HT 2018: Gewaltdynamik und gespaltene Gesellschaften: Holocaust, Besatzungsherrschaft und die Neukonfiguration sozialer Beziehungen (1939-1945)

HT 2018: Gewaltdynamik und gespaltene Gesellschaften: Holocaust, Besatzungsherrschaft und die Neukonfiguration sozialer Beziehungen (1939-1945)

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Kim Wünschmann, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München; Sebastian Gehrig, Department of Humanities, University of Roehampton

Forschungen zum Zweiten Weltkrieg, Holocaust und zur Massengewalt erfahren eine immer stärkere Ausdifferenzierung. Während oft monoperspektivisch oder mikrohistorisch einzelne Länder, Akteure oder Tatorte untersucht werden, fällt der Mangel an Arbeiten auf, die den gesamteuropäischen Kontext und die transnationalen Dynamiken der Geschichte zwischen 1939 und 1945 ins Zentrum ihres Erkenntnisinteresses rücken. Die hier zu besprechende Sektion tat genau dies und setzte analytisch an der Schnittstelle zwischen militärischem Konflikt, Okkupation und Genozid an. Sie verband die Präsentation von Fallbeispielen aus Ost- und Südosteuropa mit konzeptionellen Überlegungen zu gesellschaftlichen Neuordnungen unter dem Einfluss von Fremdherrschaft. Der hier praktizierte regional vergleichende Ansatz und die Verbindung von Mikro- und Makroebene zielten darauf, den Holocaust stärker im Kontext von Krieg und Besatzung zu setzen.

In ihrer Einführung betonten die Sektionsleiterinnen GAËLLE FISHER (München) und CAROLINE MEZGER (München) den immensen Druck, unter dem Gesellschaften unter Besatzung während des Zweiten Weltkriegs standen. Bereits vorhandene ethnische Konflikte und soziale Spannungen, vor allem in Regionen, deren Grenzen seit Langem umkämpft waren, radikalisierten sich mit der Etablierung der deutschen Militärmacht. Menschen fanden sich zwischen der Bevölkerungspolitik massiver imperialer Projekte, gruppenspezifischen Interessen und Erwartungen an eine nun mit neuer Macht durchzusetzende demographische Umgestaltung ihrer Gemeinschaften und der ganz individuellen Erfahrung von Fremdherrschaft, Kollaboration und Verfolgung wieder. Die jeweils spezifische Besatzungskonstellation hatte Auswirkungen auf das Erleben von Gewalt im Krieg und die Teilnahme an dieser Gewalt, die einerseits von den Besatzern mitgebracht wurde, andererseits sich unter Beteiligung lokaler Akteure zur genozidalen Gewalt steigern konnte. Wie beispielsweise der Blick auf die volksdeutsche Minderheit in der Vojvodina, einem multiethnischen Gebiet im heutigen nördlichen Serbien, zeigt, spielt der genaue Kontext der Besatzung eine entscheidende Rolle. Zwar führte die Mobilisierung von Volksdeutschen – gerade auch in Jugendbewegungen – zu einer Beteiligung dieser Bevölkerungsgruppe an antisemitischen Gräueltaten. Während sich der Holocaust jedoch im Banat mit fast präzedenzloser Geschwindigkeit entfaltete und die Region als eine der ersten in Europa für „judenfrei“ erklärt wurde, folgte die Verfolgung und Ermordung der Juden in der Batschka der Entwicklung in Ungarn, wo die endgültigen Deportationen erst im Frühjahr 1944 einsetzten und hauptsächlich von ungarischen Militär- und Gendarmerieangehörigen ausgeführt wurden.

