungsresidenz für eine(n) Forscher(in) mit dem Titel « Europa denken » eingerichtet. Für ihre dritte Auflage steht die Forschungsresidenz unter dem Thema Die Demokratie neu beginnen (siehe detaillierte Projektbeschreibung). Der/die ausgewählte Kandidat/in führt dieses Thema aus.

Voraussetzungen
- Die Forschungsresidenz richtet sich an Postdoc-Forscher Junior oder Senior ohne Vorgabe bezüglich des Alters, der Nationalität oder der Fachrichtung.
- Dauer: 2-3 Monate im Zeitraum vom 01.05.2020 bis 31.10.2020
- Die Unterkunft wird in der Maison Heinrich Heine in der Cité internationale
universitaire de Paris gewährleistet.
- Der Hin- und Rückflug wird durch das Collège international de philosophie
übernommen.
- lm Anschluss an den Forschungsaufenthalt hält die/der ausgewählte Kandidat(in) eine Konferenz in der MHH über das Projekt.

Bewerbungsmodalitäten
Die Bewerbungen sind bis spätestens 15. März 2020 per Mail an die Adresse residencemhh-ciph@ciph.org zu richten. Die akzeptierten Sprachen sind Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Portugiesisch und Italienisch. Die Ergebnisse werden im Laufe des Monats April 2020 mitgeteilt. Die einzureichenden Dokumente umfassen: einen Lebenslauf, ein Motivationsschreiben (max. 2 Seiten), ein Forschungsprojekt zum oben erläuterten Thema (max. 5000 Zeichen inkl. Leerräume) sowie ein Doktoratsnachweis.

Projektbeschreibung

Erster Moment. Die Demokratie bildet sich in Griechenland etwa fünfhundert Jahre vor dem christlichen Zeitalter mit der Einrichtung der Isonomie (Gleichheit vor dem Gesetz) in der athenischen Polis heraus. Die Herrschaft der Gleichen, welche untrennbar mit dem Rederecht im öffentlichen Raum sowie in der Volksversammlung verbunden ist, ist ein spaltender Prozess, im Zuge dessen die Macht aufgeteilt und den Aristokraten entrissen wird. Dieser Bruch mit der Oligarchie (Herrschaft der Wenigen), welche auf die Abschaffung der Tyrannei gefolgt war, ist paradoxerweise eine auf die Aristokraten zurückgehende Bewegung. Das griechische Paradoxon führt uns also ein schwer lösbares Problem vor Augen, vielleicht eine Aporie: Kann sich die Demokratie gegen die Oligarchie, die sie kontinuierlich mit einer gewissen Aristodemokratie bedroht, etablieren? Um es mit den Worten des Theaterregisseurs Antoine Vitez auszudrücken, das Prinzip „der Elitäre für alle“ entspricht der künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Bildung, welche zentral für die Demokratie ist.

Zweiter Moment. In einer Zeit, wo Europa in Ruinen steht und die europäischen Völker durch die Religionskriege dezimiert werden, als die Inquisition Schrecken und Angst herrschen lässt, entwickelt sich in Amsterdam die Lehre der modernen Demokratie durch Spinoza. Dieser legt eine radikale Bedingung zugrunde: die Trennung der kirchlichen von den staatlichen Oberhäuptern. Ohne diese Trennung werden die Zensur der Wort- und Meinungsfreiheit, der religiöse Mord und der Bürgerkrieg in Europa kein Ende finden. Die Demokratie ist demnach die (unmögliche?) Erfindung der europäischen Politik als Abgrenzungsbewegung von den politischen Religionen und der Religionspolitik. Das oberste Ziel der Demokratie ist es, die Sicherheit der Bürger zu garantieren, die fortan nicht mehr in Angst leben müssen, sich opfern oder ihr Leben in Kriegen riskieren müssen. Doch diese Verlängerung des Lebens ist auch an die Freiheit geknüpft, zu sprechen, zu denken und zu lernen.

Dritter Moment. Die Demokratie als ein von der Vorherrschaft der Religion befreiter politischer Raum für ein möglichst freies Leben und die größtmögliche Freiheit, die demokratische Unterbindung der Zensur und der Verluste durch Kriege und Massenzerstörungen werden durch das Aufkommen des Totalitarismus zerstört. Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus erheben alle drei den Wahrheitsanspruch einer Idee der Menschheit, die es durch die Schaffung einer von neuen Opfern gekennzeichneten Gemeinschaft zu retten gilt. Die religiöse Dimension der totalitären Politik ist dabei ebenso auffallend wie der Wille, eine Mehrheit und Vielzahl von Menschen im Namen einer Wahrheit und der Lehre eines Mythos von Reinheit und Perfektion zu dominieren.

Von dieser totalitären Zäsur ausgehend, befasst sich Hannah Arendt mit der antipolitischen Feindschaft von totalitären Systemen gegenüber dem menschlichen Handeln und der Freiheit. Sie knüpft die Politik demnach an die Voraussetzung der Gleichheit, welche sich durch das politische Handeln manifestiert. Die Demokratie ist in diesem Sinne kein System, sondern die Politik selbst, was die philosophische Versuchung auf die Probe stellt,
nach welcher es eine hierarchische Unterordnung unter ein durch Tradition und Religion legitimiertes Prinzip der Autorität (derer, die wissen, über jene, die handeln) gäbe. Das politische Wort oder das politische Handeln entspringen der Erscheinungsebene und entziehen sich über ihre Fähigkeit des Neubeginns dem totalitären Bestreben, eine Vielzahl von Menschen zu dominieren. In der Freiheit des Wortes und des politischen Handelns zeigt sich somit der unvorhersehbare Charakter des demokratischen Lebens unter Gleichen.

Das antitotalitäre Denken der radikalen Demokratie wurde in der Philosophie von verschiedenen Denkern, wie Claude Lefort, neu begonnen. Die Demokratie ist nach Lefort eine Politik ohne Halt, wo die Macht ein leerer Ort ist, der Möglichkeiten des Teilens bietet, aber auch des Widerspruchs, Uneinigkeit über den Sinn. Die Meinungsverschiedenheiten über den Sinn, die Unmöglichkeit eines gemeinsamen Sinns oder sogar der Streit (die Unmöglichkeit nach Jean-François Lyotard das dem Anderen zugefügte Unrecht zu verstehen) verursachen nicht nur kritische Diskussionen im demokratischen öffentlichen Raum, sondern Konfliktlinien, welche die Gesellschaft spalten und die Gestaltung einer Gemeinschaft oder einer Einheit verhindern.

Wie steht es heute um diese späte, seltene und bedrohte politische Form der Demokratie? Ist es möglich die Demokratie neu zu beginnen, jenseits der sozialen Ungleichheiten und der politischen Kräfte, die sie von innen heraus zerstören und die Bürger*innen zu Armut und Not verurteilen? Braucht es einen Neubeginn der Demokratie und neue Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten für die Mehrheit, um der Dominanz der
Oligarchie zu entkommen? Kann die Demokratie zurück auf null gesetzt werden und können die demokratische Repräsentation und Partizipation neu erfunden werden, wo doch heute die politische Religion und die totalitären Politiken sie in der Klemme halten? Sollte ein solcher Neubeginn lokal erfolgen? Aber wie kann dann die europäische Ebene einbezogen werden?

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Arbeitssprache(n)
Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Portuguese, Spanisch
rda_languageOfExpression_stip