HT 2004: Europas Osten in der Wahrnehmung der Deutschen

HT 2004: Europas Osten in der Wahrnehmung der Deutschen

Organisatoren
Gregor Thum, Karl Schlögel
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2004 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Domnitz, Potsdam

Wie wahr ist das, was wir wahrnehmen? Da eine Wahrnehmung vom Wahrnehmenden abhängig ist und für diesen die Wahrheit darstellt, ist diese Frage rhetorisch. Wahrnehmungen spielen auch bei der Konstruktion von Räumen eine entscheidende Rolle. Dieser Prozess kann auch als die Konstruktion einer individuellen oder kollektiven "geographischen Wahrheit" verstanden werden, und der Berliner Geograph Hans-Dietrich Schultz brachte ihn mit dem inzwischen viel zitierten Slogan "Räume sind nicht, Räume werden gemacht" auf den Punkt.

In der Sektion "Europas Osten in der Wahrnehmung der Deutschen" ging es darum, auf welcher narrativen Grundlage in Deutschland ein "Osten" konstruiert wurde. Deutsche Befindlichkeiten und Bedürfnisse stießen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Ost- und Ostmitteleuropa als Projektionsraum, und unter vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Projektionen, außenpolitischen Optionen und inneren Befindlichkeiten der Deutschen entstand daraus die Sinnwelt "deutscher Osten". Mit dessen Charakterisierung als "dehnbarem Grenzland" deutete der Moderator Gregor Thum (University of Pittsburgh) die Problematik des nicht genau gefassten Raumes an. Im Mittelpunkt der Sektion standen Fragen nach den Mechanismen der Konstruktion und Wahrnehmung des "Ostens" sowie nach den Verbreitungsformen dieser Vorstellungen. In der bisherigen Forschung wurde das Thema einer deutschen Wahrnehmung des „Ostens“ noch nicht umfassend ausgearbeitet, es wurde aber bereits einige Male aufgegriffen.1

Das Spektrum der untersuchten Wahrnehmungen - analysiert wurden populäre Darstellungen von Publizisten, Forschern, Reisenden und politischen Akteuren - begann bei der Verinnerlichung des Bilds vom "Osten" während des Ersten Weltkriegs und der Zwischenkriegszeit. Es stellte die Basis für die späteren erneuten Expansionen dar, aber - so eine Hypothese der Veranstalter - war nicht dessen Ursache. Dafür bedurfte es einer konkreten "Volk-ohne-Raum"-Politik, die diese Perzeptionen instrumentalisierte und ihre Träger zum späteren Vernichtungskrieg mobilisierte. Darüber hinaus setzten sich die Referenten mit deutschen revisionistischen Projektionen auf den Kampf der makedonischen Guerilla auseinander. Das Panel schloss mit der Betrachtung sogenannter "Heimatliteratur" aus der Zeit nach 1945.

Dass deutsche Wahrnehmungen des "Ostens" vielfältig sein können, zeigte Vejas Gabriel Liulevicius (University of Tennessee) mit einer Analyse von populären zeitgenössischen Deutungen der Kämpfe des Ersten Weltkriegs. Anhand der "Ostpreußen-Chronik" Hermann Brauns und des Tagebuchs des Kriegsmalers Ludwig Dettmann 2 zeigte Liulevicius, wie religiöse Referenzen für eine Schilderung des "Ostens" als eines enthemmten, apokalyptischen Raumes genutzt wurden. Bei Braun erschienen Kosaken als "apokalyptische Reiter", die russische Invasion in Ostpreußen wurde als "Sintflut", der spätere "große Vormarsch" als "heiliger Krieg" ausgelegt.

Für den immer wiederkehrenden Topos der Weite Osteuropas fand Liulevicius bei Braun die Formulierung: "Das Unermessliche zu besiegen ist kühn und stolz". Doch die Erde, die Dörfer und die Gefangenen seien "grau, schmutziggrau". Liulevicius rekonstruierte bei Braun ein Nebeneinander von Motiven der Spiritualität, der Chance und der Depression, das seine Kontinuität allein in der deutschen Darstellung des Bürgerkriegs im Baltikum bei Josef Bischoff und Edwin Erich Dwinger 3 fand. Verweise auf Bevölkerungspolitik und die Ausbeutung der eroberten Gebiete fanden sich in diesen Kriegsbeschreibungen allenfalls am Rande.

