HT 2004: Räumliche Ubiquität und kommunikative Lebensformen: Europäische Judenheiten zwischen Imperien, Nationalstaaten und Diaspora

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Dr. des Markus Kirchhoff, Simon-Dubnow-Institut E:Mail:

Um wesentliche Aspekte der neueren Geschichte der Juden zu untersuchen, erscheinen „Kommunikation“ und „Raum“ als forschungsleitende Begriffe fraglos geeignet. Unmittelbar deutlich wird dies, wenn man sich den diasporischen Charakter vormoderner und moderner europäischer Judenheiten vor Augen führt. So ist das offenkundigste räumliche Merkmal dieser jüdischen Lebenswelten das der grenzüberschreitenden geographischen Verteilung. Hieran lassen sich weitere Charakteristika anschließen, die ebenfalls einem räumlich-kommunikativen Koordinatensystem zuordenbar sind: Transterritorialität und Transnationalität, Mobilität und Textualität.

Eben dies sind Begriffe, die Dan Diner, der Direktor des Leipziger Simon-Dubnow-Instituts, zur Analyse und zur Beschreibung der neueren Geschichte der Juden anbietet. So präsentierten die Vorträge der von ihm geleiteten Sektion Forschungsagenden, wie sie am Dubnow-Institut bearbeitet werden.

Diner rückt – wie bereits im Titel der Sektion anklingend – bevorzugt den Raum und damit auch die Zeit der multiethnischen, also transnationalen und (aus der Perspektive der späteren nationalstaatlichen Ordnung) transterritorialen Imperien in den Vordergrund: die Vielvölkerreiche der Habsburger, der Romanows und der Osmanen. Ein innerhalb der Sektion mehrfach aufscheinender Aspekt war, dass diese „imperische“ (Diner) Ordnung den tradierten Lebensformen der Juden idealtypisch wie aber auch realiter eher entsprach, als die der nach ethnischer Homogenität strebenden Nationalstaaten. In diesem Zusammenhang wurde wiederholt daran erinnert, dass es sich bei Juden im östlichen Europa noch bis in das 20. Jahrhundert hinein um solche imperische Bevölkerungen handelte, die sich in eben diese Vielvölkerreiche einfügten.1

Der Übergang von der Vormoderne zur Moderne, der teilweise mit den angesprochenen Umbrüchen politischer Raumgefüge von transnationalen Imperien zu Nationalstaaten in Verbindung steht, stellt einen Rahmen dar, innerhalb dessen sich analysieren lässt, wie sich die tatsächlichen oder „mentalen“ Räume sowie die Kommunikationensformen jüdischer Lebenswelten neu justierten. Die These hierbei ist, dass sich eine gewisse Affinität zur vormodernen Lebensform auch in der Moderne beobachten lässt. Darüber hinaus ergibt sich für Diner durch die Ermittlung solcher Residuen insofern ein aktueller Bezug, als die hier am jüdischen Beispiel ermittelte Reihe von Merkmalen prämoderner Lebenswelten eine hohe Wesensverwandtschaft zu gewöhnlich auch der Postmoderne zugeschriebenen Attributen aufweise.

Letzteren Aspekt zu erörtern ginge allerdings über das während der Sektion inhaltlich Gebotene hinaus. Die einzelnen Vorträge verstanden vor allem den Aspekt der Transterritorialität jüdischer Kommunikation deutlich zu machen; zum Teil in Zusammenhang hiermit wurden Nicht-Kongruenzen von jüdischen und nichtjüdischen „normierten“ Raumvorstellungen aufgezeigt. Ohne den Begriff zu erwähnen, bot die Sektion so mehrfach ein „mental mapping“ von „anderen“ Formen von Räumlichkeit.

