HT 2012: Wiedergänger und Neugeborene. Das Renaissance-Narrativ in der (post-)modernen Historiographie

HT 2012: Wiedergänger und Neugeborene. Das Renaissance-Narrativ in der (post-)modernen Historiographie

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
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Von
Sita Steckel, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Das Narrativ von der ‚Renaissance’ ist ein Erbe, das die Geschichtswissenschaft seit ihrer Konstitution als Disziplin im 19. Jahrhundert in ewiger Jugendlichkeit neu hervorzubringen scheint. Bis heute gibt die Erzählung der Wiedergeburt des Alten als zeitlos Guten nicht nur die Grenzen diverser historischer Forschungsfelder von der Spätantike bis zur Aufklärung vor. Trotz zumeist kritischer Diskussion der Fachwissenschaft zu Mittelalter und Frühneuzeit hat das Narrativ der Renaissance(n) vor allem das populäre Geschichtswissen in ewiger Wiederkehr des Ähnlichen zutiefst durchdrungen.

Die von ANJA RATHMANN-LUTZ (Basel) unter dem Titel „Wiedergänger und Neugeborene. Das Renaissance-Narrativ in der (post-)modernen Historiographie“ organisierte Sektion brachte die Thematik angesichts aktueller Debatten um die Moderne und ihre Periodisierung und Lokalisierung erneut auf die Tagesordnung. Ausdrücklich wollten die durchgängig mediävistisch ausgewiesenen Sprecher/innen die Reflexion des Faches über Metaerzählungen fortsetzen, die sich etwa auf dem Historikertag 2004 in der Sektion „Meistererzählungen vom Mittelalter“ geäußert hatte.1 Die Akzente lagen hier allerdings sehr viel deutlicher auf forschungsstrategischen und pragmatischen Aspekten.

Den ersten Schwerpunkt der Sektion bildeten die einleitenden Überlegungen von Anja Rathmann-Lutz, die durch eine Fallstudie zum Narrativ des „12. Jahrhunderts im Strudel der Geschichtsbilder“ verdeutlicht wurden. Wie Rathmann-Lutz programmatisch äußerte, ergebe sich aktueller Reflexionsbedarf einerseits aus der unauflösbaren Verbindung, die identitätsstiftende Erzählungen über die ‚Renaissance’ (sowie über mehrere mittelalterliche ‚Renaissancen’ seit dem frühen Mittelalter) mit Erzählungen über die Moderne eingegangen sind: Vormoderne Renaissancen stehen mittlerweile nicht nur in einem sinnstiftenden Spannungsverhältnis zu derjenigen Moderne des 19. Jahrhunderts, in der sie populär wurden. Sie müssen auch in Zusammenhang mit einer Gegenwart gebracht werden, die man neuerdings als Teil einer Multiplen Moderne oder als Postmoderne betrachten kann. Problematischer denn je würden derzeit etwa die traditionell auf nationale Sinnstiftung ausgerichteten Bezüge von Renaissance(n). Demgegenüber sei das Renaissance-Narrativ in einigen historischen Teildisziplinen, nicht zuletzt in kunstgeschichtlichen Arbeiten zur Zeitenwende um 1500, zuletzt dezentriert und durch neue Blickpunkte angereichert worden. In der Mediävistik werde dagegen eine solche ‚befreiende’ Dezentrierung des Narrativs noch nicht ausreichend genutzt – obwohl sie vielfältige Potentiale berge.

Wie die weiteren Überlegungen zum Narrativ von der ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts’ deutlich illustrierten, problematisierte die mediävistischen Fachdebatte bislang vor allem die Frage, ob der frühzeitig bis auf das Früh- und Hochmittelalter ausgeweitete Begriff und das Konzept einer ‚Renaissance’ für diese Zeiten inhaltlich passend seien. Demgegenüber etablierte Rathmann-Lutz nachdrücklich die Frage, was die Renaissance-Erzählung so attraktiv mache. Sie hob einerseits die pragmatische Faszinations- und Durchsetzungskraft hervor, die die Erzählung eines kreativen, flexiblen, individuellen Neuanfangs aus einer Zeit archaischer Starre nun einmal berge. Sie betonte jedoch andererseits die Fruchtbarkeit, die das in allen historischen ‚Renaissancen’ wiederkehrende Element eines kreativen Umgangs der Zeitgenossen mit Anachronismen und der Gleichzeitigkeit verschiedener kultureller Traditionen für neue Formen der Geschichtsdarstellung berge.2

