HT 2004: Schlüsselbegriffe der politischen Kommunikation in West- und Mitteleuropa während der Frühen Neuzeit

HT 2004: Schlüsselbegriffe der politischen Kommunikation in West- und Mitteleuropa während der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Olaf Mörke, Volker Seresse
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2004 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Volker Seresse, Olaf Mörke

Eine Sektion des 45. Deutscher Historikertages beschäftigte sich mit dem Thema "Schlüsselbegriffe der politischen Kommunikation in West- und Mitteleuropa während der frühen Neuzeit" . Das Ziel der Initiatoren, Prof. Dr. Olaf Mörke und PD Dr. Volker Seresse (beide Kiel), war es, auf ein wenig bearbeitetes Feld der vormodernen politischen Kommunikation hinzuweisen und zugleich Vorarbeit für einen europäisch-vergleichenden Zugang zu politischen Schlüsselbegriffen zu leisten.

In seiner Einführung zur "Bedeutung von Schlüsselbegriffen der politischen Kommunikation für das Verständnis frühneuzeitlicher Herrschaft" definierte Volker Seresse einen Schlüsselbegriff als einen Begriff, in dem sich (1) wesentliche Züge des politischen Selbstverständnisses artikulieren. Schlüsselbegriffe sind demnach (2) oft normativ aufgeladen und werden (3) im argumentativen Streit verwendet, um die eigene Position zu begründen, sind also potentielle Kampfbegriffe. Darüber hinaus können Schlüsselbegriffe aber (4) auch umkämpfte Begriffe in dem Sinne sein, daß beide Seiten sie für ihre Position in Anspruch nehmen. Wenn in einem Gemeinwesen neue Schlüsselbegriffe auftreten oder sich die Bedeutung herkömmlicher Schlüsselbegriffe wandelt, so ist dies (5) ein deutlicher Hinweis auf wesentliche Veränderungen politischer und sozialer Natur. Hier liegt (6) die Bedeutung der Schlüsselbegriffe (und ihrer Erforschung): Sie dienen als Indikatoren, manchmal auch als Faktoren von Veränderungen der politischen Kultur. So formulierte es Seresse, angelehnt an eine Formulierung Reinhart Kosellecks, ehe er unter Verweis auf bestehende Ansätze zur Erforschung politischer Sprache (Cambridge School; Reichardts "Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe"; Projekt Nederlandse Begripsgeschiedenis) knapp auf die Forschungslage einging. Während zentrale Begriffe politischer Theoretiker z.T. gut erforscht sind, wissen wir über die Verwendung von Schlüsselbegriffen in der politischen Praxis nur wenig. Eine Ausnahme hiervon ist der Begriff des Gemeinwohls, des möglicherweise prominentesten alteuropäischen Schlüsselbegriffs vom 15. bis 18. Jahrhundert. Andere Schlüsselbegriffe wie Obrigkeit, Untertan, Landesvater, Gnade, Huld, Schutz und Schirm, Gute Ordnung, Freiheit, Freiheiten / Privilegien, ratio status oder necessitas haben erst vereinzelt Beachtung gefunden. Ihre Bedeutung für die politische Kommunikation läßt sich noch nicht bestimmen. Erst recht ist über das Verhältnis der einzelnen Begriffe zueinander wenig bekannt.

Prof. Dr. Manfred Groten (Bonn) unterstrich in seinem Beitrag zu "Schlüsselbegriffen des Selbstverständnisses städtischer Obrigkeiten im 15./16. Jahrhundert: Das Beispiel Köln" u.a. die zentrale Bedeutung des Gemeinwohlbegriffs für das Selbstverständnis des reichsstädtischen Magistrats. Ein weiterer Schlüsselbegriff war der des Rechts: Wesentliche Pflicht des Rates war es, wie aus zahlreichen normativen und pragmatischen Texten hervorgeht, den einzelnen Bürger umfassend "beim Recht zu halten", d.h. seine Freiheitsrechte ebenso wie eine gute Gerichtsbarkeit zu garantieren. In der Rheinmetropole vermied der Rat bis zum zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts ein allzu obrigkeitliches Auftreten. So verstanden sich die Ratsmitglieder zwar in ihrer Gesamtheit als "gnädige Herren", die den "getreuen, untertänigen" Bürgern gegenüberstanden, der einzelne Ratsherr aber wurde geduzt. In den 1570er Jahren jedoch fand eine tiefgreifende Veränderung im Sinne einer stärkeren Hierarchisierung der Rat-Gemeinde-Beziehungen statt. Dieser Wandel läßt sich nicht zuletzt in einem Wechsel des Mediums erkennen: Anstatt die Ratsbeschlüsse auf den hergebrachten Morgensprachen zu verkünden, erließ der Rat seit dieser Zeit gedruckte Edikte, in denen die Stadtgemeinde nicht mehr direkt angeredet wurde. Durch den Druck gewannen die Ratserlasse eine höhere Verbindlicheit, konnten allerdings - da schriftlich vorhanden - auch Gegenstand der Diskussion werden. Der hier angedeutete Wandel des Mediums ging mit der steilen Karriere des Begriffes der "Sorge / Sorgfalt" einher; bis zum Ende des Ancien Régime stellte sich der Magistrat als "Sorge tragende" Obrigkeit dar, oft ergänzt um das Adjektiv "väterlich". Gleichzeitig machte sich eine stärker affektbetonte Sprechweise bemerkbar.