Raum- und Zeiterfahrungen der Juden

Diner selbst thematisierte in seiner Einführung „Gleichzeitigkeiten von Raum- und Zeiterfahrungen der Juden“, um so zu einer „Theorie jüdischer Geschichtlichkeit jenseits historischer Periodisierung“ beizutragen. Der Vortrag rückte als erkenntnisleitendes Beispiel die „Damaskus-Affäre“ des Jahres 1840 in den Vordergrund. Die Juden der Stadt Damaskus wurden des Ritualmordes an einem verschwundenen katholischen Mönch und an seinem jungen muslimischen Diener bezichtigt; die nicht zuletzt auf Einwirken des örtlichen französischen Konsuls erwirkten Folterungen erbrachten falsche Geständnisse; mehrere Juden der Stadt wurden getötet. Innerhalb weniger Monate wurde die Beschuldigung zu einem in Europa und Amerika kommunizierten Presseereignis. Die Affäre wurde schließlich durch die Intervention einzelner europäischer Mächte beigelegt; von jüdischer Seite wurde vor allem das öffentlichkeitswirksame Auftreten von Moses Montefiore und Adolphe Crémieux im Sinne moderner jüdischer Fürsprache als großer Erfolg gewertet.2

Überraschend hob Diner zunächst nicht hervor, dass der Vorwurf des Ritualmordes von Damaskus die jüdische Welt insgesamt erschütterte, also Juden des Westens, des Ostens und des Orients kommunikativ miteinander verband. Vielmehr ging er einen Schritt weiter: Die Damaskus-Affäre habe dazu geführt, dass nun die verschiedenen Zeiterfahrungen der genannten Judenheiten korrelierten: Aufgrund der Wiederkehr des ihnen gemeinsam geläufigen Motivs der Ritualmordbeschuldigung – eines Motivs „negativer Sakralität“ – wurden die disparaten Zeiterfahrungen nun in einer profanen, sprich in der historischen Zeit des Jahres 1840 zusammengeführt. Mithin konstituierte sich hier ein alle Judenheiten miteinander verbindendes, sich säkularisierendes historisches Verständnis von Geschichtszeit.

Anhand eines zentralen Ereignisses jüdischer Geschichte in der Moderne suchte der Vortrag also, eine jüdische Geschichtsvorstellung zu ergründen, die sich zwischen sakralen und profanen Zeitemblemen bewegte und daher als „hybrid“ charakterisiert werden kann.3 Dabei ging Diner von einer traditionellen Dominanz einer vornehmlich sakralen, auf Textualität beruhenden Zeitvorstellung über die Vorstellung vom Raum aus: Zeit, als religiös vorgestellte Ewigkeit, korrespondiert gewissermaßen mit der räumlichen „Ubiquiät“ diasporischer jüdischer Lebensformen. Solche Räume können als vergänglich, jedenfalls „transitorisch“ charakterisiert werden – sie erscheinen in vergleichsweise nur geringem Maße als geschichtsbegründend. Für die diasporische Lebensform lautet daher die Formel: Je weniger territorial jüdische Existenz verortet ist, desto mehr ist sie zeitlich semantisiert.

Gerade vor diesem Hintergrund hält Diner die Damaskus-Affäre geeignet zu zeigen, wie sich ein moderner, gleichwohl nach wie vor nicht-territorialer „jüdischer Raum“ konstituierte. Verwiesen wurde nun auf eine die verschiedenen Judenheiten miteinander verbindende politische Kommunikation. Diese fügte sich sowohl in die über die Presse vermittelte internationale öffentliche Meinung als auch, etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in das „Europäische Konzert der Mächte“ informell ein. Dabei bedurfte eine moderne „jüdische Diplomatie“, wie sie sich mit der Damaskus-Affäre einstellte, des diasporischen Charakters der Juden wegen notwendig eines transnationalen Rahmens, wie er durch die Ordnungs- und Gleichgewichtsvorstellungen der europäischen Diplomatie gebildet wurde. Die Krise dieser Form jüdischer transterritorialer politischer Kommunikation ging mit dem Aufkommen sich ethnisch einfärbender Nationalstaaten einher.

„Jüdische Diplomatie“

Nicht vom Ablauf der Sektion, wohl aber thematisch schloss sich an diese Ausführungen vor allem der Vortrag von Markus Kirchhoff (des Berichterstatters dieser Sektion) über eine „neue Diplomatiegeschichte der Juden in transnationaler Perspektive“ an. Seine Präsentation rückte zunächst ebenfalls die Ära und den Raum des „Europäischen Konzerts“ in den Vordergrund. Als Ausgangsbeispiel wurde dabei, in Anlehnung an den Titel einer Studie von Salo Baron, die „Judenfrage auf dem Wiener Kongress“ (Wien 1920) gewählt.