Was ist Besatzung? Welche Auswirkungen hat sie und was macht sie mit Menschen? Diese grundsätzlichen Fragen bildeten den Ausgangpunkt für den Beitrag von TATJANA TÖNSMEYER (Wuppertal), die wichtige konzeptionelle Überlegungen zur Besatzung als Form kriegsinduzierter Fremdherrschaft anstellte. Auch Tönsmeyer unterstrich die transeuropäische Erfahrung von Besatzung, unter der während des Zweiten Weltkriegs auf dem Höhepunkt der deutschen Machtausdehnung 1942 etwa 230 Millionen Menschen zwischen dem Norden Norwegens und den griechischen Mittelmeerinseln sowie zwischen der französischen Atlantikküste und Regionen tief im Inneren der Sowjetunion lebten. Zwar bestand ein hoher ideologischer Konsens zwischen den einzelnen Formen der Besatzung, doch war deren Praxis geprägt durch eine typologische Vielfalt aus zivil- und militärverwalteten Gebieten. Das Verhältnis zwischen deutschen Besatzern und einheimischen Besetzten nahm unterschiedliche Gestalt an – obwohl grundsätzlich asymmetrisch, waren beide Seiten in vielfältiger Weise auf Interaktion angewiesen. Die Besetzten suchten nach Strategien des Sich-Einrichtens in der Fremdherrschaft. Dabei veränderten sich die sozialen Beziehungen. Neue Versorgunghierarchien mit deutschen Funktionsträgern an der Spitze katapultierten diejenigen in einflussreiche Positionen, die zum Beispiel durch Schwarzmarktgeschäfte von der Situation profitierten. Traditionelle Mittelschichten hingegen verarmten zusehendes. Was sich ebenfalls neu konfigurierte, waren Vertrauen und Misstrauen sowie das, was Tönsmeyer als „Bedrohungskommunikation“ analysierte. Über die Untersuchung dieser Bedrohungskommunikation lassen sich wichtige Einblicke in die Handlungspraxen in Besatzungsgesellschaften gewinnen. Den Blick auf die Geschlechterspezifik der Situation richtend, betonte sie, dass familienbasierte Formen der Absicherung in der Krise, so wie auch die Gesellschaften als ganze geprägt waren von der Abwesenheit von Männern. Dies brachte nicht nur Frauen, Alte und Junge in neue Rollen, es provozierte auch die Geschlechteridentität der verbliebenen Männer, die konfrontiert waren mit fremden Geschlechtsgenossen, welche nun das Sagen und die Gewalt über ihre Gemeinschaft hatten. In der Geschlechter- wie auch in der Generationenzusammensetzung unterscheiden sich Besatzungsgesellschaften somit deutlich von Friedensgesellschaften. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs stellten sie Menschen vor neue Herausforderungen, produzierten Gewaltverhalten, aber zuweilen auch Akte der Solidarität. Diese Dynamiken des sozialen Interagierens unter Besatzung noch stärker herauszuarbeiten, sah Tönsmeyer abschließend als die Aufgabe zukünftiger Forschung.

ALEXANDER KORB (Leicester) begann seinen Beitrag mit einer Mikrostudie aus Wolhynien in der nordwestlichen Ukraine – einem Gebiet, das 1941 von der Wehrmacht erobert wurde. Basierend auf den Erinnerungen des Überlebenden Eliyahu Jones rekonstruierte er das Wirken einer bemerkenswerten Koalition aus jüdischen Partisanen, Angehörigen der polnischen Zivilbevölkerung und Soldaten der Roten Armee, die sich in Erwartung eines Angriffs ukrainischer Nationalisten im Winter 1943/44 schmiedete und diesen dann gemeinsam abwehrte. Die Episode zeigt, wie sich in der lebensbedrohlichen Situation eines Bürgerkriegs zwischen Polen und Ukrainern, in der die deutschen Besatzer bis zum Frühjahr 1944 weitgehend abwesend waren, neue und unerwartete Allianzen konfigurieren konnten. Juden waren nicht ausschließlich Opfer – die Gewalt in der Region traf auch andere Gruppen – und traten im historischen Moment als Akteure in einer „Koalition des Lebens“ auf. Um das europäische Phänomen der Besatzungsbürgerkriege weiter zu ergründen, lenkte Korb anschließend die Aufmerksamkeit nach Jugoslawien auf den Unabhängigen Staat Kroatien. In seiner Gewaltgeschichte verquicken sich Bürgerkrieg, Genozid und Besatzung. Zwar fügten sich die Ordnungsvorstellungen kroatischer Nationalisten in vielerlei Hinsicht in ein von Hitler favorisiertes System sogenannter „Einvolkstaaten“ ein, die unter Führung des Deutschen Reiches das „Neue Europa“ prägen sollten. Allerdings weisen die regionalen demographischen und territorialen Umgestaltungspläne zu diesen deutschen Vorstellungen auch große Unterschiede auf. In einer Region, in der kroatische Nationalisten Muslimen, serbischen Aufständischen und einer jüdischen Bevölkerung gegenüberstanden, konnte Gewalt ethnisierend wirken. Dabei verknüpfte sich der Holocaust mit Vertreibung und Mord anderer Bevölkerungsgruppen. Im Versuch, einen ethnisch homogenen Staat herzustellen, öffneten Krieg und Besatzung der faschistischen Ustascha also ein Zeitfenster, um ein Gebiet demographisch radikal zu verändern. Für die Besatzungsmacht war es teils schwer, die Dynamiken der sozialen und politischen Neukonfiguration vor Ort zu kontrollieren. Als Initiatoren dieser Dynamiken waren die Deutschen ohne Zweifel die Hauptverantwortlichen, womit sich einheimische Gewalt, auch nach dem Krieg, allerdings relativieren ließ und lässt. Korb schloss mit der Beobachtung, dass auch das Ende von Besatzung stärker erforscht werden muss. Gerade das Beispiel Jugoslawien zeige, dass mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Fremdherrschaft keinesfalls auch die Gewalt endete.

