HT 2004: Mythos und Raum. Identitätsbildungs- und Legitimationsstrategien am Beispiel ausgewählter ostmitteleuropäischer Grenzregionen

Von
Stephanie Zloch, Berlin

Die historische Mythenforschung ist seit einem Jahrzehnt im Aufschwung begriffen. Wenn auch eine präzisierte Definition des Begriffs "Mythos" noch ausstehen mag, so haben die bisher erschienenen empirischen Arbeiten, gestützt auf aktuelle kulturwissenschaftliche und konstruktivistische Ansätze, bereits wichtige Erkenntnisse über Funktion und Wirkung von Mythen vermitteln können. Im Vordergrund des Forschungsinteresses standen vor allem ereignis- und personenbezogene Mythen; die räumliche Dimension fristete, analog zur Entwicklung in der deutschen Geschichtswissenschaft insgesamt, auch in der Mythenforschung eher ein Schattendasein. Dementsprechend sei eine fundierte theoretische Analyse des Verhältnisses von Mythos und Raum nach wie vor ein Desiderat, stellte Heidi Hein (Herder-Institut, Marburg) im Eröffnungsreferat zu der von ihr geleiteten Sektion "Mythos und Raum. Identitätsbildungs- und Legitimationsstrategien am Beispiel ausgewählter ostmitteleuropäischer Grenzregionen" fest. Ein Angebot zu einer solchen Theoriebildung waren die von Hein vorgetragenen Reflexionen zum Mythos-Begriff, die systematisch auf ihre Anwendungsmöglichkeiten für den Raum-Bezug abgeklopft wurden.

Als definitorischer Ausgangspunkt diente Hein die Beschreibung des Mythos als eine identitäts- und sinnstiftende Erzählung, die mit ihrer selektiven Interpretation der Vergangenheit auf gegenwärtige Machtansprüche abzielt und das Bedürfnis nach kollektiver Selbstvergewisserung erfüllt. Der Mythos reduziert Komplexität und spricht Emotionen an, damit eignet er sich sehr gut zur Mobilisierung von Massen. Da es sich bei einem Mythos um ein Konstrukt handelt, können sich in veränderten gesellschaftlichen Kontexten Funktionen des Mythos wandeln und neue Deutungsperspektiven eröffnen. Ein Hauptelement der Identitätsbildung besteht in der Abgrenzung von Anderen. Durch Mythen sollen die Einheit eines Kollektivs gefördert und Trennlinien nach außen gezogen werden. Hier nun kommen die räumlichen Bezüge ins Spiel. Der Raum, selbst ein kognitives Konstrukt, wird von modernen Territorialstaaten und sozialen Großgruppen wie der Nation zur Bildung kollektiver Identität benötigt. Raum-Mythen sind daher in erster Linie dort zu vermuten, wo Räume definiert und ihr Besitz beansprucht, legitimiert und gegen konkurrierende Ansprüche verteidigt werden müssen. Diese Kriterien treffen vor allem auf so genannte Grenzgebiete zu. Dabei werden die Grenzlage oder die vermeintlich fehlende Kontur eines Territoriums oft erst als solche konstruiert, um sie dann durch entsprechende Raum-Mythen zu kompensieren. Eine Variante stellen Territorien dar, über deren Verlust kein Zweifel besteht, denen aber Eigenschaften zugeschrieben werden, die die jeweilige Region in einer verklärenden Rückschau zu einem Faszinosum stilisieren, so etwa das multikulturelle Galizien des Habsburgerreichs.

Für die Erkundung von Raum-Mythen bietet das östliche Mitteleuropa mit seiner Überlappung nationaler, konfessioneller und sozialer Identitäten ein exzellentes Anschauungsmaterial. Dem bisherigen Forschungsstand entsprechend, waren die Vorträge der Sektion weniger als Präsentationen bereits fertig gestellter Arbeiten, sondern vielmehr als durchweg spannende Expeditionsreisen in historiographisches Neuland angelegt.