Auf eine stärkere und gewissermaßen klügere Nutzung solcher dynamisierenden Ansätze lief auch ihr Plädoyer hinaus: Wie Rathmann-Lutz nachvollzog, ist in der Forschung schon vielfach versucht worden, den Begriff der ‚Renaissance’ durch andere Bildungen zu ersetzen. Man hat ihn innerhalb der Mittelalterforschung durch Differenzierung von ‚Renaissance’, ‚Reform’, ‚renascence’ etc. zu präzisieren versucht. Nur stark modernisierungstheoretische Darstellungen nutzten ihn tatsächlich überhaupt im Sinne einer strikt abgrenzenden Periodisierung und Verknüpfung verschiedener linearer Tendenzen der Innovation (typischerweise Rationalisierung, Bürokratisierung, Individualisierung, Säkularisierung, Professionalisierung und andere). Potential liege demgegenüber darin, das ‚Gefäß’ des Renaissance-Narrativs neu zu füllen. Gerade weil die Beschäftigung mit ‚Renaissance’ im Bereich des Handbuch- und Populärwissens so etabliert sei, eigne sich das Narrativ dazu, neuartig additives, komparatives und polyzentrisches Erzählen von Geschichte zu ermöglichen

Der Vortrag von JAN RÜDIGER (Frankfurt am Main) zu „Defizienzdynamiken oder: Warum eine Renaissance nicht gelingen darf“ baute die Frage nach Nutzen und Attraktivität des Motivs der Renaissance aus. Wie Rüdiger eröffnend an Beispielen verdeutlichte, teilen Darstellungen der Renaissance typischerweise bestimmte Motive positiver oder nostalgischer Vergangenheitsdarstellungen, die etwa auch in der Darstellung der zukunftsfreudigen 1960er-Jahre begegnen. In letzteren wurde freilich wiederum auf die Golden Twenties als Zeit eines Aufbruchs und einer kulturellen Jugendlichkeit verwiesen. Wie verschiedene historische Konzepte zyklischer oder kreisender Zeitalter transportiere das Renaissance-Narrativ auch Motive der Jugendlichkeit und Vergreisung, die anthropologisch verankert wirken. Demgegenüber zeichne sich die Vorstellung von einer Renaissance jedoch auch durch Linearität und Bewußtsein des Verlustes des Alten aus – das Rad der Geschichte lasse sich nicht zurückdrehen, und die Wiedergeburt der Antike werde innerhalb des Euromediterraneum typischerweise eben nicht als Restitution, sondern als Überbietung gedacht. Dem schloss Rüdiger die Frage an, ob man möglicherweise die Linearität und die Konzeption eines eng mit der eigenen Gegenwart verzahnten ‚goldenen Zeitalters’ der Renaissance als besonderes Kennzeichen europäisch-westlicher Geschichtsschreibung sehen müsse. Wie er postulierte, könnte man der Vorstellung einer Renaissance möglicherweise sogar spezifische, handlungsleitende Wirkung und damit besondere Wirkmächtigkeit attestieren, da sie implizit zur (Wieder-)Herstellung eines als ‚golden’ angesehenen Zustands auffordere. In dieser Wendung könne also die im Renaissance-Narrativ transportierte Defizienzerfahrung (einer Vorstellung eines bereits verlorenenen goldenen Zeitalters) als mögliche Ursache für europäische Besonderheiten gesehen werden. Er sprach sich daher für einen Ausbau der Erforschung des Narrativs in der vergleichenden Historiographiegeschichte aus.

Der Vortrag von STEFFEN PATZOLD (Tübingen) widmete sich eher den inhärenten Problematiken des Renaissance-Narrativs als dem Begriff selbst. Er stellte unter dem Titel „Rückkehrfiguren heute: Renaissancen des Mittelalters in der Nachmoderne?“ konsequent die Abgrenzung Moderne/Vormoderne in den Vordergrund. In direktem Bezug auf die ‚Revolte der Mediävisten’ zu Beginn des 20. Jahrhunderts mahnte Patzold aufgrund aktueller Entwicklungen ebenfalls erneute Reflexion an: Wenn Erzählungen vom Beginn der Moderne formuliert oder eine Unterscheidung von Moderne und Vormoderne vorgenommen werden solle, müsse durchaus mitreflektiert werden, was man unter Moderne verstehen will. Die derzeitige Dichotomie von Moderne und Vormoderne werde jedoch durch zahlreiche ‚virulente Rückkehrfiguren’ in Frage gestellt. Sie reichten von Szenarien eines Neomedievalismus, in dem aufgrund des Verschwindens von Nationalstaaten mit entgrenzten Kriegen zu rechnen sei, bis zu Parallelisierungen von Moderne und Mittelalter, die sich auf Phänomene des Medienwandels und der Performanz beziehen. Angesichts dieser ‚Modernen ohne Fortschrittsoptimismus’ stelle sich die Frage, inwiefern auch Mediävisten ihre typischen Annahmen und Darstellungsgewohnheiten überprüfen müssten. Wenn die Moderne nicht länger durch Charakteristika wie feste Staatlichkeit oder strikte Einhegung von Religion konturiert werde, mache es weniger Sinn, ein ebenfalls ohne feste Staatlichkeit oder Einhegung von Religion gedachtes Mittelalter als Epoche der Alterität dagegenzuhalten.