Tatsächlich hat sich der Wiener Kongress – wenn auch am Rande – mit Juden betreffenden Fragen befasst. Der konkrete Anlass war hier, dass Napoleon den Juden in bestimmten deutschen Städten die bürgerliche Gleichberechtigung zugestanden hatte, diese Städte sich nun aber im Zuge der Restauration des Ancien Régimes im Recht sahen, wenn sie zur zuvor bestehenden Praxis der rechtlichen Diskriminierung der Juden zurückkehrten. Obwohl seitens der Mächte die Bereitschaft bestand, die einmal in diesen Städten gewährte Emanzipation fortbestehen zu lassen, wurde dieser Gedanke auf Einwirken der Städte in der „Bundesakte“ redaktionell so verändert, dass es nun einen Freibrief zur Rückkehr zur prä-napoleonischen Diskriminierung gab.

Schon dieses Beispiel zeigt, dass der „Einfluss“ einer modernen nichtstaatlichen „jüdischen Diplomatie“ – es waren auch jüdische Repräsentanten nach Wien gereist – alles andere als überbewertet werden darf, im Gegenteil. Ohnehin handelt es sich bei einer solchen Diplomatie um ein Kuriosum, basieren diplomatische Beziehungen nach üblicher Auffassung doch auf dem förmlichen ständigen Kontakt zwischen zwei Völkerrechtssubjekten, insbesondere zwischen Staaten. Da Juden nicht über einen eigenen Staat verfügten, konnte es eine „Diplomatie der Juden“ im Rahmen dieser Definition nicht geben.

Doch lasse sich, so Kirchhoff, sehr wohl von einer transnationalen Geographie „jüdischer Fragen“ sprechen. In diesem Kontext ist zum einen die klassische Diplomatie in den Blick zu nehmen. Diese konnte in der Ära des „Europäischen Konzerts“, insbesondere an der europäischen Peripherie, en passant zur Emanzipation von Juden in bestimmten, neu entstehenden Staaten beitragen, oder Gleichberechtigung auch explizit einfordern – letzteres auf dem Berliner Kongress 1878 vor allem in Hinblick auf die Juden Rumäniens. Zum anderen lässt sich eine transnationale Geographie jüdischer Fragen auch aus der Perspektive der neueren Geschichte der Juden selbst ausmachen. Insbesondere die erwähnte Damaskus-Affäre 1840, der Mortara-Fall 1858, anti-jüdische Exzesse in Rumänien in den 1870er Jahren sowie die russischen Pogrome 1881/82 involvierten kommunikativ das Gesamtkollektiv der Juden. Die unterschiedlichen Judenheiten nahmen Anteil an Krisen, die geographisch weit entfernt sein mochten, aber ihre Position und ihr Selbstverständnis potenziell überall in ihren Siedlungsgebieten herausforderten. Die – kommunikativen, transterritorialen – Reaktionen auf solche Krisen sind als das eheste Äquivalent zum Agieren eines souveränen Staates angesehen worden.4

Dem folgend, so Kirchhoff, hat eine neuere, nicht zuletzt kommunikationsgeschichtlich orientierte Diplomatiegeschichte „jüdischer Fragen“ a) zu untersuchen, inwiefern hierbei transterritoriale, nichtstaatliche Formen von Diplomatie involviert waren und b) diese mit der klassischen Diplomatiegeschichte und ihren staatlichen Akteuren abzugleichen. Diese Fragestellung, so Kirchhoff ausblickend, bietet sich an, um sie ebenfalls auf Kontexte des 20. Jahrhunderts zu beziehen. Zu nennen sind etwa die Minderheitenfrage der Zwischenkriegszeit, die Herausforderung der Judenverfolgung durch das nationalsozialistische Deutschland sowie völkerrechtliche Neuerungen bei der Aushandlung von Restitutionen.