Einen ersten Schritt stellt sicher die Identifizierung und Dekonstruktion eines Mythos dar. Hierbei ist besondere Umsicht geboten, um nicht durch die Auswahl von Texten und Bildern, die den Mythos dokumentieren sollen, selbst an der Konstruktion eines Mythos zu stricken. Diese Klippen umschiffte gekonnt Olaf Mertelsmann (Tartu) in seinem Vortrag über die Mythisierung der estnischen Stadt Narva als Zivilisationsgrenze und Bollwerk gen Osten. Tatsächlich befanden sich beide Ufer des heutigen Grenzflusses Narowa Jahrhunderte lang im selben Staatsverband, die russische Stadt Ivangorod war gar von 1645 bis 1945 ein Stadtteil Narvas. Die Hauptgegner waren für die estnische Nationalbewegung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht die Russen, sondern die deutschbaltischen Großgrundbesitzer. Erst die stalinistische Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg veränderte dieses Feindbild grundlegend. Entgegen der für Mythen typischen Behauptung einer langen Kontinuität (Die Esten "standen für die Aufrechterhaltung dieser Grenze 5000 Jahre lang ein") hatte sich das Bewusstsein von einer markanten kulturellen Scheidelinie erst im 20. Jahrhundert entwickelt.
Dabei wurde das von den Esten seit den 1940er Jahren gepflegte Bild von der Zivilisationsgrenze zu Russland ursprünglich ausgerechnet von der deutschbaltischen Publizistik des 19. Jahrhunderts konstruiert.

Wenn bereits bei einem relativ jungen Mythos ein Wechsel der Trägerschichten festzustellen ist, dann kann von einem älteren Mythos ein noch größeres Maß an Wandlungsfähigkeit erwarten werden. Dies demonstrierte Heidi Hein am Beispiel des antemurale-Mythos in der polnischen Geschichte. Der Begriff "Vormauer" ist dual konzipiert: er verweist auf die Abgrenzung von Anderen und beinhaltet zugleich ein Bekenntnis zur eigenen Gemeinschaft. Schon im Spätmittelalter konnte der antemurale-Mythos, der auf eine vermeintliche Grenzlage Polens nach Osten hin rekurriert, seinen Wirkmechanismus zur Identitätsstiftung und Selbstbestätigung entfalten. Die Abwehrhaltung galt der russischen Orthodoxie und in den folgenden Jahrhunderten zunehmend auch dem Osmanischen Reich. Mit dem Verweis auf Polens Rolle als antemurale des Katholizismus und der abendländischen Kultur konnten sowohl die Teilnahme an den Türkenkriegen als auch die Machtkämpfe mit Russland legitimiert werden. Im 19. Jahrhundert erfuhr der Mythos eine Umdeutung von der antemurale christianitatis zur antemurale libertatis. Demnach sah Polen seine historische Aufgabe nun als Vorkämpfer für die Freiheit der Völker Europas. Dieses Motiv half in der Folgezeit, so unterschiedliche historische Kontexte wie den Sieg gegen Sowjetrussland bei Warschau 1920 ("Wunder an der Weichsel") und den Beitrag der Solidarnosc zum Sturz des Kommunismus in Mitteleuropa 1989 sinnstiftend zu verbinden.

Sowohl der estnische als auch der polnische antemurale-Mythos wurden im Vorfeld der Referenden über den EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten wieder aufgegriffen. Auch wenn sich die Trägerschichten diametral unterschieden (in Estland wurde so von den EU-Anhängern argumentiert, in Polen eher von den EU-Gegnern) und der Erfolg dieser Mobilisierungsstrategie schwer zu quantifizieren ist, zeigen diese Beispiele jedoch, dass Raum-Mythen keineswegs als nostalgisches Relikt vergangener Zeiten obsolet geworden sind, sondern immer noch als willkommenes Instrument in der politischen Auseinandersetzung dienen.

Mit Hilfe eines Mythos wird versucht, komplizierte Sachverhalte zu ordnen, zu erklären und zur Sinnstiftung zu nutzen. Werden diese Kriterien angelegt, sind die östlichen Grenzlandschaften der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die Kresy, geradezu prädestiniert für eine mythische Betrachtung: Die Region ist geprägt von einer Überlagerung nationaler, konfessioneller und sozialer Kategorien, sie ruft dadurch eine Fülle sehr unterschiedlicher Assoziationen hervor und entzieht sich zugleich einer eindeutigen räumlichen Definition. Werner Benecke (Göttingen) führte die große Spannweite der Kresy-Deutungen vor, die allein im polnischen kulturellen Gedächtnis verankert sind. Die Kresy sind demnach sowohl ein Ort, in dem Polen mit der Christianisierung Litauens und der Verteidigung des Abendlands nach Osten einzigartige Beiträge zur europäischen Geschichte vollbrachte, als auch in der nationalistischen Perspektive der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ein künftiger Siedlungs- und Kolonisationsraum, eine noch nicht ausgeschöpfte Kraftquelle der Nation und Zukunftsverheißung. Dieses utopische Element, das auch in den Vorstellungen vom deutschen Osten, amerikanischen Westen oder Sibirien begegnet, erweist sich offenbar als ein wichtiges Distinktionsmerkmal von Raum-Mythen gegenüber ereignis- und personenbezogenen Mythen. Die reale Situation der Kresy als Notstandsregion nach dem Ersten Weltkrieg mit wirtschaftlichen und infrastrukturellen Schwächen, Flüchtlingsproblematik und Nationalitätenkonflikten konnte den Mythos nicht demontieren, auch nicht die traumatischen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs, im Gegenteil: Die Notlage stärkte den Mythos vielmehr und gab den Nährboden für eine neue Deutung als Märtyrer-Region.