MELANIE HEMBERA (Tübingen) wandte sich in ihrem Beitrag einer Lokalstudie zur Stadt Tarnów in Galizien zu. Sie fragte nach Alltagslogiken und neuen soziale Hierarchien, die sich nach einer bereits antijüdisch geprägten Atmosphäre vor Kriegsbeginn durch die Errichtung des dortigen Ghettos herausbildeten. Hembera argumentierte, dass das Vorkriegssozialgefüge jenseits ethnischer Hierarchisierung in der ersten Phase der deutschen Besatzung weitgehend erhalten blieb. Nach der Ghettobildung im Jahr 1942 wurde der Massenmord für die Einwohner Tarnóws Teil des Alltags. Ausdruck dieser Normalisierung der Gewalt waren neue Sozialpraktiken, die zum Beispiel darin Ausdruck fanden, dass deutsche Kinder nun anfingen, „Juden erschießen“ zu spielen. Die Mitarbeit der Bevölkerung war notwendig, um eine neue lokale Ökonomie zu schaffen, die auch eine „help industry“ im Austausch mit dem Ghetto und dessen Insassen etablierte. Im Gegensatz zu Raul Hilbergs zentralen Kategorien der „perpetrator“, „victim“ und „bystander“, die Hembera als zu essentialistisch und statisch kritisierte, hob sie die Bedeutung einer dichten Beschreibung in der Tradition von Clifford Geertz hervor, um den vielschichtigen Sozialdynamiken des Holocaust auf der Mikroebene in der historischen Darstellung gerecht zu werden. Nur so sei laut Hembera die Notwendigkeit der Positionierung in Besatzungsgesellschaften zu zeigen, aber auch das Leben in Grauzonen.

DIETER POHL (Klagenfurt) begann seinen abschließenden Kommentar mit der Betonung einer nur begrenzten Kontinuität zur Vorkriegszeit in den Besatzungsgesellschaften des Zweiten Weltkriegs. Er äußerte Zweifel an dem zum Beispiel jüngst von Omer Bartov wieder hervorgehobenen Ansatz der längeren kulturellen Vorgeschichte des Holocaust und begann seine Überlegungen in den 1930er-Jahren. Die Verarbeitung der Krisen der Zwischenkriegszeit habe die Radikalisierung im Krieg maßgeblich strukturiert wobei die Sowjetunion einen Sonderfall darstelle. Die Besatzungserfahrung beschrieb Pohl als einen entscheidenden Bruch, der eine neue Dynamik der Delegierung von Aufgaben und neue lokale Verwaltungseliten schuf. Gegen Timothy Snyders Paradigma der Gewaltzonen sieht Pohl sich zum großen Teil selbstkontrollierende Besatzungsgesellschaft entstehen, die von einer Herrschaft des Verdachts dominiert wurde. Dabei betonte er, dass die Besatzungsrealität im Gegensatz zu Deportationsregionen in jenen Gebieten grundlegend anders gewesen sei, in denen der Holocaust in situ stattgefunden hat. Pohl nutzte das Beispiel französischer Landgesellschaften, um das von Doris L. Bergen benannte Phänomen des „no option of non-involvement“ der Angehörigen mancher Besatzungsgesellschaften in Frage zu stellen. Abschließend plädierte Pohl dafür, dass Mikrogeschichte allein nicht ausreiche, um wichtige grundlegende Faktoren und strukturelle Elemente in der Entwicklung von Besatzungsgesellschaften herauszuarbeiten. Er schloss mit dem Hinweis, dass der Täter/Opferbegriff – als Aktionsbegriff verstanden – durchaus analytisch ergiebig sei und weitere Vergleiche mit der Forschung zu kolonialer Gewalt für die Forschung von Nutzen sein könnten.

Die abschließende Diskussion griff die schon von Pohl aufgestellte Forderung nach notwendigen breiteren Strukturfaktoren für die Forschung jenseits von Mikrogeschichten wieder auf. Dagegen wandten einige Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer ein, dass sich nur durch weitere Mikrostudien und deren vergleichender Auswertung eben jene strukturellen Faktoren in transnationaler Perspektive verallgemeinern ließen. Der „außeralltägliche Alltag“ und die Rolle der Deutschen sollten dabei jedoch nicht aus dem Blick geraten. Sagbarkeitsregeln änderten sich, Denunziationen wurden zum Teil des Alltags. Die materielle Dimension des Besatzungsalltags wurde in der Diskussion immer wieder betont, was Chancen auf eine Erforschung von Eigentum und Eigentumswechsel als Teil einer Gesellschaftsgeschichte der Besatzung eröffne. Die lebhafte und teils kontrovers geführte Diskussion verdeutlichte zum Ende eines anregenden Panels nochmals das Potenzial transnationaler Perspektiven auf Gewaltdynamiken der Besatzungsherrschaft.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Gaëlle Fisher (München), Caroline Mezger (München)

Tatjana Tönsmeyer (Wuppertal): Fremdherrschaft – Besatzung – Besatzungsgesellschaften. Konzeptionelle Überlegungen zu einer Neukonfiguration sozialer Beziehungen

Alexander Korb (Leicester): Deutsche und südosteuropäische Vorstellungen einer „Neuen Ordnung“

Melanie Hembera (Tübingen): Transformation des Sozialen. NS-Okkupation und lokale Bevölkerung in Tarnów

Dieter Pohl (Klagenfurt): Kommentar


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