Schnittstellen „jüdischer“ und „imperischer“ Räume

Die in dem Einführungsvortrag angesprochene Affinität von „jüdischen“ zu transnationalen (hier konkret zu „imperischen“) Räumen schien auch in dem Vortrag von Stephan Wendehorst auf, der jüdische Kaiserhuldigungen im 18. Jahrhundert thematisierte. Unter Bezug auf die jüngere Forschung setzte sich Wendehorst von der Sichtweise ab, mit dem Aufstieg der Territorialstaaten in der Frühen Neuzeit sei ein entsprechender Bedeutungsverlust des römisch-deutschen Reichs verbunden gewesen. Letztere Ansicht ist mittlerweile insofern erheblich modifiziert worden, als nun die parallel zur Konsolidierung der Landesherrschaft feststellbare Verdichtung des Reichs als Herrschafts- und Rechtsraum betont wird. Hingegen blieb die Erforschung der jüdischen Lebenswelten des Alten Reichs dem traditionellen Interpretationsparadigma des frühmodernen Territorialstaats verhaftet – eine Tendenz, die durch die Betonung der jüdischen Selbstverwaltung noch verstärkt wurde. Mit der Territorialisierung der Vorstellung jüdischer Lebenswelten des Alten Reichs – extern bestimmt durch die sich konsolidierende Landesherrschaft, intern durch die Gemeinde oder Landjudenschaft – wurde die Bedeutung, die das Alte Reich als transterritorialer, imperialer Herrschafts- und Rechtsraum für die jüdische Bevölkerung auch während der Frühen Neuzeit besaß, ausgeblendet.

Demgegenüber betonte Wendehorst, dass Begegnung und Verschränkung des durch Kaiser und Reich konstituierten imperialen Herrschafts- und Rechtsraums mit der jüdischen Lebenswelt auf verschiedenen Ebenen stattfanden und durch unterschiedliche Kanäle und Formen der Kommunikation vermittelt wurden. Die Schnittmenge zwischen imperialem und jüdischem Raum lässt sich gerade auch in diesem Kontext als ein durch Kommunikation hergestellter Raum interpretieren.5 Dieser durch das Beziehungsgeflecht zwischen Juden und Kaiser beschriebene Raum kann anhand der jüdischen Kaiserhuldigungen paradigmatisch dargestellt und analysiert werden: Der Kern der Beziehungen zwischen Kaiser und Juden wurde durch ein spezifisches Untertanen- bzw. Zugehörigkeitsverhältnis und die Einbindung in ein Sicherheit garantierendes oder zumindest in Aussicht stellendes Herrschafts- und Rechtssystem begründet. Die jüdischen Kaiserhuldigungen spiegeln mithin die Funktionsweise, Wirksamkeit und Grenzen des auf Gegenseitigkeit beruhenden, wenn auch asymmetrischen Verhältnisses zwischen Kaiser und Juden.

Der „Jüdische Ansiedlungsrayon“ – Kommunikation über einen Raum

Auf einen für die jüdische Geschichte des 19. Jahrhunderts zentralen, zugleich in paradigmatischer Hinsicht „imperischen“ Siedlungsraum ging Yvonne Kleinmann ein. Ihr Vortag fokussierte auf den „jüdischen Ansiedlungsrayon“ des Zarenreichs, also jene Territorien, die seit dem frühen 19. Jahrhundert gesetzlich der jüdischen Bevölkerung als ausschließliches Siedlungsgebiet innerhalb des Russländischen Reichs vorgeschrieben wurden. Mit wenigen Ausnahmen hatte dieses Reglement bis zum Ersten Weltkrieg Bestand.6 Allerdings ging es Kleinmann nicht um die Kommunikation innerhalb dieses Raumes, wohl aber um die Rede über diesen Raum.

Einleitend bot die Referentin anhand einer Karte der litauischen, weißrussischen, ukrainischen und neurussischen Gebiete des Russländischen Reiches eine Definition dieses Raumes und einen kurzen Einblick in die unterschiedliche historische Prägung seiner einzelnen Regionen in den vormaligen Machtkontexten des Königreichs Polen-Litauen und des Osmanischen Reiches. Daran anknüpfend stellte sie die Eignung des Terminus „jüdischer Ansiedlungsrayon“ und die damit verbundene Vorstellung kultureller Einheit in Frage. Dabei betonte sie, dass das Attribut „jüdisch“ auf ein Territorium mit einer multiethnischen Bevölkerungsstruktur kaum anzuwenden ist, sondern nur eine von mehreren Dimensionen jenes Raumes erfasst. Ebenso verwarf sie die Vorstellung von einer kulturell homogenen jüdischen Bevölkerung in einem Raum mit unterschiedlichen Traditionen jüdischen und landesherrlichen Rechts, kulturellen Prägungen und ökonomischen Bedingungen. Darüber hinaus verdeutlichte der Vortrag, dass der jüdische Ansiedlungsrayon im Laufe des 19. Jahrhunderts keine geschlossene und fest definierte Fläche war, sondern zahlreichen Revisionen unterlag.