Der Raum als gedachter Raum und Projektionsfläche gilt als ein wichtiges Konstruktionselement nationaler Identität. Die polnisch-nationale Aneignung der multiethnischen Kresy seit dem 19. Jahrhundert verlief den Ausführungen Beneckes zufolge jedoch nicht ohne Ambivalenz. Die romantischen Anhänger des Kresy-Mythos fanden in der Region für sich sowohl die "Wurzeln des Eigenen" als auch die "Exotik des Fremden". Aus dieser spezifischen Konstruktion von Nation speiste sich die Vorstellung von einer besonderen Kresy-Mentalität. Die ethnische Pluralität war allerdings oft nur ein Zusatzmerkmal; das polnische Element sollte die dominante Farbe im nationalen Kresy-Bild sein. Trotz dieser ethnozentrischen Tendenz traf der Kresy-Mythos bei den polnischen Nationalisten keineswegs auf allgemeine Akzeptanz. Roman Dmowski verfocht eine konkurrierende Nationsvorstellung, die Modernität, Kampfbereitschaft und einen hohen Organisationsgrad als ideale Eigenschaften der polnischen Nation ansah und die Kresy als "Museum zur Aufbewahrung ethnographischer Erscheinungen" verspottete. Der Mythos als einheitsstiftende Erfolgsgeschichte erhält in dieser Perspektive einige Kratzer. Nicht nur gegenüber anderen Ethnien oder Staaten konnten Raum-Mythen für Abgrenzung sorgen, sondern offenkundig auch Trennlinien innerhalb einer Nation markieren.

Nach 1945 setzte sich die polarisierende Wirkung des Kresy-Mythos verstärkt fort, konstatierte Jerzy Kochanowski (Warschau). Ein großer Teil der polnischen politischen Emigranten stammte aus den Kresy. Integrationsschwierigkeiten in der neuen Umgebung und die doppelte Heimatlosigkeit als Vertriebene und antikommunistische Oppositionelle förderten die verklärende Erinnerung an die Kresy: "Menschen, die aus den Kresy stammten, versuchten in London, Toronto oder New York immer noch auf die gleiche Weise wie in Wilna oder Lemberg zu leben". Inhaltlich durchlief der Kresy-Mythos einen ambivalenten Entwicklungsprozess: Während einerseits, anknüpfend an die Vorkriegstradition, die Kresy weniger als multikultureller, sondern vielmehr als polnischer Raum mit bestimmten regionalen Spezifika wahrgenommen wurde, kamen andererseits aus den Kreisen des polnischen Exils die ersten Überlegungen zur Versöhnung mit Ukrainern, Weißrussen und Litauern.

In der Volksrepublik Polen war der Umgang mit den Kresy stark von politischen Konjunkturen geprägt: während direkt nach dem Krieg die öffentliche Erwähnung der Kresy durchaus üblich war und entsprechend toleriert wurde, setzten ab 1946 Versuche ein, die politisch unliebsame Erinnerung zu bannen. Diese gingen bis in alltägliche Details, wie Kochanowski veranschaulichte: Geburtsorten in den Kresy wurde in offiziellen Dokumenten der obligatorische Zusatz "UdSSR" beigegeben, ja selbst Kinderlieder wurden umgedichtet, wenn sie Ortsbezüge zu den Kresy aufwiesen. Diese staatlichen Maßnahmen wurden freilich auf vielfältige Weise konterkariert, vor allem durch den Transfer von Kulturgütern (am bedeutendsten sicherlich der Umzug der Bibliothek Ossolineum von Lemberg/Lwów nach Breslau/Wroclaw), Kircheneinrichtungen und vielen kleineren Erinnerungsstücken in Privathaushalten.