Aus den entsprechenden Verschiebungen ergebe sich für Mediävisten daher die Notwendigkeit oder zumindest das Potential, aus aktuellen Gegenwartsdiagnosen neue Fragestellungen abzuleiten. Beispielhaft verwies Patzold auf Ansatzpunkte, wie sie Giddens zur Erklärung der Dynamik der Moderne heranzieht (Trennung von Raum und Zeit, Entbettung und Umordnung sozialer Beziehungen durch symbolische Zeichen und Expertensysteme). Fragen nach solchen Mechanismen könnten eine genauere Darstellung und Graduierung bestimmter Dynamisierungsperioden erlauben, wobei die vorhandenen Ergebnisse zu mittelalterlichen Renaissancen wie der ‚karolingischen Renaissance’ als eine Art Testfälle gebraucht werden könnten.

In seinem Schlusskommentar fasste FRANK REXROTH (Göttingen) kommentierend die Problemfelder zusammen, die in den Vorträgen angesprochen worden waren. Wie er hervorhob, war die Sektion vor allem durch die Abwendung von einem kritisch-historisierenden Ansatz gekennzeichnet und eröffnete mit der Frage nach Attraktivität und Nutzen des Renaissance-Narrativs ein breiteres Feld. Auf diesem Feld, so Rexroth, könne in der Beurteilung von Potential und Problematik des Renaissance-Narrativs die etablierte Unterscheidung von ‚Geschichtsforschung’ und ‚Geschichtserzählung’ hilfreich sein. Eine Beschäftigung mit Problematiken älterer Renaissance-Narrative zeige schnell, dass diese vor allem auf der Ebene der Geschichtserzählung lokalisiert würden. Aus Geschichtserzählungen diffundierten zudem einschlägige narrative Strukturen auch in die populäre Geschichtsdarstellung. Auf diesen unterschiedlichen Ebenen gebe es jedoch ganz unterschiedliche Weisen der Nutzung und unterschiedliche Problematiken des Narrativs. Die amerikanische Mediävistik habe etwa das Narrativ von der ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts’ erfolgreich gegen die ältere ‚Italienische Renaissance’ in Stellung gebracht, um so Legitimität für ihren Gegenstand zu erzeugen. Darüberhinaus fungiere der Verweis auf ‚Renaissance’ in der breiteren amerikanischen Öffentlichkeit aber als knappe Chiffre für ein bestimmtes Wertschema, in dem etwa den Faktoren der Bildung bzw. generell der Ideen hohe gesellschaftliche Wirkung zugesprochen würde oder Präferenzen für Säkularität, Pluralisierung etc. geäußert würden. Gerade diese grundlegenden Annahmen (etwa, dass ein Aufschwung des Bildungswesens historisch mehr Säkularität hervorbringt) würden aktuell jedoch entkoppelt, was auch Rückwirkungen habe. Bei der weiteren Untersuchung von Renaissance-Narrativen könnte es sich als hilfreich erweisen, die verschiedenen Ebenen historischer Sinnstiftung stärker zu trennen.