In einem weiteren Schritt wurden alternative zeitgenössische Begriffe zur Benennung besagten Raumes zur Diskussion gestellt: zum einen die historischen Bezeichnungen der beiden Hauptregionen „Weißrussland“ und „Litauen“, deren Gebrauch seit 1840 durch die zarische Regierung verboten war, zum andern die gleichzeitig offiziell eingeführte Bezeichnung „westliche Gouvernements“. Anhand einer Gegenüberstellung der Begriffe „jüdischer Ansiedlungsrayon“ und „westliche Gouvernements“ wurde deutlich, dass ersterer in der zeitgenössischen politischen Diskussion, aber auch in der daraus hervorgehenden Geschichtsschreibung der „jüdischen Frage“ zugeordnet wurde, letzterer dagegen der Problematik der polnischen Nationalbewegung. Eine Synopse beider Perspektiven, ebenso wie die der Geschichte und nationalen Gedächtnisse der litauischen, weißrussischen und ukrainischen Bevölkerung, ist bisher hingegen kaum versucht worden.

So benannte Kleinmann als zentrales Problem in der Erforschung des „jüdischen Ansiedlungsrayons“ die Kommunikation über einen Raum, der im 19. Jahrhundert durch vormoderne politische Strukturen und eine multiethnische Bevölkerung geprägt blieb, sich heute jedoch in zahlreiche Nationalhistoriographien zersplittert findet. Vor diesem Hintergrund plädierte die Referentin für eine Synthese aller involvierten Nationalhistoriographien und -gedächtnisse, für eine Regionalgeschichte jenseits des lange angenommenen Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft und schließlich für eine Umbenennung des Raumes.

„Luftmenschen“

Kann die Forderung bzw. das Bedürfnis nach Verwurzelung als ein modernes räumliches Normativ angesehen werden, so stehen diesem die auf Juden bezogenen Metaphern des „Luftmenschentums“ geradezu als Gegenbegriff gegenüber. Nicolas Berg thematisierte eben solche Metaphern als Fremd- aber auch als Selbstbeschreibungen von Juden im europäischen fin de siècle. Berg begann seinen Vortrag mit einem Zitat aus Carl Schmitts „Weltgeschichtlicher Betrachtung“ über „Land und Meer“ aus dem Jahre 1942. Schmitt stellte hier das Bild vom „Landtreter“ dem des „Meerschäumers“ gegenüber. Der Antagonismus zwischen der angelsächsischen „Stützpunkt- und Netzwerk“-Mentalität eines Seefahrervolkes und dem kontinentalen Boden- und Erdbezug zur „Mutter der Menschen“ steht dabei axiomatisch für das von Schmitt angeschlagene Thema, inwiefern sich unterschiedliche Standpunkte und Weltsichten von einem dominant in die Sichtweise eines Kollektivs integrierten Element her verstehen ließen, bzw. ob Menschen überhaupt die Wahl hätten, welchem Element sie sich „anorganisieren“ wollten.