Der Aufstand 1956 brachte die Kresy mit neuer Intensität in den öffentlichen Diskurs zurück. Die offiziellen Stellen in der Volksrepublik konnten den Kresy-Mythos nicht länger eindämmen, verfolgten aber nun die Strategie, die Kresy bei ihrer Erwähnung als abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit und integralen Raum der Sowjetunion zu präsentieren. Die Affinität zwischen Kresy-Mythos und politischer Opposition blieb somit erhalten, nicht zuletzt durch das Wirken von Schriftstellern. Die Kresy galten als Synonym für ein freies und unabhängiges Polen. Ähnlich der Entwicklung im Exil verblassten allmählich die Forderungen nach einer Wiederangliederung der Kresy an Polen, dafür mehrten sich die Stimmen, die die Erinnerung an die Kresy mit dem Eintreten für die Freiheit und Unabhängigkeit auch der Ukraine, Weißrusslands und Litauens verbanden.
Der Kresy-Mythos war auch nach 1945 durch die Abgrenzung gegenüber anderen Nationen und Staaten geprägt, gewann aber besondere Brisanz durch den innerpolnischen Deutungskampf zwischen staatlichen Stellen, Opposition und Exil.

Die mythische Aneignung eines Raums verlief also nicht zwingend entlang konfessioneller oder nationaler Trennlinien. Antje Johannig (Düsseldorf) zeigte anhand von literarischen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts die vielfältigen Möglichkeiten einer "mythischen Raumvermessung" Schlesiens auf, die vom Schlesischen Elysium der Barockliteratur über die Vorstellungen von Schlesien als Brückenlandschaft, Bollwerk gegen den Osten und "zerrissenes Land" nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zu den "Wiedergewonnenen Gebieten" der Volksrepublik Polen reichten. Für die Nationalisierung des Landschaftsverständnisses im 19. Jahrhundert stehen auf deutscher Seite paradigmatisch die Werke Gustav Freytags. Mit der Aufwertung deutscher und der Abwertung polnisch-slavischer Kulturleistungen wurde die preußische Inbesitznahme Schlesiens nachträglich legitimiert und über die Beschreibung der Landschaft als gleichsam "natürlicher" Vorgang vermittelt.

Zu dieser betont nationalen Perspektive gab es allerdings Gegenentwürfe, die den Pluralismus der Identitäten in Grenzregionen abzubilden versuchten. Im 20. Jahrhundert, als der Nationalitätenkonflikt in Oberschlesien seinen Höhepunkt erreichte, erschien die Konstruktion einer eigenen oberschlesischen Identität als viel versprechender Ausweg aus dem Kampf der Nationalismen. Vor allem von deutscher Seite wurde hierin einige Hoffnung gesetzt, wie der Roman "Ostwind" von August Scholtis zeigt. Es ist bis heute strittig, ob es sich hier um ein utopisches oder praktikables Modell handelt. Nachdem in der Volksrepublik Polen die "wiedergewonnenen Gebiete" einer schnellen "Repolonisierung" unterzogen werden sollten, war eine dezidiert regionale Wahrnehmung Schlesiens, zumal Niederschlesiens, wo kaum Anknüpfungspunkte für eine polnisch-nationale Mythenerzählung existierten, für polnische Autoren erst seit den 1980er Jahren und vor allem nach der politischen Wende möglich. Johannig resümierte allerdings, dass auch in stärker regional bezogenen Texten sowohl von deutscher als auch polnischer Seite wiederholt eine nationale Perspektive durchscheint.

Die ausführliche Analyse von Raum-Mythen vermag eine Reihe aktueller Fragestellungen der Geschichtswissenschaft aus ungewohnter Perspektive zu beleuchten: Das Spektrum der Vorträge reichte von der Nationalismusforschung über die Kulturgeschichte der sozialistischen Herrschaft im östlichen Mitteleuropa bis hin zu den divergierenden historischen Konstruktionen europäischer Identität in der gerade erst erweiterten Europäischen Union. Vor diesem Hintergrund kann die weitere Forschung zu Raum-Mythen auch für das zukunftsträchtige Projekt einer transnational orientierten Geschichtsschreibung einen guten methodischen Zugang bieten.

http://www.historikertag.uni-kiel.de/
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