Wie läßt sich die Entwicklung "vom Recht des Bürgers zum Sorgerecht der Stadtväter" erklären? Groten wies auf die innerstädtischen Probleme und Unruhe hin, die im Gefolge des Niederländischen Aufstands mit dem Zuzug verfolgter Calvinisten entstanden; die Ausweisung aller Nichtkatholiken im Jahr 1571 war nur ein Versuch, der Lage Herr zu werden, die Schwächung der Gaffeln zugunsten des Rates ein andere. Weil die folgenden Jahrzehnte kein Ende der Spannungen im Nordwesten des Reiches brachten, konnte sich die Abwendung vom ehemals eher partnerschaftlich geprägten städtischen Politikverständnis in Köln verstetigen. Daß zeitgleich mit der Krise der 1570er Jahre ein Generationenwechsel im Rat stattfand und die Professionalisierung des Ratsherrenamtes zunahm - da der Universitätsbesuch als Qualifikationsmerkmal für die Aufnahme in den Magistrat wichtig wurde - begünstigte den geschilderten Wandel, in dem Konfessionalisierung und Verobrigkeitlichung der politischen Sprache zusammenfielen. Alte Schlüsselbegriffe wie derjenige der Freiheit der Bürger blieben zwar erhalten, ließen sich in der innerstädtischen Politik aber nicht mehr wirkungsvoll gegenüber dem Magistrat einsetzen.

Prof. Dr. Martin van Gelderen (Florenz) behandelte unter der Überschrift "'Concordia': Niederländische Maler, englische Poeten und europäische Tyrannen" Schlüsselbegriffe der an inneren Konflikten reichen Geschichte der Niederlande und Englands im 17. Jahrhundert, wobei er Zeugnisse aus Malerei und Dichtung als Beiträge zur jeweiligen zeitgenössischen Debatte vorstellte. Wenn ein Maler des 17. Jahrhunderts das seinerzeit beliebte Motiv des eine Flotte bedrohenden Sturms aufgriff und eines der Schiffe den Namen "Eendracht" führte, dann lag es für den Betrachter nahe, einen Bezug zu aktuellen Auseinandersetzungen in der niederländischen Republik herzustellen. Schließlich waren Eintracht und Gerechtigkeit schon seit langem zentrale Schlüsselbegriffe der autonomen niederländischen Städte: keine gute Regierung ohne Gerechtigkeit, kein Bestand des Gemeinwesens ohne innere Einheit und konsensuelle Verfahren. Überdies ließ sich nachvollziehen, wie Schlüsselbegriffe, die bereits in der Antike prominent gewesen waren, während der frühen Neuzeit teilweise unter bewußtem Rückgriff auf die griechisch-römische Welt im alltäglichen publizistischen Meinungskampf verwendet wurden und umstritten sein konnten. Republikanisch gesonnene Protagonisten auf beiden Seiten des Kanals radikalisierten den Schlüsselbegriff der ‚Freiheit' als Gegenbegriff zur ‚Tyrannis' dadurch, daß jegliche Königsherrschaft mit Tyrannis gleichgesetzt wurde. Folglich war eine Monarchie mit der "wahren Freiheit", d.h. der republikanischen Selbstregierung des Volkes, unvereinbar. Die englischen Auseinandersetzungen wurden dadurch verschärft, daß nicht nur Puritaner das Königtum mit der Figur des Antichristen assoziierten. Andererseits nahm im Lauf des 17. Jahrhunderts gerade im Kontext der radikal-republikanischen Strömung ein Politikverständnis ohne religiöse Legitimation seinen Anfang. Für das Selbstverständnis der Niederlande läßt sich die Wirkmächtigkeit der gegensätzlichen Schlüsselbegriffe ‚Freiheit' und ‚Tyrannis' auch daran ablesen, daß der oranisch-niederländische Beitrag zur Glorious Revolution durch den Hinweis auf eine drohende Allianz der Tyrannen (sc. Jakobs II. und Ludwigs XIV.) und also als Verteidigung der Freiheit und des Gemeinwohls legitimiert wurde.