Berg übertrug diese Fragen auf die in den Quellen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts weit verbreitete Verwendung der Metapher des „Luftmenschen“ für vermeintlich fehlende Raum- und Ortsbezüge jüdischer Lebenswelten. Diese Begrifflichkeit bezog sich keineswegs allein auf die jüdische Armut in Osteuropa. Sie wurde im Kontext völkerpsychologischer Kollektivdeutungen dieser Zeit nachgerade zu einer Universaldeutung für die Alterität von Juden und Judentum – zumeist in pejorativen Verwendungszusammenhängen. Auch im innerjüdischen Diskurs fand die Metapher vom „schwebenden“ Judentum weiteste Verbreitung. Exemplarisch führte Berg dies an Max Nordau, Moritz Goldstein, Arthur Ruppin, Ber Borochov und vor allem an Theodor Lessing aus, der die Figur des „Luftmenschen“ mit einer spezifischen „Intellektualität“, „Geistigkeit“ und Affinität zu „abstrakten“ Berufen des Austausches und der Kommunikation in Verbindung gebracht hatte. Hier wurde das Bild von Menschen evoziert, die, so zitierte Berg Lessing, „gleichsam auf Telegraphendrähten lebten, zwischen den Völkern schwebten und nur Luftwurzeln schlagen konnten in den Geist.“7 Ein weiteres, ebenso eindringliches wie prominentes Beispiel stellt die Metapher vom „lenkbaren Luftschiff“ dar, die Theodor Herzl mehrfach verwendet hat (so in seinem privaten Tagebuch, im 6. Kapitel seines Romans „Altneuland“ sowie in einer diesen Titel tragenden 15-seitigen „philosophischen Erzählung“ aus dem Jahre 1896), um die Besonderheit einer jüdischen Staatsgründung zu charakterisieren, bzw. deren prekäres Verhältnis zur Realität.

Der Vortrag versuchte deutlich zu machen, dass solche Charakterisierungen vermeintlicher „jüdischer Wurzellosigkeit“ aus heutiger Sicht als positiv, negativ oder neutral gewerteter Versuch gelesen werden können, die besonderere transterritoriale und diasporische jüdische Geschichtserfahrung zu deuten. Im Zeitalter der sich zunehmend ethnisierenden Nationalstaaten wurde aber gerade dies als defizitär und „unnatürlich“ betrachtet. Das „Natürliche“ waren in solchen Völkerpsychologien immer die Erde und das Erdverhaftete, das Konkrete und das Sichtbare – symbolisch gesprochen: „der Baum“ und „der Bauer“. Umgekehrt wurden viele im weitesten Sinne sozialpsychologische Phänomene der Moderne wie Migration, Urbanisierung, Mehrsprachigkeit und eine bestimmte Berufsstruktur in Bereichen jenseits vormoderner Primärproduktion immer stärker als „jüdisch“ wahrgenommen – und das unabhängig von der prozentualen realhistorischen Partizipation von Juden an diesen Prozessen.

Der Begriff „Luftmenschentum“ oder „Luftvolk“ (Max Nordau) wurde in diesem Sinne von Berg als begrifflich geronnene Epistemologie interpretiert, die unverstandene Modernisierungsprozesse in Bilder übertrug, um das Unsichtbare und Ungesicherte, Land- und Bodenlose dingfest machen zu können.

Kommentar

Der als Kommentator eingeladene israelische Historiker Israel Bartal (Hebräische Universität Jerusalem) schloss die Sektion mit seiner Betrachtung „On Political Borderlines and Transnational Contexts“ ab. Bartal nahm die beiden großen Gruppen der aschkenasischen und der sephardischen Judenheiten zunächst bis hinein ins 18. Jahrhundert in den Blick. Dabei betonte er, dass diese kommunikativen Entitäten weit über die jeweiligen politischen Grenzen ihrer Siedlungsgebiete hinausgingen – insofern wiesen diese Ausführungen im Übrigen eine deutliche Parallele zur Anlage und zu den Vorträgen der benachbarten Sektion des Historikertags über Juden und Räume in Mittelalter und Früher Neuzeit auf.8

Bartal erinnerte in diesem Zusammenhang zurecht an den Begriff „Korporation“. Für beide große Gruppen der Judenheiten ist dabei bis zum Einbruch der Moderne nicht nur die interne Organisationsstruktur in Form der Kehillot (sing. Kehila, auch: Kahal, die traditionelle jüdische Gemeinde) charakteristisch. Bartal verwies darauf, dass diese lokalen Korporationen eben auch einem Netzwerk über-kommunaler Organisation zuzurechen sind. Über Sprache, religiöses Brauchtum und ethische Vorstellungen konstituierten sich solche Netzwerke ebenso wie über familiäre Verbindungen oder die gemeinsame Anerkennung bestimmter Führungspersönlichkeiten. Bieten diese transterritorialen Kommunikationsstrukturen fraglos den Anlass für eingehende Untersuchungen jener Kontexte selbst, so gilt dies ebenso für Analysen, die sich der Transformation vormoderner jüdischer Organisationsformen angesichts des Einbruchs der Moderne widmen.