Insgesamt wurde in der Sektion somit nicht nur die Forderung nach einer produktiven Beschäftigung mit der Historiographiegeschichte der jüngsten Vergangenheit erhoben, die über die bisherige kritische Begriffsreflexion zu den ‚Renaissancen’ innerhalb hochspezialisierter Zusammenhänge hinausgeht. Explizit wie implizit wurde auch die Frage aufgeworfen, wie sich die aktuelle Geschichtswissenschaft angesichts eines sich wandelnden Gegenwartsverständnisses öffentlich positionieren kann. Müssen neue Narrative für die Fachwissenschaft oder – wie mehrfach angedeutet wurde – für eine breitere Öffentlichkeit produziert werden? Sind nach Verabschiedung eines linearen Modernisierungsmodelles dabei neue Formen eines polyzentrischen Erzählens aufzugreifen, wie von Rathmann-Lutz gefordert? Was wären Themen und Anordnungskategorien solcher Narrative? Können Erzählungen über ‚Renaissancen’ dazu dezentriert und angereichert werden, oder sparen sie zu deutlich bestimmte Bereiche aus? Es mag etwa gestattet sein, nach Episoden ‚religiöser Bewegungen’ und politischer wie religiöser Vereindeutigungsprozesse zu fragen, die zwischen Spätantike und Aufklärung stets gewissermaßen das ‚Andere’ der zahlreichen Renaissancen des 9., 12. und 14.-16. Jahrhunderts bilden.

Doch scheint es durchaus möglich, diejenigen Dynamiken ins Zentrum differenzierender Untersuchungen und Darstellungen zu rücken, die bislang vor allem in ‚Renaissance’-Motivik verhandelt wurden – und so nicht nur von einer multiplen Moderne, sondern gewissermaßen auch von einer multiplen Vormoderne auszugehen, die sowohl von Pluralisierungs- wie von Vereindeutigungsprozessen gekennzeichnet ist.3 Dazu boten die Vorträge eine Reihe von Ansatzpunkten: Im Sinne Rüdigers und Rexroths wäre sicherlich zunächst noch einige Historisierungsarbeit und Funktionsbestimmung an älteren Narrativen zu leisten. Wie Rathmann-Lutz und Patzold betonten, bieten sich aber auch verschiedene Neufokussierungen von Mechanismen der Transformation an, die beispielsweise an Pluralisierung, gewandelten Zeit- und Anachronismuskonzepten, Entbettungsprozessen oder globalen und lokalen Verflechtungen festgemacht werden können.4 Überholte ältere Renaissance-Narrative wird man so zwar sicherlich nicht völlig überschreiben oder gar aus dem Bereich des populären Geschichtswissens verdrängen können. Wie die Sektion zeigte, könnten kritisch unterfütterte Neuentwürfe aber über den bisherigen, eher dekonstruierenden Umgang mit Renaissance-Narrativen deutlich hinausführen.

Sektionsübersicht::

Sektionsleitung: Anja Rathmann-Lutz (Basel)

Anja Rathmann-Lutz (Basel): Einführung

Anja Rathmann-Lutz: Das 12. Jahrhundert im Strudel der Geschichtsbilder

Jan Rüdiger (Frankfurt am Main): Defizienzdynamiken oder: Warum eine Renaissance nicht gelingen darf

Steffen Patzold (Tübingen): Rückkehrfiguren heute: Renaissancen des Mittelalters in der Nachmoderne?

Frank Rexroth (Göttingen): Kommentar

Anmerkungen:
1 Frank Rexroth (Hrsg.), Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen, Historische Zeitschrift – Beihefte N.F. 46, München 2007.
2 Vgl. für dem zugrundeliegende Überlegungen zur Erforschung historischer Zeitkonzepte die Überlegungen im Rahmen des von Anja Rathmann-Lutz und Miriam Czok (Duisburg-Essen) geleiteten DFG-Netzwerks ‚ZeitenWelten’ (<http://www.zeitenwelten.unibas.ch>) sowie die Links ebd. (<http://zeitenwelten.unibas.ch/?page_id=51>) (20.11.2012).
3 Vgl. zur Problematisierung von Pluralisierung und Vereindeutigung in Renaissance und Reformation etwa James Simpson, Reform and Cultural Revolution 1350-1547 (The Oxford English Literary History, 2), Oxford 2004; mit Überlegungen zum Verhältnis von säkular-pluralisierenden und religiösen Tendenzen im Mittelalter Sita Steckel, Säkularisierung, Desakralisierung und Resakralisierung. Transformationen hoch- und spätmittelalterlichen gelehrten Wissens als Ausdifferenzierung von Religion und Politik, in: Karl Gabriel, Christel Gärtner / Detlef Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Ausdifferenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012, S. 134-175 sowie Alexandra Walsham, The Reformation and the Disenchantment of the World Reassessed, in: Historical Journal, 51.2 (2008), s. 497-528.
4 Vgl. mit ähnlichen Überlegungen Antje Flüchter, Tagungsbericht The Making of Religion? Re-Describing Religious change in Pre-Modern Europe. 29.04.2011-30.04.2011, Harvard, in: H-Soz-u-Kult, 01.08.2011, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3751>.


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