Volker Seresse stellte "Schlüsselbegriffe fürstlichen und landständischen Selbstverständnisses in Kleve-Mark und Bayern im 16./17. Jahrhundert" vor, wie sie in ständisch-fürstlichen Auseinandersetzungen, namentlich in Steuerkonflikten, zutage traten. Diese waren in Kleve-Mark, das seit 1609/1614 von Brandenburg beherrscht wurde,sehr heftig, bis sich schließlich der Große Kurfürst in den 1650er Jahren mit Gewalt durchsetzte. Dagegen verlief die Durchsetzung des Steuerstaates in Bayern ohne eskalierende Auseinandersetzungen und kann bereits um 1600 als abgeschlossen gelten. Dieser Unterschied zwischen beiden Territorien dürfte auch erklären, daß ein Schlüsselbegriff wie ‚Einigkeit' in den notorisch angespannten fürstlich-ständischen Beziehungen in Kleve-Mark wichtig war, nicht aber im wesentlich ruhigeren Bayern. Im übrigen finden sich die meisten Schlüsselbegriffe des fürstlichen Selbstverständnisses (u.a. Landesvater, Gnade, Schutz und Schirm), des landständischen Selbstverständnisses (u.a. Privilegien, Treue) sowie des gemeinsamen Politikverständnisses (Gemeinwohl, Liebe, Vertrauen) in beiden Territorien. Auf den ersten Blick veränderten sich diese Schlüsselbegriffe im untersuchten Zeitraum wenig. Bei näherem Hinsehen wird allerdings erkennbar, daß bestimmte Begriffe eine Konjunktur als Kampfbegriff erlebten, später aber eher formelhaft verwendet wurden (z.B. Reputation/Respekt). Andere Schlüsselbegriffe dienten mit der Zeit immer mehr dem Fürsten, kaum noch den Ständen als Argument. Bei manchen Begriffen stritten beide Seiten um die Deutungshoheit, etwa beim Gemeinwohl. Generell läßt sich eine Verfürstlichung der Schlüsselbegriffe erkennen, während das Prinzip der mutua obligatio, das die fürstlich-ständischen Beziehungen traditionell geprägt hatte, zurücktrat.

Die vergleichende Untersuchung der Schlüsselbegriffe zeigt also einerseits ihre starke Beharrungskraft - sie blieben fast ausnahmslos erhalten - andererseits den Wandel im Gebrauch durch langsame Veränderung, der je nach Territorium unterschiedlich ausfiel. Schlüsselbegriffe waren in Kleve-Mark und Bayern Indikatoren der jeweiligen Entwicklung und - insofern ihr argumentativer Gebrauch die Entwicklung beeinflußte - auch Faktoren.

Diese beiden Funktionen betonte in seinem Kommentar auch Dr. Hans Erich Bödeker (Göttingen). Er wies zunächst noch einmal darauf hin, daß unter der Geschichte von Schlüsselbegriffen nicht die Geschichte ihrer Bedeutungen, sondern die Geschichte ihres Gebrauchs zu verstehen ist. Er unterstrich, daß Schlüsselbegriffe sich durch ihre semantische Offenheit in der politischen Argumentation auszeichnen; gerade hierdurch ermöglicht ihre Untersuchung die Wahrnehmung von Veränderungen im Selbstverständnis ihrer Benutzer. Bei der Untersuchung des Gebrauchs von Schlüsselbegriffen sei unbedingt die kommunikative Situation zu beachten, ebenso die Medien. Was die durch van Gelderen einbezogene Bild-Rhetorik angehe, so stünde eine Quellenkritik der piktorialen Sprache noch aus. Abschließend plädierte Bödeker dafür, die Sprachlichkeit von Politik und die Kontroversialität von Schlüsselbegriffen ernst zu nehmen, folglich Politik auch als Streit um die Bedeutung von Schlüsselbegriffen zu untersuchen.

Eine Publikation der Sektionsbeiträge ist geplant.

http://www.historikertag.uni-kiel.de/
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