Die abschließenden Anmerkungen Bartals zu den einzelnen Referaten lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass die verschiedenen Judenheiten auf die Herausforderungen des Absolutismus, der Aufklärung oder anderer Formen der Modernisierung ebenfalls mit Transformationen reagierten. Diese sind aber nicht vorschnell verallgemeinerbar. Gleichwohl – und hier schienen die eingangs referierten Gedanken Diners wieder auf – legte seine Betrachtung den generellen Schluss nahe, dass Spuren der vormodernen, vor allem korporativen Verfasstheit in der Moderne in übernationalen jüdischen Organisationen ablesbar sind und einen wichtigen Hintergrund für moderne jüdische politische Bewegungen darstellen.

Bilanz

Mit der Präsentation der thematisch im Einzelnen sehr unterschiedlichen Forschungsprojekte ging die Herausforderung einher, diese Themen inhaltlich aufeinander zu beziehen bzw. sie untereinander zu diskutieren. Hier bot bereits der Kommentar Bartals eine willkommene Klammer um die vorangegangenen Vorträge. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass in der Tat insbesondere die Leitbegriffe „Kommunikation“ und „Raum“ geeignet sind, einen – wenn hier auch bewusst weit zu fassenden – Rahmen zu bilden, mittels dessen die Themen der Sektion über ihren jeweiligen Fokus hinaus breite Anschlussfähigkeit bieten.

Anmerkungen:
1 Diesen Zusammenhang hebt unter anderem die Zeitschrift Ab Imperio, insbesondere in Band 4 (2003) mit mehreren Beiträgen ins Bewusstsein; siehe darin vor allem die Einleitung: From the Editors, Jews as an “Imperial Nation”, S. 15–20.
2 Art. „Damascus Affair“, in: Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971, Bd. 5, Sp. 1249–1252; ausführlich: Frankel, Jonathan, The Damascus Affair: 'Ritual Murder', Politics, and the Jews in 1840, New York 1997.
3 Vgl. Zerubavel, Eviatar, Time Maps. Collective Memory and the Social Shape of the Past, Chicago, London 2003.
4 Frankel, Jonathan, The Crisis as a Factor in Modern Jewish Poltics, 1840 and 1881–1882, in: Troen, Selwyn Ilan; Pinkus, Benjamin (Hgg.), Organizing Rescue. National Jewish Solidarity in the Modern Period, London 1992, 33–49. Vgl. als neueste Monographie auf diesem Gebiet: Fink, Carol, Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, 1878–1938, New York 2004.
5 Vgl. Holenstein, André, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung 800–1800, Stuttgart 1991; Kiessling, Rolf, Under deß Römischen Adlers Flügel … Das Schwäbische Judentum und das Reich, in: Müller, Rainer A. (Hg.), Bilder des Reiches, Sigmaringen 1997, 221–253.
6 Vgl. Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall, München 1992; Theodore Weeks, Nation and State in Late Imperial Russia. Nationalism and Russification on the Western Frontier, 1863–1914, DeKalb 1996; Eli Lederhendler, Did Russian Jewry Exist prior to 1917? in: Yaacov Ro’i (Hg.), Jews and Jewish Life in Russia and the Soviet Union, Ilford 1995, 15–27.
7 Lessing, Theodor, Der jüdische Selbsthaß, Berlin 1930; Nordau, Max, Zionistische Schriften, hrsg. vom zionistischen Aktionskomitee, Köln, Leipzig 1909; Schwara, Desanka, Luftmenschen – Ein Leben in Armut, in: Heiko Haumann (Hg.), Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2003, 71–222.
8 Siehe den Tagungsbericht von Müller, Jörg, HT 2004: Juden und Räume. Selbstgestaltung und Fremdbestimmung in Europa während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, H-Soz-u-Kult (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=458).

http://www.historikertag.uni-kiel.de/
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