Eine positiv besetzte "emphatische Ostorientierung, die heute vergessen ist" behandelte Gerd Koenen (Frankfurt am Main) mit der Wahrnehmung Russlands durch den Forschungsreisenden, Journalisten und Diplomaten der Zwischenkriegzeit Alfons Paquet. Neben der Korrespondententätigkeit für die "Frankfurter Zeitung" lag das interessanteste Verdienst dieser Figur in Vorschlägen an die Berliner Diplomatie, wie mit Russland und dem europäischen Osten insgesamt umgegangen werden könne. Dabei deckten die von ihm ausgearbeiteten Optionen ein Spektrum ab, das von kriegerischer Expansion in das Zarenreich hinein ("im Westen kein Durchkommen, im Osten liegt die Weite") 4 über Pazifizierungsstrategien für die eroberten Gebiete (interessanterweise mit Hilfe eines Judentums "als Vertreter und Bundesgenossen deutscher Kultur") bis hin zum Vorschlag einer Bindung Deutschlands an das junge Sowjetrussland reichte.

Koenen schilderte Paquet als schillernden Repräsentanten einer "Umwandlung der Nation zu einem Weltvolk", welches über einen "romantischen Imperialismus" ein "gesteigertes Weltgefühl" reproduzierte. In ironisierender Selbstdarstellung zeigte sich Paquet als "überzeugter deutscher Bourgeois mit einem Einschlag von europäischem Imperialismus". Koenens Frage, welche Beziehung Paquets Darstellungen zur deutschen Entwicklung insgesamt hatten, wurde mit der Erwähnung verschiedener deutscher außenpolitischer Befindlichkeiten angerissen, aber nicht ganz geklärt.

Die journalistische Verarbeitung von Optionen im "Osten", die bei Koenen anklang, aber nicht ausgeführt wurde, thematisierte Stefan Troebst (GWZO Universität Leipzig). Der Guerillakampf der "Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation" (IMRO), die von Bulgarien unterstützt in Jugoslawien operierte, wurde Anfang der 30er Jahre zu einer Referenz für deutsche Unterlegenheitskomplexe und dementsprechend in der zeitgenössischen Presse verarbeitet. Für die Darstellung des Kampfes als "Schrei nach Hilfe und Erlösung" im bulgarischen wie auch in den litauischen und madjarischen Völkern (Neue Preussische Kreuz-Zeitung) hatten zeitgenössische Publizisten historische Parallelen zwischen der makedonischen Frage und der deutschen Nachkriegsregelung gezogen, was sich in einer übergreifend über alle untersuchten Medien meist gleich lautenden Argumentation und Agitation für die makedonische "Freiheitsbewegung" äußerte.

So hatte auch Bodo Uhse, der spätere Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes, in den "Nationalsozialistischen Briefen" seines Förderers Otto Strasser "Makedonien den Makedoniern, Deutschland den Deutschen" gefordert. In diesem Kontext war "Europa" ein durchweg negativ besetzter Begriff und verwies auf den gegnerischen "Westen". Bulgarien kam hingegen die positive Funktion eines "Preußens des Balkans" zu, wobei diese Deutung in einer Linie mit der Tradition des deutsch-bulgarischen Bundes im Ersten Weltkrieg stand. Allein die Vossische Zeitung fiel aus dem Kanon heraus und heroisierte den Guerillakampf nicht. Sein Ende fand dieser Kult mit einer Distanzierung Hitlers von der IMRO.

Vielfältige Deutungsangebote zur deutschen Wahrnehmung des Ostens machte der Moderator Gregor Thum. Seine Untersuchung war bildlichen Darstellungen und metaphorischen Ausschmückungen des verlorenen "deutschen Ostens" in populären landeskundlichen Schriften der 50er Jahre gewidmet. Er zeigte, dass die Publikationen, welche in erster Linie die Bedürfnisse Vertriebener bedienten, Bilder von Natur- und Kulturlandschaften wiedergaben, die den "Deutschen Osten" letztlich dem Rezipienten als einen "Rückzugsraum vor der Moderne" (Thum) darboten. Der Verleger Franz Burda, der im Zweiten Weltkrieg Landkarten für die Wehrmacht anfertigen ließ und nach dessen Ende Schulbücher im Auftrag der französischen Besatzungsmacht druckte, schilderte als Autor eines dieser Heimat-Bildbücher 5 eine symbolhafte Urwüchsigkeit der Natur, als deren Verkörperung der Elch herhielt, während Darstellungen von Kirchenbauten die Kolonisierung und Kultivierung der Landschaften repräsentierten.

Autor Karlheinz Gehrmann hatte in "Vom Geist des deutschen Ostens" 6 folgerichtig eine "Entseelung" der Region nach 1948 konstatiert. Er kontrastierte eine kultivierte Natur aus der Zeit der deutschen Siedlung mit dem Bild von nach Westen vordringendem Steppengras. Weil die Vertreibung durch den Verlust regionaler Identitäten mehr als nur den territorialen Verlust bedeutete, lag die Funktion populärer Heimatliteratur darin, neues Identifikationspotential zu schaffen. Zusammen mit dem Verweis auf die Vielfalt von Quellen, welche die deutsche Wahrnehmung des Ostens produziert habe (Texte, Karten, Bilder sowie Architekturen von Gebäuden und Landschaften) mündete dies in Thums These, das Erinnern des "Ostens" sei Teil einer deutschen nationalen Kultur.

Insgesamt traf die Sektion auf großes Publikumsinteresse, ihre Struktur folgte konsequent dem Thema, und sie war in der Präsentation durchaus pointiert. Die Vorträge und Diskussionen vermittelten eine Vorstellung von den mit dem Gegenstand verbundenen Problemen, und sie provozierten Fragen. Wie ist beispielsweise Erinnerungspolitik zu beurteilen, wenn sie von der Tradition einer ausgeprägten eigenen Wahrnehmung an Stelle einer versuchten Annäherung an das Objekt ausgeht? Kann das Thema der deutschen Wahrnehmung des "Ostens" auch als Beziehungsgeschichte erforscht werden? Ist es nicht sinnvoll, die "spezifisch deutsche" Sicht mit Bildern zu vergleichen, die sich andere Nationen von ihren Nachbarn machen?

Gerd Koenen verwies auf britische Vorbilder für das imperiale Denken von Alfons Paquet; Stefan Troebst bemerkte, dass der makedonische Guerillakampf auch in Großbritannien, Frankreich, Italien und den Vereinigten Staaten positiv wahrgenommen wurde. Fragen aus dem Auditorium zielten auf die Verbreitung dieser Perzeption des "Ostens", wenn es auf der anderen Seite doch Autoren wie Günther Grass, Marion Gräfin Dönhoff und Siegfried Lenz gebe.

Dazu lautete eine These des Panels, dass die Verfasstheit der deutschen Gesellschaft darüber entscheide, in welcher Form sich "Ostsehnsüchte" ausprägten. Das "innere Gleichgewicht" entscheide darüber, ob es bei romantizistischen Konstruktionen bleibe. Ein Fehlen dieses Gleichgewichts, so die Feststellungen von Gerd Koenen und Vejas Gabriel Liulevicius, habe jedoch in der Zwischenkriegszeit zur "Dauerentzündung imperialer Fantasien" beigetragen. Diese These führte zur Schlüsselfrage, die hier nicht zu beantworten war: Worin ein "inneres Gleichgewicht" genau bestehe und woher die Vorlagen für die Projektionen stammten, blieb unklar.

Anmerkungen:
1 Mühle, Eduard (Hg.), Germany and the European East in the twentieth century, Oxford 2003; Mallmann, Klaus-Michael, Deutscher Osten 1939-1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Darmstadt 2003.
2 Dettmann, Ludwig, Ostfront. Ein Denkmal des deutschen Kampfes in Bildern und Tagebuchblättern, Berlin 1938.
3 Bischoff, Josef, Die letzte Front. Geschichte der Eisernen Division im Baltikum 1919. Berlin 1935; Dwinger, Edwin Erich, Die letzten Reiter, Jena 1935.
4 Paquet, Alfons Hermann, Nach Osten!, Stuttgart 1915.
5 Burda, Franz, Nie vergessene Heimat. Das Bildbuch vom deutschen Osten, Offenburg 1952.
6 Gehrmann, Karlheinz, Vom Geist des deutschen Ostens, in: Mackensen, Lutz (Hg.), Deutsche Heimat ohne Deutsche. Ein ostdeutsches Heimatbuch. Braunschweig 1954, S. 129-157.

http://www.historikertag.uni-kiel.de/
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